Die international erfolgreichste deutsche Cellistin ist Raphaela Gromes. Ihre Alben schaffen es nicht nur an die Spitze der Klassik-Charts, sondern auch in die Pop-Top 30. Ihr neuestes Werk ist eine Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Nationalorchester.
Frau Gromes, voriges Jahr sind Sie nach Kiew gereist. Was bedeutet es den Ukrainern, dass Künstler aus dem Ausland bei ihnen auftreten?
Die Geste, dass Musiker aus dem Ausland zu ihnen kommen, um für sie zu spielen, bedeutet den Ukrainern unglaublich viel. Weil es so wenige gibt, die das gerade tun. Ich habe dort viel Dankbarkeit gespürt, was sehr berührend war. Nach dem Konzert hat mir eine Frau ihre Handschuhe geschenkt und ein Soldat sein Abzeichen.
Haben Sie sich im Vorfeld genau überlegt, welche Musik die Menschen dort gern hören würden?
Ich habe darüber mit dem Chefdirigenten und dem Orchesterintendanten gesprochen. Die sind gleich auf Dvořáks Cellokonzert gekommen. Weil es ein so berühmtes und gewichtiges Werk ist, das sowohl für das Cello als auch für das Orchester sehr anspruchsvoll ist. Darin ist die gesamte Bandbreite der Emotionen vertreten, von jugendlichem Überschwang und kämpferischem Elan bis hin zu Liebesschmerz, Verlust und Sehnsucht nach der Heimat. Bei dieser Musik fühlen sich die Menschen in der Ukraine in ihren eigenen Emotionen verstanden und bekommen Hoffnung und Trost. Auf dem Album sind neben dem Cellokonzert auch ukrainische Werke enthalten.
Von Yuri Shevchenko interpretieren Sie „We are!“ neu, eine Paraphrase der Nationalhymne. Der Komponist ist kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gestorben. Hat diese Hymne dadurch eine ganz neue Bedeutung bekommen?
Natürlich. Yuri Shevchenko hat die Nationalhymne 2014 bei der „Revolution der Würde“ auf dem Maidan gesungen und sich vorgestellt, wie schön es wäre, wenn sie als friedliches Gebet auf der ganzen Welt erklänge. Noch in der Nacht hat er diese Paraphrase geschrieben. Im Text heißt es: „Noch ist die Ukraine nicht gestorben“. Der tiefste Wunsch der Ukrainer ist eine bessere Zukunft und ein Leben in Freiheit. Und das Lied „Oj, u lusi tscherwona kalyna“ habe ich aufgenommen als Sinnbild für die Widerstandsfähigkeit und Stärke dieses Volkes. Es wird von allen gesungen, um die Armee anzufeuern. Das Lied ist viral gegangen in der Version von Pink Floyd.
Ist dieses Stück ein erstklassiges Beispiel dafür, was Musik bewirken kann?
Genauso ist es. Seitdem ich in Kiew war, verfolge ich die Kanäle, die einen auch warnen bei Bombenangriffen. Bei einem der letzten Bombardements waren Menschen im Luftschutzbunker und sangen gegen die Angst an. Kunst kann gar nicht zu hoch eingeschätzt werden. Meine CD beginnt mit dem sehr gewichtigen Dvořák-Konzert und tieftraurigen Gebeten von Valentin Silvestrov und Hanna Hawrylez und endet mit dem hoffungsvollen Lied „Oj, u lusi tscherwona kalyna“. Hawrylez ist übrigens infolge des Zusammenbruchs der Infrastruktur im März 2023 an Herzversagen gestorben.
Werden Sie die CD zusammen mit dem Nationalorchester auch in der Ukraine vorstellen?
Für Kiew machen wir vielleicht ein neues Projekt mit einem anderen Konzert. Derzeit ist keine langfristige Planung in der Ukraine möglich, weil gerade wieder besonders verschärft Bomben gefallen sind. Über das Schicksal der Männer im Orchester wird von der Regierung außerdem immer sehr kurzfristig entschieden. Bislang hatte das Kulturministerium erreicht, dass gerade junge Männer, die Wettbewerbe gewonnen haben, eine auf sechs Monate befristete Befreiung vom Militär bekommen. Ob sie verlängert werden kann, ist immer ungewiss. Es würde der Qualität des Orchesters extrem schaden, wenn diese Musiker eingezogen würden. Zum Glück dürfen die alle im November mit auf Tour kommen.
Wie gehen die wehrpflichtigen Musiker mit dieser Situation um?
Als wir die CD in Polen aufgenommen haben, war die Militärbefreiung immer ein großes Thema beim Abendessen. Manche spielten mit dem Gedanken, nicht in die Heimat zurückzukehren, die haben ja gar keine militärische Ausbildung. Das hundertprozentige Vertrauen in eine sinnvolle Strategie der Regierung ist nicht mehr da. Die Hoffnung, die man letztes Jahr noch gespürt hat, ist fast in Verzweiflung umgeschlagen. Viele haben mit Depressionen zu kämpfen und drücken ihren Schmerz und ihre Gram in der Musik auch aus. Das ist ein Grund, weshalb diese Aufnahme so berührend geworden ist.
Fällt es gerade männlichen ukrainischen Musikern schwer, auf eine derartige Ausnahmesituation ästhetisch zu reagieren?
Natürlich. Jeder ringt mit sich selbst, ob er nicht doch auch mitkämpfen soll, kann, darf oder muss. Alle Männer zwischen 18 und 60 müssen sich jetzt beim Militär melden und kämpfen, weil es nicht genug Freiwillige gibt. Diese riesige Mobilisierungsaktion wirkt teilweise richtig brutal, weil Männer auf der Straße eingezogen und an die Front gebracht werden, ohne sich überhaupt zuhause verabschieden zu können. Manche sind jedoch nicht mehr bereit, für die Ukraine zu sterben, und wollen lieber mit ihren Frauen und Kindern ihre Leben möglichst normal weiterführen. Aber auch das ist nicht möglich, wenn ständig Luftalarm ausgelöst wird. Es ist eine furchtbare Situation. Wir müssen auch auf die Toten schauen. Es sind einfach zu viele auf allen Seiten.
Wie verstehen Sie Ihr Engagement – möchten Sie die Ukraine moralisch unterstützen im Kampf gegen den russischen Terror?
Ich möchte den Ukrainern zeigen, dass wir hier ein offenes Herz für sie haben und sie sehr bewundern und unterstützen. Ich bin zutiefst davon beeindruckt, was dieses Volk getan hat, um sich zu wehren und seine Freiheit, Demokratie und Kultur zu retten. Was haben die Ukrainer an Aufopferungsbereitschaft, Größe und Stärke an den Tag gelegt, um sich gegen die russische Aggression zu wehren!
Warum hasst Putin die ukrainische Kultur so sehr?
Wenn man Ukrainer fragt, dann liegt es daran, dass sie so viel Lebensfreude haben. Sie besitzen Menschlichkeit und emotionale Tiefe, und damit könne Putin nicht umgehen, weil er diese positive Kraft nicht aushält. Widerstand stehe diametral entgegengesetzt zu seinem negativen Menschenbild der Unterwerfung. Der Einzelne sei für ihn nichts wert im Vergleich zum übermächtigen Staat. Die Menschen in der Ukraine gehen davon aus, dass Putin diesen letzten Funken ukrainischen Nationalstolz im Kern ersticken will.
Wie hat der Krieg die Kulturszene in der Ukraine verändert?
Die Künstler versuchen sich hartnäckig zu wehren und ihren Alltag möglichst aufrechtzuerhalten. Fast alle Konzerte, Theateraufführungen und Ausstellungen finden statt, allerdings unter dieser ständigen Bedrohung. Auch als ich in Kiew war, gab es Bombenalarm. Die Menschen dort haben gelernt, das nicht mehr so ernst zu nehmen. Sie sehen das als russischen Terror. Aber sie wollen nicht aufgeben und von daher gehen sie oft nicht in den Luftschutzbunker und leben ihren Alltag weiter.
Welches Erlebnis hat Sie besonders beeindruckt?
Ein Soldat kam nach meinem Konzert zu mir und sagte, das, was er täglich an der Front erlebe, sei so grausam, dass man fast die Menschlichkeit verliere und nur noch abstumpfe. Das ist das Gefährlichste für alle Seiten. Deswegen ist es ihm wichtig, an dienstfreien Tagen in Museen oder Konzerte zu gehen, um die Menschlichkeit wiederzufinden. Es war berührend für mich, zu merken, welche Kraft Musik hat. Sie ist Seelennahrung.