Der ehemalige Nationalspieler durchläuft beim FC Bayern München die schwierigste Phase seiner Karriere. Denn der einstige Vorzeigeprofi kämpft sogar um einen Kaderplatz.
Eine Sache ist sicher: Leon Goretzka ist definitiv das Glück abhandengekommen. Wo genau, weiß am Ende wahrscheinlich nicht mal er selbst – klar ist: die Karriere des gebürtigen Bochumers ist derart von ihrem ursprünglichen Weg abgedriftet, wie es selten passiert ist. Denn von außen betrachtet, ist es nicht ersichtlich, welchen großen Fehler Goretzka in seiner Karriere begangen hat, der ihn sowohl seinen Platz beim FC Bayern als auch in der Nationalmannschaft gekostet hat.
Bayern hätte ihn gern abgegeben
Goretzka wurde in der öffentlichen Wahrnehmung als mitdenkender Fußballer wahrgenommen, der zudem auf dem Platz die ein oder andere Weltklasseleistung im Repertoire hatte. Ehrgeizig und ohne Fehler durchlief er den Weg des Bochumer Jungen, über den FC Schalke 04 landete er beim FC Bayern München. Champions-League-Sieger und Nationalspieler – doch dann heuerte Thomas Tuchel beim Rekordmeister an. Im vergangenen Sommer kursierten Gerüchte, dass das Verhältnis zwischen dem Mittelfeldspieler und Trainer Thomas Tuchel nicht besonders gut sei. Medien spekulierten, es wäre für den 57-fachen Nationalspieler ratsam, sich nach einem neuen Verein umzusehen. Tuchel forderte immer wieder Verstärkung in der Zentrale, obwohl er doch Goretzka und Kimmich hatte. Doch Goretzka, der seine Karriere seit Jahren in enger Abstimmung mit einem Berater plant, ließ sich von diesen Unruhen nicht aus der Fassung bringen. Er blieb beim F C Baye rn, absolvierte wie gewohnt sein Programm und trug schließlich dazu bei, dass er trotz einer alles andere als einfachen Saison 2023/24 auf 30 Bundesliga-Einsätze, sechs Tore und neun Vorlagen kam.
Leon Goretzka ist bekannt für sein starkes Selbstbewusstsein, seine Hartnäckigkeit und seine langjährige Erfahrung – Eigenschaften, auf die auch der FC Bayern während der kräftezehrenden Saison nicht verzichten konnte. Doch im vergangenen Herbst musste der Mittelfeldspieler einen herben Rückschlag hinnehmen: Unter dem neuen Bundestrainer Julian Nagelsmann verlor er seinen Stammplatz in der Nationalmannschaft. Seine letzten Einsätze im DFB-Trikot absolvierte Goretzka bei den enttäuschenden November-Spielen gegen die Türkei und Österreich. Danach spielte er in den Planungen des DFB offenbar kaum noch eine Rolle. Für die Heim-EM 2024 wurde Goretzka von Nagelsmann nicht nominiert. Zwischen den Zeilen deutete der Bundestrainer an, dass weniger die sportliche Leistung ausschlaggebend für diese Entscheidung war, sondern vielmehr Zweifel an Goretzkas Integrationsfähigkeit im Team.
Auch die Sommerpause konnte den angeschlagenen Ruf von Leon Goretzka beim FC Bayern nicht verbessern. Im Mittelfeld, insbesondere auf Goretzkas Position, hat der Verein nachgelegt. Joshua Kimmich hat nach einer schwächeren Phase zu alter Form zurückgefunden und spielt nun auch wieder in der Zentrale. Seine Ernennung zum Nationalmannschaftskapitän hat ihm zusätzlichen Auftrieb gegeben. Zudem haben die Münchner mit Jungstar Alexsandar Pavlovic einen weiteren Nationalspieler in ihren Reihen, und der Neuzugang João Palhinha fühlt sich ausgerechnet dort am wohlsten, wo Goretzka in den letzten sechs Jahren oft seine Stärken gezeigt hat. Sogar Konrad Laimer hat einen Vorsprung vor Goretzka.
An einen Wechsel scheint Goretzka dennoch nicht zu denken. Vielmehr fährt er die gleiche Strategie wie im vergangenen Jahr. Den Trainer, in diesem Fall nicht mehr Tuchel, sondern Vincent Kompany, mal wieder von den eigenen Qualitäten überzeugen. Ob es mit seiner Erfahrung zu tun hat, die er sich in seiner langen Karriere angeeignet hat? Zu wissen, dass es im schnelllebigen Geschäft Profifußball immer mal ganz schnell gehen kann? Gerade bei Vereinen, die in vielen verschiedenen Wettbewerben gefragt sind, kann sich das Personalkarussell schnell drehen. Goretzka setzt damit alles auf eine Karte – quasi Bayern oder nichts. Denn trotz intensiver Gespräche mit Sportvorstand Max Eberl über seine begrenzten Einsatzmöglichkeiten kam für Leon Goretzka ein Vereinswechsel nicht infrage. Sein Vertrag beim FC Bayern läuft bis Sommer 2026, und das hohe Gehalt macht es für andere Clubs schwierig, ihm unter vergleichbaren Bedingungen eine attraktive sportliche Perspektive zu bieten – er verdient kolportierte 18 Millionen Euro im Jahr. Es ist zwar ein gut bezahlter – aber in jedem Fall ein Imageschaden.
Nachdem Leon Goretzka in den ersten beiden Ligaspielen der neuen Saison lediglich im Schlussabschnitt des 2:0-Siegs gegen den SC Freiburg für knapp 60 Sekunden zum Einsatz kam, erlebte er eine Woche später erneut einen herben Dämpfer. Trainer Kompany strich ihn für das Auswärtsspiel der Bayern bei Holstein Kiel aus dem Kader. Goretzka musste somit ohne Aussicht auf weitere Spielminuten mitansehen, wie seine Teamkollegen die Partie zu einem furiosen 6:1-Sieg gegen den Aufsteiger gestalteten. Der 51-Millionen-Euro-Transfer João Palhinha feierte sein Startelfdebüt für die Bayern, während Joshua Kimmich als entscheidender Spielmacher maßgeblich zum beeindruckenden Kantersieg des Rekordmeisters beitrug. Alexsandar Pavlovic, der in der vergangenen Woche durch seine vielversprechenden Leistungen im Nationalteam auf sich aufmerksam gemacht hatte, erhielt eine Pause und verbrachte den frühen Abend entspannt auf der Bank. Und Goretzka? Der saß auf der Tribüne – und gebraucht haben ihn die Bayern nicht.
Goretzka will kämpfen
Angesprochen auf seine Entscheidung Goretzka nicht in den Kader zu nehmen, entgegnete Kompany nur trocken: „Wenn es nicht Leon ist, ist es jemand anderes“, so der Belgier. „Ich habe 21 Spieler. Jetzt geht’s um die 20 hier.“ Nur um dann eine weitere Floskel nachzuschieben: „Irgendwann werden wir alle brauchen, auf jeden Fall.“ Sogar auf der Pressekonferenz legte der Trainer des FC Bayern noch mal nach, nur um wirklich jedem Journalisten klarzumachen: Er gehört dazu. Sportchef Eberl legte ebenfalls vor dem Sky-Mikrofon noch einmal ausführlich dar, wie exakt er dem Problemspieler Chancen und Risiken seiner Situation beim FC Bayern verdeutlicht habe: „Wir haben von Anfang an klar kommuniziert, dass wir einen sehr ausgewogenen Kader haben werden“, so der 50-jährige Manager und fügte hinzu, „dass wir mit Aleks Pavlović einen Spieler haben, der jetzt Nationalspieler geworden ist, mit João Palhinha einen Transfer machen werden. Das wusste Leon vorher. Und dass wir mit Josh wieder im Mittelfeld planen.“
Das wusste eigentlich ganz Deutschland. Dass der FC Bayern Platz auf der Gehaltsliste schaffen wollte, wurde offen kommuniziert, dass Leon Goretzka weit oben stand, ist ein offenes Geheimnis. Die Konsequenzen müssen sie jetzt nun alle tragen. „Dann ist es eben so, dass die Konkurrenzsituation bei Bayern München hoch ist. Aber wenn sich Leon der Herausforderung stellen will, dann wird er behandelt wie jeder andere Spieler auch“, beschreibt Eberl die Situation.
Leon Goretzka ist ein meinungsstarker Profi, irgendwann wird der Tag kommen, an dem er vielleicht seine Sicht auf die Dinge darstellen wird. Oft ist es jedenfalls noch nicht vorgekommen, dass ein Spieler ohne schwere Verletzung oder handfeste Skandale einen derartigen Abstieg hingelegt hat. Am Ende wäre es durchaus interessant zu wissen, wo Leon Goretzka sein Glück verlassen hat – und ob er selbst weiß, wo. Eins ist jedoch glasklar: Abgeschrieben hat Leon Goretzka sich selbst noch nicht.