Seit ihrer Zufallsentdeckung 1989 werden Nanobodies als Präzisionswaffe gegen Infektions- und Auto immunkrankheiten sowie Karzinome oder auch bei der Diagnose von Alzheimer gehandelt. Doch trotz intensiver Forschung gibt es bislang kaum Nanobodies-Medikamente.
![Die Schwerketten-Antikörper wurden nicht nur in Dromedaren, sondern auch in anderen Kameltieren nachgewiesen](/sites/default/files/inline-images/43_2024_Wissen__Forschung_Nanobodies_001.jpg)
Fast ist es schon in Vergessenheit geraten, aber in den späten 1980er-Jahren hielt die Furcht vor einer HIV-Infektion und der AidsKrankheit, über die zunächst wenig bekannt war, die Welt in Atem. Hysterie und Panik wurden damals weltweit nicht zuletzt durch die Medien geschürt, die Aids als „Schwulenpest“ titulierten. Obwohl in Windeseile Forschungen zur Herstellung eines Impfstoffes eingeleitet wurden, konnte bis heute noch kein wirksames Vakzin entwickelt werden. In dieser mit Angst aufgeladenen Atmosphäre sollten sich Biologie-Studenten einer Forschergruppe der Freien Universität Brüssel um Professor Raymond Hamers und seine Kollegin Cécile Casterman 1989 zur Identifikation und Isolierung von eventuell auch gegen die Seuche wirksamen Antikörpern mit der Untersuchung menschlichen Bluts beschäftigen. Dafür sollten sie praktischerweise auf den eigenen Lebenssaft oder den ihrer Kommilitonen zurückgreifen. Da aber damals noch ziemliche Unklarheit bezüglich der genauen HIV-Ansteckungswege bestanden hatte, verweigerten die Studenten die Arbeit mit der humanen Flüssigkeit.
Da im Labor-Gefrierschrank aber zufälligerweise Dromedar-Blut gelagert worden war, benutzten die angehenden Wissenschaftler diese Blut-Alternative für die von ihnen geforderten Analysen. Eine für Laien kaum verständliche Vorgehensweise, aber in der Forschung hatte man lange zuvor schon nachweisen können, dass Wirbeltiere ähnliche Standardtypen von Antikörpern (Immunglobulinen) besitzen. Daher war der Rückgriff der Studenten auf das Blut von Mitgliedern aus der Säugetiergruppe der Kamele gar nicht mal so verwunderlich. Tatsächlich konnten die Studenten denn auch die Standard-Antikörper ermitteln, die aus zwei langen (schweren) und zwei kurzen (leichten) Proteinketten bestehen und als Ganzes in ihrer Form einem Ypsilon ähnlich sehen. Doch zusätzlich konnten die Studenten auch noch eine sensationelle Entdeckung weiterer bis dahin gänzlich unbekannter Antikörper machen, die wesentlich kleiner und deutlich einfacher aufgebaut sind. Bei ihnen fehlen die leichten Proteinketten komplett, sie bestehen nur aus schweren Proteinketten und wurden daher später auf den Namen „Heavy-Chain-Only-Antibodies“ getauft, auch die Bezeichnung als „Schwerketten-Antikörper“ ist inzwischen gebräuchlich geworden.
Die Brüsseler Wissenschaftler konnten diese Antikörper anschließend auch bei sämtlichen anderen Kameltieren nach Analysen im städtischen Zoo nachweisen, also beispielsweise auch bei Lamas oder Alpakas. Später sollten die Schwerketten-Antikörper auch bei Haien identifiziert werden. Spannend war vor allem die Erkenntnis, dass diese neuen Antikörper zwar im Vergleich zu den herkömmlichen Immunglobulinen (im menschlichen Blut macht das Immunglobulin G, IgG, etwa 80 Prozent aller Antikörper aus) deutlich einfacher aufgebaut sind, trotzdem aber ein gleich hohes Antigenbindungs-Potenzial haben. Die simplere und kleinere Struktur tut also ihrer Funktion keinerlei Abbruch. Dies konnte auch ein Versuch mit einem lebenden Kameltier, dem ein Virus injiziert wurde, belegen. Das Tier reagierte darauf sogleich mit der Bildung der speziellen Antikörper. Dies ist womöglich auch ein Grund dafür, dass Kameltiere resistent gegen viele Krankheiten sind und extreme Bedingungen wie Hitze, Dürre oder Unterernährung meist schadlos überstehen können.
„Schwerketten-Antikörper“
1993 publizierten die Brüsseler Forscher diese Erkenntnisse im Fachjournal „Nature“. Bald schon sollte sich herausstellen, dass Nanobodies sogar noch in weiter verkleinerter Form ihre Aufgabe erfüllen können, dass sogar Fragmente davon ausreichen. Das kleinste Antikörperfragment der abgeänderten Nanobodies besteht inzwischen nur noch aus einer einzelnen Aminosäurekette und hat daher die Bezeichnung als sogenannter Eindomänenantikörper oder Einzeldomänenantikörper (Single Domain Antibody) erhalten. Häufig hat man inzwischen genau diese Einzeldomänenantikörper im Blick, wenn die Rede von Nanobodies ist. Mit einem Molekulargewicht von rund 15 kDa (Kilodalton) und einer Größe von zwei bis vier Nanometern sind diese Nanobodies zehnmal kleiner als klassische Immunglobuline. Diese neuen Antikörperfragmente werden inzwischen meist auf Basis von Schwerketten-Antikörpern von Kameltieren hergestellt, können aber auch durch Umwandlung klassischer Immunglobuline von Mäusen oder Menschen im Rahmen einer sogenannten Monomerisierung im Labor gewonnen werden. Ihre Vorteile liegen auf der Hand: Wegen ihrer Winzigkeit können diese Nanobodies in allerfeinstes Gewebe vordringen, was für konventionelle Antikörper wegen deren Größe nicht möglich ist. Zudem können sie wegen ihrer ausgeprägten Antigen-Erkennung-Eigenschaften von konventionellen Antikörpern manchmal übersehene Antigenbindungs-Stellen entdecken und sich dort selbst in kleinste Lücken hineinzwängen. Der einzige aus ihrer Winzigkeit potenziell erwachsende Nachteil besteht darin, dass der menschliche Körper sie relativ schnell über die Nieren ausscheidet, weshalb sie nur über eine kurze Halbwertzeit und Wirkdauer verfügen. Das kann bei manchen Diagnose- oder Therapie-Tools aber durchaus auch von Vorteil sein.
Zudem bieten die Nanobodies oder deren Fragmente im Vergleich zu konventionellen Antikörpern noch eine ganze Reihe weiterer Vorteile. Sie haben eine hohe Stabilität (klassische Antikörper sind hingegen relativ instabil und werden im Körper schnell abgebaut), sie bleiben bis 90 Grad Celsius funktionsfähig und können auch bei hohen Temperaturen ihre Antigene zuverlässig binden. Klassische Antikörper hingegen werden durch Hitze inaktiviert und müssen kühl gelagert werden. Nanobodies sind gut in Wasser löslich (sind stark hydrophil) und wenig lipophil (können sich daher kaum in Fetten oder Ölen lösen). Zudem zeichnen sie sich im Unterschied zu klassischen Antikörpern durch eine hohe Beständigkeit gegen Magensäure aus, was sogar einen oral lokalen Einsatz im Verdauungstrakt möglich macht. Durch Optimierung ihrer Struktur im Labor kann sogar eine weitgehend schadlose Passage durch den Magen-Darm-Trakt erzielt werden. Eine oral systemische Anwendung mit möglichst breiter Verteilung der Nanobodies auf den ganzen Körper dürfte allerdings daran scheitern, dass der menschliche Organismus Peptide oder kleine Aminosäuren wie die Nanobodies nur schlecht aufnehmen kann. Sie besitzen eine ziemlich geringe Immunogenität, sprich: Sie pflegen im menschlichen Körper nur eine unbedeutende Immunantwort auszulösen. Und eine sogenannte Zytotoxizität, die Schädigung lebender Zellen, tritt bei ihrem Einsatz niemals auf.
Bislang ist die Produktion von Nanobodies oder deren Fragmenten noch relativ aufwendig. In der Regel werden dafür Kamel-Versuchstiere durch Kontakt mit dem gewünschten Antigen immunisiert. Sie bilden daraufhin Schwerketten-Antikörper, die im Anschluss aus dem Blut der Tiere isoliert werden. Aus der Vielzahl der dabei gewonnenen Antikörper werden jene aussortiert, die das Antigen am effektivsten binden und neutralisieren können und sich daher am besten zur fragmentarischen Weiterverarbeitung eignen. Die gewonnene genetische Erbinformation (DNA) der Nanobodies kann zudem in Organismen wie Hefen oder Bakterien eingeschleust werden, die daraufhin die gewünschten Nanoantikörper in größeren Mengen und relativ kostengünstig herstellen. Das Schweizer Fernsehen SRF berichtete in einer den Nanobodies gewidmeten und im Frühjahr 2024 ausgestrahlten Sendung, dass angesichts des gewaltigen Potenzials, das diesen neuen Antikörpern in Gestalt neuartiger Medikamente als Präzisionswaffe im Kampf gegen Infektions- und Autoimmunkrankheiten, in der Krebstherapie oder auch bei der Diagnose von Alzheimer zugeschrieben wird, „viele Forschungszentren nun eigene Lama- oder Alpaka-Herden besitzen“.
Nicht einmal eine Handvoll Präparate
Während der Corona-Pandemie konnten Bonner und Göttinger Wissenschaftler 2021 den Nachweis erbringen, dass verschiedenste von ihnen entwickelte Nanobodies das Virus SARS-CoV-2 perfekt binden und neutralisieren konnten, indem sie an das Spike-Protein angedockt hatten. Ausgehend von diesem Erfolg könnte man annehmen, dass es auf dem internationalen Pharmamarkt längst auch jede Menge andere wirksame Medikamente auf Nanobodies-Basis gegen alle möglichen Krankheiten geben müsste. Doch obwohl die biomedizinische Forschung auf Hochtouren an der gefeierten Entdeckung arbeitet, gibt es 35 Jahre nach den Erkenntnissen über die Schwerketten-Antikörper noch nicht mal eine Handvoll medizinischer Präparate.
Die Gründe dafür hatte Ulrich Rothbauer, Professor für Pharmazeutische Biologie an der Universität Tübingen, dem Magazin „Spektrum der Wissenschaft“ dargelegt. Demnach sei der bis 2013 geltende und von der Universität Brüssel ziemlich restriktiv gehandhabte Patentschutz ein erheblicher Bremsklotz gewesen. Als dieser weggefallen sei, hätten sich die Nanobodies einem megastarken Gegner in Gestalt der klassischen Antikörper stellen müssen, auf denen heute einige der umsatzstärksten Medikamente aufbauen. In deren Entwicklung hätten die Pharma-Riesen dreistellige Millionenbeträge investiert, weshalb es für sie kaum Sinn gemacht habe, diese Bestseller durch neuartige Konkurrenzprodukte zu ersetzen. Zudem sei es nicht ganz so einfach gewesen, die zuständigen EU-Zulassungsbehörden von den neuartigen Nanobodies zu überzeugen. „Für die Behörden lassen sich die Risiken einfach besser kalkulieren als für die bisher kaum genutzten Nanobodies“, so Prof. Rothbauer.
![An der Freien Universität Brüssel wurden die Nanobodies entdeckt](/sites/default/files/inline-images/43_2024_Wissen__Forschung_Nanobodies_002.jpg)
Kaum überraschend daher, dass sich derzeit weit weniger Nanobodies in der klinischen Entwicklungsphase befinden als herkömmliche Antikörper. Obwohl die beiden Forscher Robert Lefkowitz und Brian Kobilka ihren Nobelpreis für Chemie 2012 letztlich der Verwendung von Nanobodies verdankten und diese in der medizinischen Grundlagenforschung schon fest etabliert sind. Einige Nanobodies werden aktuell zur Behandlung von Krebs, Lungenfibrose oder rheumatoider Arthritis erprobt, andere als eine Art Medikamententaxi, um die Blut-Hirn-Schranke überwinden zu können. Dank ihrer guten Bindungsfähigkeit könnten die Nanobodies auch als Marker eingesetzt werden, um krankes Gewebe von gesundem besser unterscheiden oder um Eiweißablagerungen im Gehirn bei der Alzheimer-Krankheit besser detektieren zu können. Nanobodies wird auch die Fähigkeit zugeschrieben, im Blut zirkulierende Bakterientoxine bei einer Sepsis neutralisieren zu können. Sogar bei giftigen Schlangenbissen könnten sie ein wirksames Gegenmittel darstellen. Nicht zuletzt sind Nanobodies bestens zum Monitoring von Infektionskrankheiten geeignet, siehe SARS-CoV-2.