Es gibt sie noch, die kleinen Völker, die ganz traditionell und ganz bewusst fernab moderner Zivilisation leben. Ihr größter Feind? Jene, die aus Neugier in ihren Lebensraum vordringen wollen.
Die wenigen indigenen Stämme, die es noch gibt, wünschen gar keinen Kontakt zu Menschen und Wissenschaftlern aus unserer Welt. Sie fürchten alle Eindringlinge. Zu Recht. Denn alle, die von außerhalb kommen, bringen in der Regel nichts Gutes mit sich. Dementsprechend wehren sie sich mit allen Mitteln, ohne Rücksicht auf Verluste.

Kaum Kontakt: Die isolierten Völker der Regenwälder
Im Juli veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Survival International Bilder, die weltweit Aufmerksamkeit erregten. Es waren die ersten Aufnahmen von Angehörigen des indigenen Volks der Mashco-Piro seit Jahren. Laut Survival International wurden etwa 50 Mitglieder dieser Gemeinschaft an einem Fluss in der Nähe des Dorfes Monte Salvado gesichtet, weitere 17 im benachbarten Dorf Puerto Nuevo.
Die Mashco-Piro gelten laut Schätzungen von Survival International als das größte unkontaktierte Volk der Welt und sind eines von wahrscheinlich mehr als 150 Völkern, die den Kontakt zur Außenwelt bewusst meiden. Viele dieser Gruppen leben in den Regenwäldern des Amazonasgebiets in Südamerika, insbesondere in Brasilien, Peru, Kolumbien und Ecuador, aber auch in Teilen Neuguineas sowie auf den Andamanen- und Nikobareninseln im Indischen Ozean. Über sie ist oft nur wenig bekannt. Viele dieser Gesellschaften leben jedoch wahrscheinlich seit Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden weitgehend traditionell als Selbstversorger. So ernähren sich einige Angehörige der Hongana Manyawa auf der indonesischen Insel Halmahera durch Jagen und Sammeln. Ihre Lebensweise ist durch eine tiefe spirituelle Verbundenheit mit dem Regenwald geprägt: Sie bauen ihre Häuser aus Stöcken und Blättern, ohne dafür Bäume zu fällen.
Die Shompen führen ebenfalls ein semi-nomadisches Leben auf der indischen Insel Groß Nikobar und besitzen ein umfangreiches Wissen über die Natur. Aus einer bestimmten Baumart fertigen sie unter anderem Mückenschutzmittel an.
Notwendiger Schutz

„Unkontaktiert“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass sich diese Völker vollständig von der Außenwelt isolieren. So stehen die Mashco-Piro zum Beispiel gelegentlich in Kontakt mit dem benachbarten indigenen Volk der Yine. Beide Gemeinschaften haben gemeinsame Vorfahren und sprechen daher eine ähnliche Sprache. Die Yine nennen die Mashco-Piro „Nomole“, was übersetzt „Brüder“ bedeutet.
Survival International betont mit dem Begriff „unkontaktiert“, dass sich diese indigenen Gemeinschaften von anderen indigenen Völkern unterscheiden. Aufgrund der langen Isolation verfügen sie in der Regel über keine Immunabwehr gegen eingeschleppte Krankheiten wie die Grippe. „Häufig stirbt mehr als die Hälfte eines unkontaktierten Volkes infolge von Kontakt“, erklärt Niklas Ennen von der Organisation. Internationale Abkommen wie die Amerikanische Erklärung zu den Rechten indigener Völker („American Declaration on the Rights of Indigenous Peoples“) sowie verschiedene nationale Gesetze zielen darauf ab, diese Menschen vor erzwungenem Kontakt zu schützen – ebenso wie eigens für sie eingerichtete Schutzgebiete. In diesen Gebieten sind wirtschaftliche Aktivitäten wie Bergbau, Holzeinschlag oder Landwirtschaft entweder verboten oder strengen Kontrollen unterworfen. Auch Nichtregierungsorganisationen wie Survival International, internationale Gruppen und einige Regierungen engagieren sich für den Schutz dieser indigenen Gemeinschaften.

Dennoch dringen immer wieder Menschen in die Gebiete der Indigenen ein. Aufmerksamkeit erregte 2018 der Fall des US-Amerikaners John Allen Chau, der versuchte, die auf North Sentinel Island lebenden Sentinelesen trotz eines Kontaktverbots der indischen Regierung christlich zu missionieren, woraufhin er von ihnen getötet wurde. Solche Vorfälle, bei denen unkontaktierte Völker sich gegen Eindringlinge verteidigen, kommen laut Niklas Ennen leider immer wieder vor. Die Menschen machen jedoch auch deutlich, dass sie keinen Kontakt wünschen: So zielen sie etwa mit Pfeil und Bogen auf niedrig fliegende Flugzeuge oder warnen durch Zeichen wie gekreuzte Speere im Wald vor dem Betreten ihres Gebiets. Wenn sich dennoch Außenstehende nähern, fliehen die Indigenen laut Ennen meistens.
Der Wunsch nach Isolation und dem Erhalt der eigenen Kultur wird ebenfalls durch die Amerikanische Erklärung zu den Rechten indigener Völker geschützt. Dieser Gedanke spiegelt sich auch in dem Begriff „indigene Gruppen in freiwilliger Isolation“ wider. Allerdings ist dieser, ähnlich wie „unkontaktiert“, nicht ganz präzise: Einige Gemeinschaften entschieden sich erst für diese Lebensweise, weil sie keine andere Möglichkeit sahen, ihr Überleben zu sichern.
Nicht endende Gewalt

Viele unkontaktierte indigene Gruppen haben in der Vergangenheit vermutlich verheerende Erfahrungen mit Außenstehenden gemacht. Im 19. Jahrhundert, als Kautschuk im Zuge der Kolonialisierung zu einem begehrten Rohstoff wurde, versklavten sogenannte Kautschukbarone und europäische Kolonialisten zahlreiche indigene Völker, darunter auch die Mashco-Piro. Unter oft unmenschlichen Bedingungen mussten sie Kautschuk sammeln; es kam zu Folter, Vergewaltigungen und Massenmord. Die überlebenden Mashco-Piro flüchteten daraufhin in abgelegene Waldgebiete.
Über Jahrzehnte hinweg lebten die Menschen in den Regenwäldern abgeschieden. Dennoch ließ sich der Kontakt zur Außenwelt nicht vermeiden. Seit einigen Jahren treten die Mashco-Piro zunehmend von selbst in Erscheinung. Laut Survival International berichteten die Yine, dass die Mashco-Piro bei diesen Begegnungen um Gegenstände wie Macheten, Kochtöpfe und Lebensmittel baten. Doch nicht alle Begegnungen verliefen friedlich: Einige Mitglieder der Mashco-Piro haben Dörfer überfallen und Nahrungsmittel geraubt. Anfang September wurde bekannt, dass bei einer Auseinandersetzung mit ihnen mindestens zwei Holzfäller ums Leben kamen.
„Es ist wirklich tragisch, dass es so weit gekommen ist“, sagt Ennen. Der Vorfall ereignete sich in einem Gebiet, das zum Territorium der Mashco-Piro gehöre, jedoch formell nicht unter Schutz gestellt sei. Stattdessen wurde ein großer Teil dieses Gebiets an Abholzungsunternehmen vergeben, auch Holzfäller ohne staatliche Lizenzen sind dort unterwegs. Die Indigenen-Organisation Fenamad kritisierte die peruanische Regierung dafür, dass sie sich nicht an nationales Recht gehalten und das gesamte Territorium der Mashco-Piro weder formell anerkannt noch geschützt habe.

Bereits im August war ein Holzfäller bei einer Begegnung mit den Mashco-Piro verletzt worden. Der frühere Präsident von Fenamad, Julio Cusurichi, erklärte gegenüber dem „Guardian“: „Ihr Land wird von illegalen Holzfällern und Drogenhändlern besetzt. Um ihr Leben zu retten, ziehen sie daher in andere Gebiete.“ Aus purer Not scheinen die Menschen den Regenwald immer häufiger zu verlassen. Laut der peruanischen Zeitung „El Comercio“ baten sie die Dorfbewohner am anderen Ufer des Flusses bei einer Begegnung um Bananen. Bei den Yine beschwerten sie sich über die Holzarbeiten. Nach Ansicht von Survival International steht ihr Überleben auf dem Spiel.
Auch andere unkontaktierte indigene Gruppen sind aktuell bedroht. In den Wäldern, in denen die Hongana Manyawa leben, sollen Rohstoffe für Batterien von Elektroautos abgebaut werden. Auf der Insel Groß Nikobar plant die indische Regierung im Zuge eines „Mega-Entwicklungsplans“ unter anderem den Bau eines großen Hafens und eines Flughafens, was zur Zerstörung von Wäldern führen würde – eine Entwicklung, die die isolierten Shompen wahrscheinlich nicht überleben würden.

Ennen zufolge geraten unkontaktierte indigene Völker durch die Zerstörung der Regenwälder und den Raub ihres Landes zunehmend unter Druck. „Dort, wo ihr Land etwa für Abholzung, Viehzucht oder Bergbau enteignet wird, gehören sie zu den am stärksten bedrohten Gesellschaften weltweit“, sagt er. Dennoch sieht er auch positive Entwicklungen: „Das Bewusstsein für unkontaktierte Völker wächst, und es wird immer schwieriger für Regierungen oder Unternehmen, ihre Existenz und ihre Rechte zu ignorieren.“ Teilweise würden Unternehmen und Lobbyisten die Existenz dieser Völker leugnen, um keine Verpflichtung zum Schutz ihres Landes zu haben und dort Ressourcen abbauen zu können. Mit der Veröffentlichung von Bildern der Mashco-Piro habe Survival International laut Ennen auf ihre Situation aufmerksam machen und die Abholzung stoppen wollen. Dort, wo ihr Land geschützt sei, könnten indigene Völker gut und gesund leben.
Auch die Vereinten Nationen rückten am internationalen Tag der indigenen Völker, dem 9. August 2024, erstmals die unkontaktierten indigenen Gemeinschaften in den Fokus.