Wenn ein Mensch verschwindet, kämpfen die Angehörigen oft mit quälenden Fragen, purer Verzweiflung und klammern sich an jeden Hoffnungsschimmer. So wie im Fall von Melanies Mutter, die neun Jahre vermisst wurde.
Im Jahr 2014, kurz vor der Weihnachtszeit, hat Melanie (Name von der Red. geändert) keine Ahnung, dass sich in wenigen Tagen ihr Leben für immer verändern wird. Das Verhältnis zu ihrem Vater ist nicht so gut, deshalb ist ein Besuch an den Feiertagen bei den Eltern nicht geplant. Aber Melanie telefoniert am 24. Dezember mit ihrer Mutter, zu der sie eine enge Bindung hat. Abends fahren ihre Eltern zur Schwester des Vaters, um dort Weihnachten zu feiern. Der Mutter geht es zu der Zeit nicht so gut, sie leidet unter einer Demenz, die seit einigen Jahren langsam aber stetig fortschreitet. Melanie macht sich zu der Zeit deshalb viele Gedanken um ihre Mutter. Trotzdem verhält sich ihre Mutter an dem Weihnachtsabend ganz normal, alles scheint wie immer. Zwei Tage später ruft eine Arbeitskollegin bei Melanie an und erzählt ihr, dass ihre Mutter verschwunden ist. Sie hätte es bei Facebook gelesen. Melanie ist geschockt. „Mein Freund hat dann bei meinem Vater angerufen, aber er wollte uns keine Auskunft geben“, erinnert sich Melanie. „Wir sind dann zur Polizei gefahren und haben nachgefragt. Die fragten, wer ich denn bin und meinten, mein Vater hätte keine Tochter angegeben. Das hat mich verletzt.“ Sie erfährt, dass ihr Vater nachts wach geworden und seine Frau nicht mehr da gewesen sei. Das Auto sei weg, aber ansonsten habe Melanies Mutter alles zurückgelassen, Handy, Geldbeutel, alles sei noch da. Dann wird Melanie direkt an Ort und Stelle von Polizeibeamten verhört, zwei Stunden lang muss sie alles erzählen, ihre Lebensgeschichte, alles, was sie über ihre Mutter weiß. „Es war stressig. Ich hatte gerade erfahren, dass meine Mama verschwunden war und hatte Tausend Dinge im Kopf. Ich wollte sofort los, irgendwas machen, meine Mama finden.“ Auch andere Leute aus dem Umfeld der Mutter werden verhört, die Polizei möchte herausfinden, ob die Frau aus eigenem Antrieb weggelaufen ist oder ob ein Verbrechen vorliegt. Die Verhöre liefern keine Erkenntnisse.
Zwei Stunden wurde sie verhört
In Melanies Kopf überschlagen sich die Gedanken. „Sie war immer eine selbstständige Frau gewesen, lebensfroh, voller Energie, nahm immer alles gern in die Hand. Aber durch die Demenz wusste sie manchmal die einfachsten Dinge nicht mehr. Dass sie sich ins Auto setzt, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen, erschien mir unwahrscheinlich.“ Nicht nur die Demenz machte ihrer Mutter zu schaffen, Jahre vorher hatte sie noch eine Krebserkrankung und zwei Schlaganfälle zu verkraften. „Das hatte sie alles überwunden. Dann kam die Demenz. Aber sie hat sich nie unterkriegen lassen, nach außen war sie immer fröhlich. Aber es war oft aufgesetzt, das merkte man, wenn man sie kannte.“
Die Fahndung nach Melanies Mutter wird europaweit ausgeschrieben. „Es prasselte so viel auf mich ein und ich wusste nicht, wo ich anfangen soll“, erzählt Melanie. Zusammen mit Freunden stellt sie Flyer her und verteilt sie. Sie fährt rum, sucht Plätze ab, an denen die Mutter gerne war, geht Spazierwege ab, auf denen die Mutter fast täglich mit ihren beiden Hunden unterwegs war. Doch weder sie noch die Polizei finden die geringste Spur der damals 59-Jährigen. Dann kommt ein Hinweis von einer Arbeitskollegin von Melanies Onkel, die die Mutter an einem Bahnhof gesehen haben will. Hoffnung flackert auf, die Polizei will das Videomaterial der Überwachungskamera des Bahnhofs sichten. Doch es sind dann schon 72 Stunden vergangen, und nach dieser Zeit werden Aufnahmen automatisch gelöscht. Auch eine Frau mit einem in Personensuche ausgebildeten Hund bietet ihre Hilfe an, der Hund findet tatsächlich eine Spur, die am Bahnhof endet. „Meine Mama hatte Bekannte weiter weg, vielleicht wollte sie dort hin.“ Doch bei denen kam sie nie an.
ZDF-Sendung stellte den Fall vor
Melanie bleibt trotzdem ruhig und irgendwie zuversichtlich. Bis zu einer bestimmten Nacht. „Ich bin wach geworden und hatte plötzlich so eine komische Kälte gespürt. Und ich musste weinen, bis dahin hatte ich nicht weinen müssen. Da ahnte ich, dass sie tot ist.“
Melanie macht aber trotzdem weiter, sie wendet sich an die Sendung „Aktenzeichen XY ... Ungelöst“, doch die zuständigen Redakteure verweisen darauf, dass Privatpersonen keinen Fall einreichen können. Das muss die Polizei machen. Es dauert dann noch rund 1,5 Jahre, bis das Verschwinden von Melanies Mutter in der Sendung vorgestellt wird. Einige Leute melden sich, doch kein einziger Hinweis erweist sich als hilfreich.
Melanie findet keine Ruhe. Wenn sie in den Nachrichten hört, dass irgendwo in Deutschland eine Leiche gefunden wurde, ist sie alarmiert. Sie fragt bei den zuständigen Behörden nach, ohne Erfolg. „Manchmal fragte ich mich, ob ich vielleicht froh wäre, wenn sie tot gefunden würde. Oder ob es besser wäre, ich könnte noch hoffen.“
Immer und immer wieder versucht Melanie, sich das Verschwinden der Mutter zu erklären. „Sie war eine Helikopter-Mama, sie war immer darauf bedacht, dass es mir gut geht. Es war außergewöhnlich, dass sie nicht irgendeine Nachricht hinterlassen hat.“
Jahre gehen ins Land, von Melanies Mutter keine Spur. „Es hat sich bei mir nie beruhigt. Ich habe immer wieder gesucht. Automatisch. Wenn ich ein Auto gesehen habe, das wie das Auto meiner Mutter aussah, habe ich hingeschaut. Wenn ich spazieren war und habe zum Beispiel Müllsäcke gesehen, habe ich mir einen Stock genommen und darin rumgestochert, in der Hoffnung, irgendetwas von meiner Mutter zu finden. Egal, wo ich war, ich habe immer rechts und links geschaut.“
Etwa zwei Jahre nach dem Verschwinden der Mutter wird Melanie krank. Zunächst rebelliert die Psyche. Melanie kann irgendwann nicht mehr unter Menschen, sie hält es auf Veranstaltungen nicht mehr aus, schafft es nicht mehr in den Supermarkt. Auch starke Verlustängste plagen sie, bis heute. Dann kommen körperliche Probleme dazu. Sie erkrankt an Fibromyalgie, kann nicht mehr arbeiten gehen. Melanie wird arbeitsunfähig, bezieht Erwerbsminderungsrente, muss mit finanziellen Problemen kämpfen. Aktuell ist die Fibromyalgie wieder schlimmer geworden. Zum Glück ist ihr Partner an ihrer Seite, hat Verständnis für sie und unterstützt sie. Ruhe und „meine Therapie“, wie sie sagt, findet sie bei ihren Tieren, das Paar hat einen Hund und ein Pferd. „Diese Hilflosigkeit mit meiner Mama“ ist für Melanie kaum auszuhalten. Belastend ist für sie auch das nach wie vor schlechte Verhältnis zum Vater. „Er gab mir irgendwann die Schuld an dem Verschwinden meiner Mama. Weil ich mir damals einige Zeit vorher Gedanken um ihre weitere Versorgung gemacht habe. Er meinte, das hätte sie belastet.“ Melanie schüttelt den Kopf.
Für einen Moment ist sie still, als sie an den Tag denkt, der nach langen neun Jahren den Wendepunkt bringt. Es ist Faschingssamstag 2023. Melanie geht es nicht gut, sie war an Unterleibskrebs erkrankt und operiert worden und gerade erst wieder aus dem Krankenhaus zurück. „Wir lagen schon im Bett, als es an unserer Tür geklingelt hat.“ Bis Melanie aufgestanden ist, sind die Besucher wieder weg. Doch die Videoüberwachung zeigt, dass die Polizeibeamtin geklingelt hatte, die den Fall von Melanies Mutter bearbeitete. Melanie ist hellwach. Sie ruft bei der Polizei an, kann die Beamtin aber nicht erreichen. „In der Nacht hab’ ich kein Auge mehr zugetan.“ Am nächsten Tag kommt die Polizistin noch mal vorbei. „Mama war gefunden worden. In ihrem Auto, das auf dem Grund eines Sees war. Sie war offenbar mit dem Auto dort reingefahren. Für mich ein Riesenschock. Aber ich hatte es geahnt.“ Melanie fühlt erst mal nichts. „Ich hatte ja jahrelang Zeit, mich damit auseinanderzusetzen. Ich war vorbereitet. Und ich dachte vorher schon, dass sie nicht mehr lebt.“
Auch heute spaziert sie an dem See vorbei
Die polizeilichen Untersuchungen ergeben, dass kein Verbrechen vorliegt. Melanies Mutter war ganz offensichtlich mit ihrem Auto in den See gefahren, um sich das Leben zu nehmen. Durch die dunkle Farbe des Wagens und das trübe Wasser, wurde das Fahrzeug nie entdeckt. Ein Angler war zufällig darauf gestoßen, als er mit einer Unterwasserkamera nach Fischschwärmen Ausschau hielt.
Die Vorstellung, wie ihre Mutter sich das Leben genommen hat, treibt Melanie um. „Diese Art und Weise, das verstehe ich heute noch nicht. Das wird man wohl nie verstehen können. Sie muss sehr verzweifelt gewesen sein.“ Den See, in dem das Auto gefunden wurde, kennt Melanie sehr gut. Dort läuft der Spazierweg entlang, den ihre Mutter immer gerne gegangen ist und auf dem auch Melanie regelmäßig mit ihrem Hund unterwegs ist. „Ich bin so oft an dem See rumgelaufen, habe oft draufgeschaut, aber nie etwas gesehen. Das Auto muss nicht weit unter der Wasseroberfläche gewesen sein.“ Für Melanie im Nachhinein ein schrecklicher Gedanke und auch unbegreiflich, dass in all den Jahren nie jemand etwas entdeckt hat.
Melanies Mutter lag über Jahre in dem Auto unter Wasser, doch wie lange genau, kann die Rechtsmedizin nicht mehr eindeutig feststellen. Melanie will die Leiche ihrer Mutter nicht mehr sehen. Heute ist sie unsicher, ob das richtig für sie war. „Ich fragte dann aber noch nach, wie sie ausgesehen hat. Sie war wohl außergewöhnlich gut erhalten, weil sie im Auto wie in einem Vakuum gelegen hatte.“
Wirklich abschließen kann Melanie immer noch nicht. „Dass sie bei vollem Bewusstsein in den See gefahren ist, das ist für mich immer noch schlimm. Mit dem Auto ins Wasser und dann hat sie vielleicht gedacht, oh Gott, was hab ich gemacht. Aber dann kam sie nicht mehr raus. Zu merken, du hast keine Chance mehr. Das war’s. So einen Schritt zu gehen, das ist für mich unbegreiflich. Sie wollte sicher nicht mehr zur Last fallen. So einen Tod finde ich ganz schrecklich.“
Melanie spaziert auch heute noch öfter an dem See vorbei. Er ist für die heute 50-Jährige zu einem besonderen Ort geworden. „Dort kann ich eher an meine Mutter denken als auf dem Friedhof.“