Annett Louisan wurde mit hauchfeiner Flüsterstimme zu einem Star. Sie feiert das 20-jährige Jubiläum ihres Debüts „Bohème“ mit einer großen Tournee und macht in Neunkirchen Station.
Frau Louisan, Ihr erster Hit „Das Spiel“ handelt von der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen. Stimmt es, dass Ihnen das Zusammenspiel von Emanzipation und femininem Auftreten gerade von Frauen übel genommen wurde, die Ihnen moralische Briefe schrieben?
Ja. Das Lied hat sehr polarisiert. Man muss bedenken, es ist 20 Jahre her. Das Lied ist so, wie man Feminismus verstanden hat: Dass Frauen typische Männerrollen okkupieren. Einen unverbindlichen Text ohne Gefühle, in dem so frei und offen etwas gesagt wird, hat man einer Frau damals noch nicht zugesprochen. Wenn man Rollen durchbricht und einen anderen Weg geht, kriegt man immer Gegenwehr. Also Liebe und Hass. Die liegen ja sehr nah beieinander. Das Lied funktioniert heute immer noch, ich weiß aber nicht, ob es noch ein Hit werden würde, weil die Musikbranche und die Radiolandschaft sich verändert haben. Deutschsprachige Musik war damals auf dem Vormarsch, heute geht sie leider wieder ein wenig zurück durch das Streaming, bei dem man auf Englisch zurückgreift, weil dann der Markt größer ist.
Die Rechtsrockband „Kommando Freisler“ hat einst die Melodie von „Das Spiel“ übernommen und versah sie mit einem Hasstext über einen Hundeangriff. Was dachten Sie, als Sie das zum ersten Mal hörten?
Um Gottes Willen! Ich erinnere mich ganz dunkel daran. Das ist sehr schnell wieder aus meinem Kopf verschwunden– mentale Hygiene. Es gab damals wohl auch eine Seite im Netz, auf der das Lied unter einen gewalttätigen Porno-Comic gelegt wurde. Ekelhaft! Diese Webseite hat ein Urheberrechtsanwalt von Sony zwar schließen lassen, aber ich bekam noch jahrelang Hass-Emails von einer bestimmten Community. Leider ist das Thema Rechtsdruck heute wieder sehr aktuell. Es belastet mich persönlich enorm. Ich versuche immer, lösungsorientiert zu bleiben, aber ich habe das Gefühl, dass gerade ein Umbruch passiert.
Ist Ihr Lied „Die fabelhafte Welt der Amnesie“ von 2023 ein Kommentar zu dieser Entwicklung?
Ja, das kann man so sehen. Ich habe aber auch versucht, mich und meine Umwelt zu lesen. Mir persönlich ging es mein Leben lang gut, obwohl ich in einer Diktatur groß geworden bin. Ich gehöre nicht zu denen, die die DDR verklären. Es macht mir Sorgen, dass Leute so schnell vergessen und sagen, damals hätten sich alle noch umeinander gekümmert. Schön war es, weil sie es sich in der DDR schön gemacht haben, aber niemand durfte dort etwas sagen. Meine Mutter und ich unterhalten uns viel über diese Zeit und wie furchtbar es auch für Frauen war. Sie als alleinstehende Mutter in der DDR musste sehr schnell wieder anfangen zu arbeiten. Hätte sie das nicht getan, hätte sie richtige Probleme bekommen.
Welcher Art?
Sie wäre dann als asozial und faul abgestempelt worden. Es heißt immer, die Krippen- und Kita-Situation in der DDR sei so viel besser gewesen. Moment Mal, da herrschten zum Teil strenge Zustände, die noch von den Nazis übernommen wurden. Es ist einfach wichtig, sich zu erinnern und miteinander zu reden. Wenn ich Leute mit einer anderen politischen Auffassung treffe, versuche ich, nicht gleich auf Konfrontation zu gehen, sondern zu verstehen, woher das kommt. Das sind ja auch Menschen, die ihre Probleme haben. Hochmut spaltet. Das ist noch abträglicher. Aber es ist manchmal nicht so einfach.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie in die Zukunft?
Mir hat es schon ein paar Probleme eingebrockt, dass ich in meinem Leben immer von mir selbst auf andere geschlossen habe. Aber es gibt Dinge, zu denen man selbst nicht in der Lage wäre und die trotzdem passieren. Ich merke, wenn ich zu negativ werde und zu viel Angst bekomme, erstarre ich. Das tut mir nicht gut. Ich muss immer schauen, wann ich Rückzug brauche, um mich um mich und meine Tochter zu kümmern und hoffnungsvoll zu bleiben. Damit ich nicht nur in meiner eigenen linken Blase verharre, hole ich mir immer Informationen von mehreren Seiten. So versuche ich auch, den Paul-Ronzheimer-Podcast der Bild-Zeitung, den ich sehr gut finde, zu hören.
Das Album „Bohème“ ist vor 20 Jahren erschienen und hat sich eine halbe Million Mal verkauft. Damit ist es eines der schnellstverkauften Debüts der deutschen Musikindustrie. Wie wurde die Platte zu einem Selbstläufer?
Ich kann voller Stolz sagen, dass „Das Spiel“ ein Lied ist, das wahre Popularität besitzt. Und dieses Album eben auch. Ich weiß noch, wie Werner Reinke es in seiner WDR3-Sendung unkommentiert gespielt hat, danach sind bei ihm hunderte Mails angekommen. Eine Woche nach Veröffentlichung war „Das Spiel“ in den Top Ten. Ich habe mir meine eigene kleine Nische geschaffen.
Welche Erwartungen wurden seitens der Musikindustrie an Sie als junge Künstlerin gestellt?
Ich hatte mich sehr schnell daran gewöhnt, dass ich als Musikerin zuverlässig und fleißig arbeiten musste. Mein Leben war 14, 15 Jahre lang meine Karriere. Ich habe das gern gemacht. Anfangs habe ich mal einen Zug verpasst, weil ich im Stau stand. Ich war deswegen in heller Aufregung und bin seitdem nie wieder zu spät gekommen. Als junger Mensch lernt man, dass Zuverlässigkeit und Integrität wichtig sind. Ich war damals auf einem kleinen Label von zwei älteren Herren, die vorher bei großen Plattenfirmen gearbeitet haben. Sie meinten, es sei wichtig, dass ich mir mein Publikum live erspiele. Diesen Rat habe ich angenommen und immer versucht, Musik zu machen, die auf die Bühne gehört. Da oben habe ich alles gelernt, über mich, übers Leben, über andere Menschen. Auf der Bühne bin ich nicht ersetzbar, das hat mir die Freiheit gegeben, tun und lassen zu können, was ich will.
Es heißt, Erfolg ruiniere das Privatleben. Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?
Also, der Erfolg hatte schon starken Einfluss auf mein Privatleben. Nicht jeder Partner beziehungsweise Freund kommt damit klar, dass man viel unterwegs ist. Ich kann keine Freundschaften führen, die etwas mit täglichen Anrufen und örtlicher Nähe zu tun haben. Ich brauche auch einen Partner, der mir viel Freiheit lässt. Ich bin mit meinem Mann 14 Jahre zusammen. Er ist auch Musiker, aber die Beziehungen davor haben dann und wann Probleme bekommen durch Annett Louisan. Entweder war mein Erfolg zu schwierig für den Mann oder die Lebensentwürfe waren einfach zu verschieden.
Glauben Sie, dass sich jenseits der Emanzipation wirklich etwas grundlegend an der Beziehung der Geschlechter geändert hat?
Da fragen Sie mich jetzt was! Ich glaube schon, dass Emanzipation, Feminismus und Patriarchat in eine Beziehung mit hineinspielen. Diese Rollen und Aufgaben sind nicht unwichtig. Je mehr wir sie aufweichen und miteinander reden, desto mehr kann das Individuum hervorkommen, und man wird so gesehen, wie man vielleicht wirklich ist. Ich muss mich manchmal immer noch freimachen von den Mann-Frau-Klischees, die ich aus meiner Kindheit kenne. Ich hoffe, dass ich bis zu meinem Lebensende bereit bin, mich wirklich zu verändern.
Möchten Sie noch einmal 27 sein?
Nein. Bis Anfang 40 war das Älterwerden für mich schlimmer, aber ich bin spät Mutter geworden. Da bleibt einem nicht viel Zeit zum Reflektieren. Ich möchte heute keine Zeit mehr verschwenden mit Jammern vor dem Spiegel.
Wie viel von Ihrer Live-Show ist eigentlich geplant, wie viel entsteht spontan?
Da hat sich auch eine Menge verändert, weil ich immer mehr ich sein kann, wenn ich da oben bin. Lampenfieber habe ich immer noch, aber ich kann es umwandeln. Ich sage heute wirklich, wie es mir geht. In München habe ich zum Beispiel an einem heißen Tag gespielt und mir ging es nicht so gut. Ich hatte Schwindelgefühle. Das habe ich auch gesagt und fühlte mich gleich besser. Dann wurde es ein ganz besonderes Konzert. Warum so viel Anstrengung, um Sachen zu verstecken und eine Version von mir zu sein. Mir ist klar geworden, die Bühne ist ein Teil meines Lebens. In manchen Jahren habe ich 150 Konzerte gegeben, ich habe wirklich an der Front gearbeitet. Ich habe heute viel mehr Spaß, weil ich mich nicht mehr verstellen muss.
Die letzten Jahre haben die Welt in ein Chaos aus Krieg, Autokraten und Ökokollaps verwandelt. Wie wirkt sich diese Realität auf Ihr Schreiben aus?
Also, diese Dunkelheit, diese Gefühle und Farben nehmen ja Einfluss. Wenn es aber zu viel Negatives wird, gefällt es mir selbst nicht mehr. Ich versuche immer, das umzusetzen, was mir gut tut. Nicht zu banal und einfältig, aber ich bin Yin und Yang, ich brauche auch diese heile Welt, das schöne Gefühl, die Harmonie. Meine Platten sollen immer ganzheitlich werden.