Als erster Radprofi seit 37 Jahren hat Tadej Pogacar die „Triple Crown“ mit Siegen beim Giro d’Italia, bei der Tour de France und kürzlich bei der WM gewonnen. Der Slowene verkörpert eine neue Dimension im Sattel – was auch Legende Eddy Merckx anerkennt.

Die Radsport-Welt ist seit diesem Jahr eine andere. Eine Welt, in der neue Maßstäbe für die Grade von Überlegenheit gelten und eine Ikone wie Eddy Merckx nicht mehr unumstritten als „der größte Fahrer aller Zeiten“ anzusehen ist. Weil diese Zeiten viele Jahrzehnte zurückreichen, können Tadej Pogacar wirklich epochale Umwälzungen bescheinigt werden: Der 26-Jährige hat seine Rivalen in der ausklingenden Saison in beispielloser Manier dominiert, Erfolg auf Erfolg gefeiert, durch die seltene „Triple Crown“ Geschichte geschrieben – und die Tür zu einer neuen Dimension aufgestoßen.
„Radsport-Gott“ Merckx persönlich verlieh Pogacar nach dem husarenrittartigen Triumph des Slowenen bei der Straßen-WM in Zürich und den vorherigen Erfolgen des Slowenen beim Giro d’Italia und bei der Tour de France den Status einer Legende. „Er ist ein riesiger Champion und fällt aus dem Rahmen“, meinte dass weltweit als einmalig verehrte Idol voller Anerkennung, „was er geleistet hat, ist ein unglaubliches Ereignis. Es ist offensichtlich, dass er jetzt über mir steht. Daran kann kein Zweifel mehr bestehen.“
Tatsächlich hatte bislang noch niemand, auch „der Kannibale“ Merckx nicht, die Konkurrenz auf unterschiedlichsten Streckenprofilen auch nur annähernd so beherrschen können wie der Slowene. War Pogacar schon beim Giro mit eindrucksvoller Leichtigkeit unantastbar, geriet sein auch schon dritter Tour-Sieg durch mehr als sechs Minuten Vorsprung nach sechs Etappensiegen zu einer einzigen Demonstration seiner derzeit absolut uneingeschränkten Macht im Sattel.
Spätestens nach seiner Gala in Zürich erscheint Pogacar sogar als Fahrer von einem anderen Stern: Seine 100 Kilometer lange Flucht inklusive eines mörderischen Solos über die letzten 51 Kilometer ließen Beobachter wahlweise – je nach persönlichem Blickwinkel auf den „Dominator“ – staunen, mit dem Kopf schütteln oder verzweifeln.
Dominanz sorgt für Skepsis
Denn mit der höchst imponierenden Kostprobe seiner Spezialität – bei Lüttich-Bastogne-Lüttich führte seine Alleinfahrt zum Sieg über 37 km, bei Strade Bianche sogar über 82 Kilometer und eine Woche nach dem WM-Triumph beim Giro dell’Emilia nochmals über 38 Kilometer – setzte zwei seit Dekaden unumstößliche Radsport-Gesetze außer Kraft: Fahrten im Wind (also ohne Windschatten) haben immer ihren Preis, und immer ist über so lange Distanzen die Kraft der Gruppe größer als jede Qualität eines Ausreißers.
Derart über den Dingen in neuen Sphären sind Pogacars Siegeszüge, die von seinem sicheren Instinkt und starken Beinen geprägt sind, natürlich oft geschichtsträchtig. Schon seine Erfolge bei Giro und Tour bedeuten den ersten „Doppelpack“ bei den größten und wichtigsten Landesrundfahrten im gleichen Jahr seit 1998, die „Dreifach-Krone“ durch den zusätzlichen WM-Titel war zuvor sogar 37 Jahre lang unerreicht geblieben und auch nur Merckx 1974 und dem Iren Stephen Roche 1987 gelungen.
Zur besten Saison eines Fahrers in der Geschichte des Radsports gehörten nach dem Sieg beim Giro dell’Emilia Zürich noch weitere imponierende Zahlen: Bis dahin holte Pogacar 2024 an 56 Renntagen 23 Siege, gewann bei allen drei Rundfahrt-Starts und war bei fünf von sieben Eintagesrennen erfolgreich.

So viel Dominanz ruft gerade im Radsport schnell Skeptiker auf den Plan. Zu belastet ist die Szene immer noch von den Dopingskandalen der 90er und Nuller-Jahre, als dass angesichts von Pogacars Überlegenheit keine Zweifel aufkämen. Bereits bei der Tour gehörten entsprechende Fragen zu seinem Alltag wie die laut hupenden Begleitfahrzeuge seines UAE-Teams zum rasenden Tour-Tross. „Es wird immer Zweifel geben, das weiß ich“, sagte der Mann aus dem mittelslowenischen Komenda, „aber ich weiß auch, wer ich bin, und dass es das nicht wert ist, etwas einzunehmen, womit man seine Gesundheit gefährdet. Es ist einfach dumm.“
Genauso, nämlich als „dumm“, bezeichnete Pogacar mit einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und augenzwinkernder Selbstkritik seinen Parforce-Ritt in der Schweiz ins Regenbogentrikot des Weltmeisters: „Das Rennen hatte sich recht schnell entwickelt, und vorne war eine gefährliche Ausreißergruppe weggefahren. Da habe ich attackiert. Das war kein Plan, eigentlich war das dumm. Wer sich sowas ausdenkt, der muss nicht ganz klar im Kopf sein. Aber so läuft das manchmal im Rennen, dass man dumme Aktionen macht und die sogar aufgehen. Aber ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe.“
Auch seine Rivalen können sich auf den ebenso spektakulären wie unkonventionellen Stil des Ausnahmefahrers nicht wirklich einen Reim machen. „Das“, meinte der deutsche Routinier Simon Geschke in Zürich nach seinem letzten Profirennen über Pogacars Glanzleistung, „das war schon krass. Ich würde gerne mal in seinen Kopf schauen, was da vorgeht.“
Doppel-Olympiasieger Remco Evenepoel erschien Pogacars absurd anmutende Flucht als „selbstmörderisches Himmelfahrtskommando“, und der entthronte Titelverteidiger Mathieu van der Poel war überzeugt, dass Pogacar durch seinen Impuls „das Regenbogentrikot schon weggeworfen hat“.
Umso größer geriet in den internationalen Medien die Heldenverehrung der einschlägigen Fachpresse. Die von besonderer Expertise inspirierte „L’Equipe“ in Frankreich etwa berichtete über einen „Wahnsinnsschlag“ und ein „Meisterwerk“, der WM-Titel für Pogacar sei „die Krönung eines Monsters“ gewesen.
Platzhirsch des Peloton
Dennoch und womöglich sogar wegen Pogacars Hang zur unorthodoxen Renngestaltung erkennen im großen Fahrer-Lager praktisch alle den Wahl-Monegassen als „Platzhirschen der Pelotons“ an. „Jeder normale Typ würde sagen, dass 100 Kilometer für eine Alleinfahrt viel zu weit sind. Aber ich denke, dass Tadej in diesem Jahr nicht mit normalen Maßstäben zu messen ist“, sagte Evenepoel durchaus bewundernd.
Für van der Poel hat die Ära seines Nachfolgers als Weltmeister sogar gerade erst begonnen: „Ich finde es schön, wenn der beste Fahrer Weltmeister wird. Er ist im Moment der beste Fahrer, also ist es gut, dass er das Weltmeister-Trikot trägt. Aber das ist der Anfang“, unkte der 29-jährige Niederländer bereits in Zürich über die kollektive Chancenlosigkeit der Konkurrenz, „Tadej ist stärker als jemals zuvor.“

Diese Erkenntnis hat inzwischen im Umfeld des zweimaligen Tour-Siegers Jonas Vingegaard für Unruhe gesorgt. „Jonas will immer der Beste sein, aber dafür muss er sich steigern“, meinte Sportdirektor Frans Maassen über seinen dänischen Schützling: Wenn Vingegaard auf dem gleichen Level wie in der auslaufenden Saison bliebe, „wird er Pogacar nicht mehr besiegen“.
Zumal Pogacars Ehrgeiz bis auf Weiteres groß bleiben dürfte. Nicht zuletzt auch aufgrund seines vergleichsweise niedrigen Alters kann sich der „Dominator“ noch reichlich Ziele setzen: Momentan ist seine Erfolgsliste zwar schon lang, aber längst noch nicht komplett.
Außerdem sind – aus Pogacars Sicht – noch einige Scharten auszuwetzen. Nach seinen Tour- und Giro-Triumphen darf als gesichert gelten, dass der Sohn eines Verkaufsleiters und einer Lehrerin auch bei der Spanien-Rundfahrt einen Platz in der Riege der Gewinner anstrebt. Seit dem dritten Platz bei seiner bisher einzigen Vuelta-Teilnahme vor fünf Jahren stand die dritte große Landesrundfahrt nicht mehr in Pogacars Kalender.
Seine Sammlung von Siegen bei den „Monumenten des Radsports“ ist ebenfalls noch nicht vollständig. Zwar hat Pogacar schon mehrfach die Lombardei-Rundfahrt sowie jeweils einmal Lüttich-Bastogne-Lüttich und die Flandern-Rundfahrt für sich entscheiden können, doch bei Mailand-Sanremo blieb auch sein vierter Anlauf im zurückliegenden Sommer auf Platz drei ohne den erhofften Erfolg. Beim berüchtigten Kopfsteinpflaster-Rennen Paris-Roubaix stand Pogacar noch gar nicht am Start.
Schließlich ist Olympia-Gold auch noch ein Ziel. Nach Bronze 2021 in Tokio und seinem Paris-Verzicht könnte die Zeit in vier Jahren in Los Angeles reif dafür sein.