Johannes Thiemann spielt nicht mehr für Alba Berlin. Der Weltmeister hat sich für ein Japan-Abenteuer entschieden – den Verlust kann Alba noch nicht auffangen. Der Saisonstart ist enttäuschend.

Das pulsierende Hauptstadt-Leben in Berlin vermisst Johannes Thiemann in Ota weniger als angenommen. In der 230.000 Einwohner zählenden Stadt rund 100 Kilometer von Tokio entfernt gebe es „viele gute Restaurants“, erzählt der Basketball-Weltmeister: „Ich habe hier alles, was ich brauche. Und es ist nicht weit ins Grüne und in die Berge.“ Natürlich lebt es sich auch deshalb so gut in Japan, weil er dort sehr gutes Geld verdient. Dem Vernehmen nach soll er bei den Gunma Crane Thunders das Dreifache von dem verdienen, was er zuletzt bei Alba Berlin kassiert hat. „Ich habe im Sommer mit mehreren Euroleague-Teams gesprochen, natürlich auch mit Alba. Aber das Angebot aus Japan war ein sehr gutes“, sagte Thiemann der „Bild“: „Da habe ich mir gedacht: warum nicht?“ Geholfen hat bei der Entscheidungsfindung auch der Fakt, dass Thiemann mit der deutschen Nationalmannschaft während der WM im japanischen Okinawa spielte. „Wenn wir die Zeit dort nicht verbracht hätten, hätte ich keinen Anhaltspunkt gehabt“, sagte er. „Dann wäre das vielleicht gar kein Thema gewesen. Aber ich war sehr angetan von der Kultur und wusste ungefähr, worauf ich mich einlasse.“
„Basketball hier ist etwas anders“
Und so kehrte er im Sommer Berlin den Rücken, seinen Vertrag bei Alba verlängerte er nach sechs Jahren nicht noch mal. „Es war eine wirklich schwere Entscheidung, Alba zu verlassen. Denn ich habe in Berlin nicht nur viele Freunde gefunden, sondern auch eine Heimat“, sagte der 30-Jährige zum Abschied. Sportlich kann die Liga in Japan zwar nicht mit der Basketball-Bundesliga und schon gar nicht mit der Euroleague mithalten. Aber Thiemann bereut seine Entscheidung auch aus sportlicher Sicht nicht. „Der Basketball hier ist etwas anders“, berichtete er: „Das Spiel ist sehr schnell, sehr wuselig. Aber auf einem guten Niveau.“ Innerhalb eines Teams gibt es nur drei Kaderplätze für Ausländer, nur zwei dürfen im Spiel gleichzeitig auf dem Parkett stehen. Sie sind in der Regel die absoluten Führungsspieler, so wie Thiemann im Team des US-Trainers Kyle Milling. Thiemann führte die Gunma Crane Thunders in den ersten zwei Saisonspielen zu zwei Siegen, darunter auch gegen Titelverteidiger Hiroshima Dragonflies.
Dass Thiemanns Start ins Japan-Abenteuer so gut geklappt hat, freut auch Himar Ojeda. „Es ist ein wenig wie in einer Vater-Sohn-Beziehung“, sagte der Sportdirektor von Alba Berlin: „Ich bin einfach stolz darauf, was er erreicht hat.“ Gern hat er den Leistungsträger im vergangenen Sommer nicht ziehen lassen, aber ihm blieb angesichts des auslaufenden Vertrags und des Wunsches des Spielers nach einem Tapetenwechsel nichts anderes übrig. „Wir hatten ihn lange, haben eine sehr gute Zeit zusammen verbracht. Sportlich und auch menschlich ist er ein großer Verlust“, sagte Ojeda: „Er hat sich bei uns maximal entwickelt.“ Davon profitierte auch das Team und der gesamte Club. „Er hat in den vergangenen Jahren sehr viel zu unserer Kultur beigetragen und die Alba-Geschichte geprägt – sportlich wie charakterlich“, hob der Sportdirektor hervor.
Und nun? „Alba Berlin droht der Absturz“, titelte die Zeitung „Die Welt“ in einem Artikel über den elfmaligen deutschen Meister. Ohne Thiemann haben die Berliner einen Führungsspieler weniger in den Reihen, der in besonders engen Momenten gerne Verantwortung übernimmt und oft bewiesen hat, dass er ein Unterschiedsspieler sein kann. Die drei Meisterschaften sowie zwei Pokalsiege, die Alba mit dem Center gewann, sprechen Bände. Und auch den früheren NBA-Profi Sterling Brown, der zu Partizan Belgrad wechselte, konnte Alba nicht halten. Ojeda sprach von einem „harten Sommer“ mit „ein paar frustrierenden Situationen“ auf dem Transfermarkt. Alba kann nicht wie Ligakonkurrent Bayern München, der seinen Etat unter Ex-Bundestrainer Gordon Herbert nochmals aufgestockt hat, mit großen Gehaltsschecks locken. Ojedas ernüchterndes Transfer-Fazit lautete daher: „Wir haben Spieler verloren, die wir halten wollten, und andere nicht bekommen, die wir gerne gehabt hätten.“
Doch von Schwarzmalerei oder gar Panikmache ist der Manager weit entfernt. Viele Spieler laufen nach dem XXL-Umbruch im Vorjahr nun in der zweiten Saison gemeinsam auf, was sich positiv auf das Spielverständnis auswirken soll. Als Ersatz für Thiemann und Brown verpflichtete der Vizemeister Will McDowell-White (aus Neuseeland) und Trevion Williams (Ratiopharm Ulm), „alle anderen haben ein Jahr gemeinsame Entwicklung und Erfahrung hinter sich“, sagte Ojeda.
Zittersieg ist kein Hoffnungsschimmer
Doch der Saisonstart geriet höchst unbeständig, wie man es eigentlich nur von einer neu zusammengewürfelten Mannschaft erwarten konnte. Auf die vermeidbare Niederlage zum Liga-Auftakt bei den Hamburg Towers (80:97) folgte eine 105:70-Gala zu Hause gegen EWE Baskets Oldenburg. „Ich bin stolz auf die Jungs und bin glücklich darüber, wie wir ins Spiel gestartet sind. Wir haben von Anfang an klar den Takt vorgegeben“, sagte der Isländer Martin Hermannsson, der als neuer Kapitän nach dem Thiemann-Abgang noch mehr Verantwortung übernehmen muss. Doch die Euphorie verflog schnell, nur eine Woche später setzte es in Bonn die nächste Liga-Pleite (87:91). Aber auch davon erholte sich das Team von Trainer Israel Gonzalez einigermaßen und zog durch ein knappes 75:74 im Pokal gegen die Merlin Crailsheim in die nächste Runde.

Der Zittersieg gegen den Zweitligisten taugt jedoch nicht als großer Hoffnungsschimmer, zu schwach trat der haushohe Favorit gegen den aggressiven und taktisch clever eingestellten Außenseiter auf. „Sie haben gespielt als wäre es das NBA-Finale“, äußerte Alba-Profi Matteo Spagnolo, der an diesem Nachmittag mit 16 Punkten und sechs Rebounds noch bester Berliner war. Teamkollege Trevion Williams gab hinterher zerknirscht zu: „Wir haben ihnen in der ersten Hälfte einfach nicht genug Respekt entgegengebracht.“ Alba hatte großes Glück, dass Crailsheims Tyreese Blunt 1,6 Sekunden vor Schluss gleich drei Freiwürfe vergab. „Wir können uns bei ihm bedanken“, meinte Williams, und Spagnolo fühlte mit dem Unglücksraben mit: „Drei verpasste Freiwürfe am Ende, so etwas habe ich persönlich noch nie erlebt. Er tut mir leid.“ Im Pokal-Viertelfinale muss Alba am 7. oder am 8. Dezember nach Bamberg reisen.
Konstant waren dagegen die Ergebnisse in den ersten beiden Euroleague-Spielen der Saison – konstant negativ. Sowohl gegen Panathinakos Athen als auch beim FC Barcelona setzte es eine Niederlage. Schon in der Vorsaison hatte der Bundesligist auf europäischem Parkett kaum Erfolgserlebnisse gefeiert, was mächtig auf die Stimmung drückte. Zumal die Doppelbelastung zu zahlreichen personellen Ausfällen und zu großer Müdigkeit führte. Es steht zu befürchten, dass die katastrophale Bilanz von nur fünf Siegen aus 34 Spielen in dieser Euroleague-Saison im negativen Sinne von Alba sogar noch getoppt wird. Dabei hatte Ojeda vor dem Start geäußert: „Unsere Stärke ist die Gruppe, und ich hoffe, dass uns das auch in der Euroleague helfen wird.“ An der Königsklasse dürfen die Berliner nur dank einer Wildcard teilnehmen, die erneut um ein Jahr verlängert wurde.