Mikroben besiedeln unseren Körper. Doch wenn ihre Zusammensetzung sich ändert, ist das meist nachteilig für uns. Der Zell- und Entwicklungsbiologe Prof. Dr. Thomas Bosch von der Universität Kiel spricht im Interview über die mikrobiellen Funktionen, darüber, was die Forschung umtreibt und wie wir die Vielfalt des Mikrobioms fördern können.
Herr Professor Bosch, was ist überhaupt unter dem Begriff Mikrobiom zu verstehen?
Die Epithelien, die Oberfläche des Körpers, der Darm und unsere Mundhöhle sind von einer stabilen, mikrobiellen Welt besiedelt. Das bezeichnen wir als Mikrobiom. Das ist die Gesamtheit aller unseren Körper kolonisierenden Kleinstorganismen, wozu nicht nur die Bakterien gehören, sondern auch kleine Pilze, Viren und andere. Häufig wird das gleichgesetzt mit Bakterien, aber das greift zu kurz. Wir beginnen zum Beispiel zu ahnen, dass Pilze in unserer Mundhöhle eine immer wichtigere Rolle spielen. Allerdings können wir sie nicht mithilfe von Sequenziertechnologien erwischen, weil ihr molekulares Set-up etwas anders ist. Das führt dazu, dass wir eigentlich immer nur Bakterien sequenzieren können, sodass wir am meisten über sie wissen. Wir wissen jedoch, dass die Mikrowelt in unserem Körper deutlich komplexer ist als wir ahnten.
Mikroben arbeiten in unserem Darm. Was genau machen sie dort?
Den Mikroben kommt eine Reihe von lebensnotwendigen Funktionen zu. Vieles dazu haben wir von Versuchstieren gelernt, deren Mikrobiom experimentell entfernt wurde. Ihre Hauptfunktion im Darm ist natürlich die Mithilfe bei unserer Ernährung. Mikroben verarbeiten viele Nahrungsmittel, die wir zu uns nehmen, zum Beispiel die pflanzenfaserigen Produkte. Neben diesem Ernährungsbeitrag haben die Mikroben Einfluss auf die Motilität, also auf das Bewegungsvermögen des Darms. Wenn die Welt der Mikroben nicht mehr stimmt, kommt es zu Störungen in der Darmperistaltik. Dann leiden die Betroffenen unter einer schmerzhaften Verstopfung des Stuhls. Darüber hinaus beeinflussen Mikroben die Entwicklung des Darms. Bekanntermaßen gibt es Stammzellen im Darm. Unser Darm unterliegt einem ständigen Verschleiß. Das heißt, die verschlissenen, abgestorbenen Zellen werden ersetzt durch neue aus Stammzellen. Viele Mikroben sitzen interessanterweise genau da, wo sich die Stammzellen befinden. Wir ahnen, dass es dort einen engen Austausch gibt. Zumindest wissen wir, dass keimfreie Tiere eine veränderte, nachteilige Anatomie des Darmtrakts besitzen. Eine weitere wichtige Fähigkeit ist, dass Mikroben imstande sind, fremde Eindringlinge wie beispielsweise Viren und bakterielle Pathogene abzuwehren und eine Besiedlung gar nicht erst zuzulassen. Wir sprechen von Kolonisierungsresistenz. In der Natur gibt es keine keimfreien Tiere. Sie wären nicht lebensfähig.
Mikroben sind in der Lage, unser Immunsystem zu trainieren. Wie genau kann ich mir diesen Vorgang vorstellen?
Mikroben beeinflussen das Immunsystem vor allem dadurch, dass sie kleine Stoffwechselmoleküle herstellen, die dann an Rezeptoren unserer Immunzellen anheften und sie aktivieren. Wenn diese Moleküle nicht da oder falsch vorhanden sind, kommt es zu einer Störung unseres Immunsystems. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mikroben ein wichtiger Bestandteil unseres Immunsystems sind.
Bislang konnten zwischen 1.000 und 2.000 Bakterienarten entdeckt werden. Warum aber befinden sich nur rund 300 davon in jedem Menschen?
Es gibt durchaus einige Tausend Bakterienarten, die unseren Darm besiedeln können. Von diesen Bakterienarten gibt es schätzungsweise 300 in jedem von uns. Wir bezeichnen das als das sogenannte Kern-Mikrobiom, sozusagen die Signatur des Mikrobioms im Darm. Es gibt Bakterien, anhand deren Vorhandensein wir durch eine Stuhl-Sequenzierung sagen können, dass sie spezifisch vom Menschen kommen. Es gibt also ein Homo-sapiens-spezifisches Mikrobiom – und dazu gehören die genannten 300 Mikrobenarten. Darüber hinaus verfügt jeder Einzelne von uns über spezifische Mikroben, die abhängig von der Region, in der man lebt, der Lebensweise und Ernährung unseren Körper besiedeln.
Welche Mikroben wirken sich günstig auf unsere Gesundheit aus und welche davon eher ungünstig?
Was uns gesund hält oder krank macht, dafür ist die Gesamtheit der Mikroben verantwortlich. Und weil diese Gesamtheit nicht nur regions-, sondern auch individualspezifisch ist, wird es zukünftig eine stärkere Ausrichtung auf Präzisionsmedizin geben. Wir können allerdings nicht sagen, weil das Bakterium XY dies oder jenes im Proband X tut, wird es dasselbe auch im Proband Y tun.
Heißt also, dass Sie die letzte Frage nicht pauschal beantworten können?
Genau, wir müssen das korrekter darstellen und sagen: Welches Bakterium für uns gut oder weniger gut ist, hängt immer von den entsprechenden Zusammenhängen ab. Der Zusammenhang kann genetisch, umweltspezifisch oder individualspezifisch bedingt sein. Ein Bakterium kann in einer bestimmten Umwelt durchaus positiv sein. Heliobacter zum Beispiel ist ein Bakterium, das in einigen Fällen Magenkrebs verursachen kann, jedoch kann es auch ein normaler Bestandteil des Mikrobioms sein. Ein anderes Beispiel ist Candida, ein Pilz in der Mundhöhle, der ein Teil des gesunden, oralen Mikrobioms ist. Wenn Sie ein orales Antibiotikum zum Beispiel gegen eine Parodontitis einnehmen, dann werden dadurch alle Bakterien in Ihrer Mundhöhle abgetötet. Der Pilz an sich hingegen bleibt vom Antibiotikum unberührt. Dadurch dass die anderen Bakterien nicht mehr da sind, kann Candida jetzt ungehindert wachsen und zu Mundsoor führen. Das Beispiel zeigt: Wenn das Mikrobiom in seiner natürlichen Zusammensetzung gestört ist, kann sich ein normalerweise günstiges Mitglied in der Bakteriengemeinschaft zu etwas eher Nachteiligem entwickeln.
Sie sind Mitglied und Gründungsdirektor des Sonderforschungsbereichs „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ an der Universität Kiel. Womit befassen Sie und Ihre Kollegen sich?
Wir haben 2016 diesen Sonderforschungsbereich ins Leben gerufen, um zum einen deutlich zu machen, dass alle Lebewesen – Mensch, Tier und Pflanze – für sich genommen Metaorganismen darstellen, weil sie aus vielen unterschiedlichen Organismen zusammengesetzt sind. Jeder von uns hat mindestens ebenso viele Mikroben-Zellen in seinem Körper wie eigene Zellen. Wir sind viele – und zwar viel mehr als die Summe unserer Zellen. Zum anderen wollten wir durch einen vergleichenden evolutionsbiologischen Ansatz die grundsätzlichen Mechanismen verstehen. Wie kommunizieren die Mikroben mit den unterschiedlichen Wirtszellen? Und wie kommunizieren wir mit den Bakterien?
Wie genau läuft diese Kommunikation ab?
Im Grunde ist das eine biochemische Unterhaltung, die vornehmlich über kleine Moleküle abläuft. Man muss wissen: Die Bakterien wollen uns nichts Gutes tun. In den Wirten – das können Tiere oder Menschen sein – haben sie einen Platz zum Wohnen gefunden. Sie leben dort in einer komplexen, genetisch völlig unterschiedlichen Vielfalt von Bakterien miteinander – und sie haben einen eigenen Stoffwechsel, bei dem laufend Moleküle produziert werden. In unmittelbarer Umgebung unserer Zellen, im Darm oder auf der Haut, finden sich also Stoffwechselmoleküle, die die Zellen dann für ihre eigene Zwecke benutzen können. Bakterien kommunizieren mit unseren Zellen im Wesentlichen über solche Stoffwechselmoleküle. Und unsere Zellen wiederum tun das unter anderem mit antimikrobiellen Peptiden. Damit beeinflusst unser Körper die Welt der Bakterien, die unsere Zellen umgeben. Viele Details dieser Wirt-Mikroben-Interaktion sind dabei noch völlig unklar. Zum Beispiel welche Oberflächenrezeptoren beteiligt sind und welche Konsequenzen das Kommunizieren hat. Unklar ist auch, wie die räumliche und zeitliche Verteilung der Mikroben in unserem Körper kontrolliert wird.
Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?
Das Mikrobiom ändert sich im Laufe unseres Lebens. Wenn wir geboren werden, bekommen wir die Mikroben über den Geburtskanal unserer Mutter, doch mit zunehmendem Alter ändert sich das Mikrobiom. Es lässt sich eine abnehmende Diversität der Bakterien feststellen. Andere Bakterien kommen in vermehrter Häufigkeit vor.
Wie wirkt sich unsere Ernährung auf die Zusammensetzung des Darmmikrobioms aus?
Die Ernährung ist einer der Hauptfaktoren, die das Mikrobiom beeinflussen. Wenn wir uns kurz die Stammesgeschichte vor Augen führen: Mikroben haben vor Hunderttausenden von Jahren einen Wirtsorganismus im Darm und auf der Haut besiedelt und dort ihre Wohnstätte gefunden. In den vergangenen 50 Jahren jedoch änderte sich drastisch die Welt des Wirtsorganismus. Er ernährt sich auf einmal von völlig neuen Dingen, zudem lebt er in einer Umwelt mit Hygieneartikeln und Antibiotika. Wir ernähren uns immer weniger von naturbelassenen und vorwiegend pflanzlichen Produkten. Unsere Ernährung hat sich nach und nach umgestellt auf hoch verarbeitete Lebensmittel, zum Beispiel auf Convenience- und Fastfood. Das stellt die Bakterien vor ein Problem, denn den Umgang damit haben sie nie gelernt. Viele der Bakterien werden verschwinden, weil sie unter anderem im Darm nichts mehr zum Fressen finden. Andere Bakterien wiederum werden sich anpassen. Daraus resultiert ein verändertes Mikrobiom, das zwar mit unserer Ernährungsweise bestens klarkommt, aber möglicherweise unserer Gesundheit nicht zuträglich ist.
Was kann jeder Einzelne von uns tun, um die Vielfalt des Mikrobioms zu fördern?
Wir sollten uns bewusst werden über die Bedeutung des Mikrobioms – in unserem Darm und auf unserer Haut. Bei allem was wir täglich tun – vornehmlich bei der Ernährung, der Körperpflege und unserem Lebensstil – sollten wir uns fragen, ob wir es schaffen, zumindest einem Großteil der Mikroben ein Überleben zu ermöglichen. Wir sollten uns möglichst naturbelassen ernähren, Antibiotika einnehmen, nur falls es notwendig ist und auch Hygieneartikel und Desinfektionsmittel nur sparsam verwenden. Der vermehrte Einsatz von antibakteriellen Mitteln in der Corona-Krise war nicht förderlich für unsere Gesundheit. Vor allem bei jungen Menschen hat Neurodermitis in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Bakterien tragen zur Kolonisierungsresistenz bei und sorgen für einen gesunden Schutz auf der Haut.
Inwiefern wirkt sich das Mikrobiom auf die Entstehung von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Adipositas aus?
Wir wissen, dass diese Krankheiten mit einem geänderten Mikrobiom in Zusammenhang stehen. Patientinnen und Patienten mit einem entzündlichen Darm, Adipositas und Diabetes haben ein anders aussehendes Mikrobiom als nicht adipöse und von einer entzündlichen Krankheit betroffene Menschen. Wir kennen jedoch noch nicht die Mechanismen und Kausalität, also ob etwa das Mikrobiom diese Krankheiten direkt auslöst. Darauf liegt unter anderem ein Fokus in unserem Sonderforschungsbereich. Wir müssen daher vorsichtig sein: Heute wird vorschnell das Mikrobiom für alles verantwortlich gemacht.
Nach neueren Erkenntnissen der Krebsforschung sollen auch Tumore ihr eigenes Mikrobiom haben. Was können wir daraus
lernen?
Dazu passt eine alte, etwas abstruse Beobachtung: Hunde können Krebs riechen. Wenn man ausgebildeten Hunden 20 verschiedene Röhrchen vor die Nase hält, schlagen sie bei einem an. Dieses eine Röhrchen enthält das Exhalat eines Lungenkarzinom-Patienten. Wir wissen, dass Tumore häufig mit einem veränderten Mikrobiom assoziiert sind. Mikroben produzieren Stoffwechselprodukte – und das können Hunde riechen. Wenn wir unangenehm riechen, dann deshalb, weil die Bakterien beispielsweise in den Achselhöhlen entsprechende Stoffwechselprodukte absondern. Auch hier wissen wir nicht, welcher Wirkmechanismus dem zugrunde liegt.
Es soll Hinweise darauf geben, dass das Mikrobiom die Wirksamkeit einer Krebstherapie beeinflussen kann. Können Sie das bestätigen?
Ja, das kann ich bestätigen. Das entwickelt sich zu einem superspannenden Thema, dem sich ein eigenes Forschungsgebiet widmet. Wir wissen zwar, dass wir ein hochkomplexes Mikrobiom in unserem Körper haben. Doch erst jetzt rückt in den Fokus, dass dieses Mikrobiom auch die von außen zugeführten Pharmaka selbst aktiv verändern kann, bevor es unsere Zellen trifft und seine Wirksamkeit entfaltet. Die Mikroben ändern das Pharmakon um, sodass unsere Körperzellen etwas anderes sehen, als wir eingenommen haben. Wir Menschen sind Metaorganismen, das heißt, was immer wir tun, müssen wir im Zusammenhang mit den Mikroben denken. Wenn wir Pharmaka zu uns nehmen, muss uns klar sein, dass unser Körper nicht keimfrei und steril wie unter den Bedingungen einer Petrischale ist, sondern er immer in einem engen Austausch mit den Mikroben steht.