Über vier Jahrhunderte wurden Millionen Sklaven aus Westafrika in die Neue Welt verschleppt. In Gambia und im Senegal erinnern heute zwei Inseln an ihr Schicksal.
Ob sie ahnten, dass dieser Anblick das Ende der Freiheit bedeutete? Ob die Männer, Frauen und Kinder stumm auf ihr Schicksal zutrieben? Oder waren ihre Schreie bis zum fernen Flussufer zu hören? „Von diesem Eiland gab es kein Zurück“, sagt Lamin Trawally. Der Gambier begleitet eine Gruppe Touristen in einem bunten Nachen auf die Sklaveninsel Kunta Kinteh. Erbarmungslos brennt die Mittagssonne von einem fahlen Himmel, als der Kahn sich dem Inselchen nähert. Wie in Arnold Böcklins Gemälde „Die Toteninsel“ steht vorne ein Mann aufrecht im Nachen. Statt der Wipfel schwarzer Trauerzypressen überragen die kahlen Äste von mächtigen Baobab-Bäumen die Felswände des Eilands. In Wahrheit sind es keine Felsen, die sich hier schroff aus dem Gambia-Fluss erheben. Die Scharten im Gestein sind auch keine Felsengräber wie auf dem Gemälde des symbolistischen Malers. Es sind Fenster einer alten Festungsruine. Einst trug sie den deutschen Namen Jakobsfort.
Für Händler namenlose Nummern
„Es war ein Mann namens Jakob Kettler aus Kurland im heutigen Lettland, der das Fort im 17. Jahrhundert bauen ließ“, erklärt Trawally, als seine Gruppe auf die Flussinsel nahe der Mündung des gewaltigen Stroms zusteuert. Sein tomatenrotes Poloshirt mit dem hellblauen Logo der örtlichen Jugendorganisation steht in leuchtendem Kontrast zu dem flimmernden Flusswasser und dem bleichen Himmel darüber. Das fröhliche Gemüt des Reiseführers kontrastiert gleichfalls mit den dunklen Geschichten, die er den Touristen vorträgt. „Niemand weiß, wie viele auf der Insel starben, auf der Flucht ertranken oder von Krokodilen getötet wurden“, sagt der 50-jährige Lokalhistoriker.
Wie bedeutend das Fort bereits unter den Deutschbalten für den seinerzeit florierenden transatlantischen Sklavenhandel war, darüber gibt es nur wenige Überlieferungen. „Kettler erkannte das Eiland als strategisch günstig gelegen für den Warenhandel in die Neue Welt“, sagt Trawally. Das Herzogtum Kurland und Semgallen war das kleinste europäische Land, das im 17. Jahrhundert am Gambia-Fluss und auf Tobago in der Karibik Kolonien betrieb. Fest steht, dass die Engländer, die das kurze Kolonialabenteuer des Herzogs von Kurland in Gambia jäh beendeten, die Festung als Zwischenstation für Sklaven nutzten, die über den Gambia-Fluss in die Neue Welt verschleppt wurden. Sie nannten die Jakobsinsel von nun an James Island.
„Hier wurden die Männer von Frauen und Kindern getrennt“, sagt Trawally, als er seine Gruppe in die Ruine des Forts führt. Über Einzelschicksale weiß auch er nichts zu erzählen. Es gibt kaum Quellen darüber, woher genau die Menschen kamen, die man hier Tage oder Wochen festhielt, bevor sie im Bauch fremder Schiffe verschwanden – gefesselte Menschenbündel, gelagert wie Waren, die Afrika damals auf den Handelsschiffen der Europäer in eine andere Richtung verließen: Gold, Elfenbein und exotische Vögel. Für die Sklavenhändler waren die im Einzugsbereich des Flusses erbeuteten Menschen, die zur Zwangsarbeit auf Zuckerrohrfeldern, Baumwollplantagen und in Bergwerken in die aufstrebenden Kolonien gebracht wurden, namenlose Nummern.
Heute bleibt es den dunklen Mauern von Kunta Kinteh überlassen, ihre Geschichten zu erzählen. In einem unterirdischen Gewölbe, in das nur durch einen vergitterten Fensterschacht Licht fällt, sollen die stärksten Gefangenen eingekerkert worden sein. „Man hoffte, so eine Rebellion zu verhindern, indem man den Widerstand der Männer physisch und psychologisch brach“, sagt Trawally.
2011 wurde die Insel in Kunta Kinteh umbenannt. „Es sind gerade auch viele US-Amerikaner, die hierherkommen, weil sie diesen Ort von der Fernsehserie ‚Roots‘ kennen“, sagt Trawally. Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Alex Haley sorgte in den 70er-Jahren in den Vereinigten Staaten für Aufsehen. In teils drastischen Szenen erzählt sie das Schicksal eines vom Gambia-Fluss auf eine Plantage in Virginia verschleppten Jungen mit Namen Kunta Kinteh.
Sklaverei gab es schon früher
Die Unesco hat den 23. August zum Gedenktag an den Sklavenhandel und an seine Abschaffung bestimmt. Er wird vor allem in
Westafrika und einigen Ländern in Nord- und Südamerika sowie in der Karibik mit Veranstaltungen an historischen Orten begangen.Nach Schätzungen von Wissenschaftlern verschleppten ab Mitte des 15. Jahrhunderts europäische Sklavenhändler mehr als zwölf Millionen Menschen aus Afrika zunächst auf die portugiesischen und spanischen Inseln im Atlantik und schließlich vor allem in die Karibik, nach Nord- und Südamerika. Viele von ihnen überlebten die Überfahrt nicht. Auch nachdem die europäischen Kolonialmächte im 18. und 19. Jahrhundert nach und nach die Sklaverei abschafften, ging der illegale Menschenhandel teils noch Jahrzehnte weiter.
2003 erklärte die Unesco die Insel Kunta Kinteh zum Weltkulturerbe, als besondere Stätte, die an den transatlantischen Sklavenhandel erinnert. Bereits 1978 wurde die Insel Gorée, die der senegalesischen Hauptstadt Dakar vorgelagert ist, in die Welterbe-Liste aufgenommen. Während es auf dem Festland heute nur noch wenige sichtbare Spuren der Geschichte der Sklaverei gibt, haben die drei Inselchen ihr düsteres Erbe bis heute bewahrt.
„Es geht nicht darum, auf die Europäer und Amerikaner mit Fingern zu zeigen“, sagt Zack Gomez, der am Gambia-Fluss ausländische Touristen nach Kunta Kinteh und zu den am gegenüberliegenden Flussufer gelegenen Gedenkstätten von Juffureh und Albreda begleitet. „Bereits lange vor ihnen existierte die Sklaverei unter den Arabern und auch unter afrikanischen Stämmen“, sagt der gambische Tour-Guide. „Die Araber verbreiteten den Islam durch Sklaverei, die Europäer das Christentum. Selbst afrikanische Machthaber waren gegen ihre Abschaffung.“
Gerade hat Gomez seine Touristengruppe durch das chaotische Gewusel im Hafen von Barra geschleust, wo Autofähren und bunt bemalte, hoffnungslos überladene Langkähne zur Hauptstadt Banjul übersetzen. Um sie herum verkaufen fliegende Händler chinesische Armbanduhren und Mobiltelefone. Frauen in grell bedruckten Kleidern balancieren Bananenbündel, Erdnüsse und getrocknetes Kokosfleisch auf ihrem Kopf. Greise in wallenden Gewändern lassen die Perlen an ihren Gebetsketten durch ihre Finger gleiten.
Im kleinen Sklaverei-Museum von Juffureh, etwa 45 Autominuten von Barra, zeigt der 36-jährige Gambier seiner Gruppe rostige Ketten und Fußfesseln in staubigen Vitrinen. „Worauf es ankommt ist, dass die Welt diesen dunklen Teil ihrer Geschichte nicht vergisst“, sagt der 36-Jährige.
Auf der Suche nach eigenen Wurzeln
Die wohl bekannteste Insel, von der aus Sklaven nach Amerika verschleppt wurden, ist Gorée. Anders als Kunta Kinteh ist sie bis heute bewohnt. Wer mit der Fähre in weniger als einer halben Stunde von Dakar aus auf dem nur dreieinhalb Kilometer entfernten Eiland anlegt, findet sich in einer fast idyllischen Atmosphäre wieder. Urplötzlich sind der ewige Lärm, die überfüllten Straßen und der gehetzte Alltag der nahen Millionen-Metropole verschwunden. Mit ihnen scheinen auch die mannigfaltigen gegenwärtigen Probleme Westafrikas vergessen. Am Sandstrand neben der Fähranlegestelle baden jauchzende Kinder. Bunt bemalte Fischerboote dümpeln vor ockerroten und pastellfarbenen Häusern unter hochaufragenden Palmen. In den Gassen, die ins Inselinnere führen, wuchern Bougainvilleen, Oleander und Hibiskus in üppigem Pink, Purpur und Scharlach über bröckelnde Mauern. Im Schatten von Palastruinen suchen Widder mit langen gedrehten Hörnern nach Fressbarem. Katzen streichen um die farbenprächtigen Batikkleider der Souvenirverkäuferinnen.
Für die Dakarer ist Gorée ein Ausflugsziel, um der Hektik der Hauptstadt zu entfliehen. Die Touristen, die meist nur für ein paar Stunden eine von Senegals bekanntesten Sehenswürdigkeiten besuchen, kommen meist, um mehr über die Geschichte der Sklaveninsel zu erfahren. Im „Maison des Esclaves“, einem Gebäude aus dem 18. Jahrhundert in einer der historischen Gassen, herrscht dichter Andrang. Touristenschlangen schieben sich durch die engen Räume im Untergeschoss, wo einst Frauen, Männer und Kinder zusammengepfercht wie Vieh auf ihre Ausschiffung ins Unbekannte warteten. Bei einer US-Amerikanerin löst der Ort, an dem die „Tür ohne Wiederkehr“ einen Blick auf das Meer freigibt, der für die Gefangenen den endgültigen Verlust ihrer Heimat bedeutete, ein lautes Schluchzen aus.
„Unter den Besuchern sind viele Afroamerikaner, deren Vorfahren vielleicht von hier in die USA verschleppt wurden“, sagt Mamadou Sall. Er ist auf Gorée aufgewachsen und führt heute Touristen über die Insel. „Für sie ist es eine Rückkehr zu ihren Wurzeln.“ Die Jackson Five machten die Insel mit ihrem Besuch im Jahr 1974 in Nordamerika bekannt. Nach den Clintons, George W. und Laura Bush statteten auch die Obamas Gorée einen symbolischen Besuch ab. Nelson Mandela rührte der Ort zu Tränen. Papst Johannes Paul II. bat hier um Vergebung für das Verbrechen der Sklaverei.
Wie bedeutend die Insel tatsächlich für den transatlantischen Sklavenhandel war, ist heute unter Historikern umstritten. Viele gehen davon aus, dass die Hafenstadt Saint-Louis an der Mündung des Senegal-Flusses eine weitaus wichtigere Rolle spielte. „Die Insel ist und bleibt jedoch ein wichtiger Ort, der bis heute wie kein anderer die Geschichte der Sklaverei bezeugt“, sagt Sall. „Er muss auch für künftige Generationen seine Bedeutung bewahren.“