Die Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen wird seit Jahrzehnten immer nur bemängelt, aber das Übel wird nicht an der Wurzel gepackt. Ein Gastbeitrag von Prof. Heinz Günnewig und Romain Sahr von der Universität Luxemburg.
Vor Jahren war einem Bericht der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zur Lage der deutschen Sprache zu entnehmen, dass die Bildungsschere zwischen Kindern aus bildungsnahen und solchen aus bildungsfernen Schichten sich weiter öffnet.
Die Erkenntnisse zu diesem maroden Zustand sind steinalt. Vorwissen in Sachen Sprachentwicklung bei Kindern (Clara und William Stern, Friedrich Kainz, Els Oksaar) wird aber nicht wahrgenommen, stattdessen werden Scheinwahrheiten zugrunde gelegt, Initiativen in Forschungsbereichen fortwährend angekündigt. Nun bemerkte zur aktuellen Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) „Die Zeit“ im Oktober vergangenen Jahres, dass in Deutsch „ein historischer Tiefpunkt“ erreicht sei.
Seit über 20 Jahren hat Pisa die Aufmerksamkeit auf die Schlüsselfunktion Lesen gelenkt. Seither werden Kinder und Jugendliche im Drei-Jahres-Rhythmus europaweit den Pisa-Tests der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) unterzogen.
„Mit jeder neuen Schulleistungsstudie wurde verschärft auf zu ergreifende Maßnahmen verwiesen und doch seien die gemessenen Leseleistungen parallel zu den Entwicklungen in Familien, Bildungsinstitutionen, Gesellschaft und Schriftkultur gesunken“, konstatiert 2020 Cornelia Rosebrock.
„Lesen als Modus des selbstständigen Zugangs zur Welt“
Pisa hat blind und beschränkt gemacht. Eine schlüssige fundamentale Antwort auf die Frage „Wozu lesen?“ wurde vor lauter Fixierung auf die alle Konzentration aufbrauchenden Lesekompetenztests nicht ins Auge gefasst. Die von Experten der Ökonomie übermittelten Standards drückten eine Diskussion, in der es um Lese-Neugier, Lese-Freude, Lesen-Wollen, ja, um die intimen Seiten des Lesens hätte gehen müssen, die Luft ab. Das, worum es beim Lesen eigentlich geht, „Lesen als Modus des selbstständigen Zugangs zur Welt“ wurde völlig aus den Augen verloren.
Und nun sind neue Forderungen das Gebot der Stunde, neue Schuldige werden gesucht und gefunden. Der Ober-Verantwortliche für die Pisa-Tests, Dr. Andreas Schleicher, ruft auf zu neuen Gefechten, verordnet der Schule die Förderung von Kreativität, Entrepreneurship und Kollaboration und verabschiedet sich aus der Pisa-Verantwortung. Die Lehrerverbände fordern erneut kleinere Klassen, mehr Lehrpersonen, Förderung sozial benachteiligter und Migranten-Kinder, um den rapiden Niedergang in den grundlegenden Fähigkeiten zu bremsen. Wissenschaftler fordern erneut, „weil wir so wenig über Kita-Qualität wissen“, eine Neuauflage der Nubbek-Studie, in der es schon 2012 hieß, „die pädagogische Qualität“ müsse verbessert werden.
Grob zusammengefasst: Über 20 Jahre das gleichlautende Lamento aus den gesellschaftlich relevanten Kreisen, parallel dazu Forderungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, deren Vorschläge sich wiederum nur in zeitaufwendigen „Sprachstandsuntersuchungen“ durch Vermessungen in Kitas und Grundschulen erschöpfen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Jena haben schon vor Jahren eine „alltagsintegrierte Sprachbildung“ statt formaler Programme gefordert. Bedarf es dazu jetzt einer neuen Initiative „Bildung und Betreuung“, wie sie in der „Saarbrücker Zeitung“ im Juni 2023 verkündet wurde?
Ebenso viele Jahre vorher hatte die OECD eine Neuausrichtung der Bildungsausgaben zugunsten der Kinder unter drei Lebensjahren gefordert. Defizite, die sich in den ersten Lebensjahren ergäben, würden „niemals“ aufzuholen sein. Christine Brink hat schon 2013 auf die Betreuung durch Familienhebammen beziehungsweise Familienbesucherinnen verwiesen, weil es Eltern gäbe, die sich ihren Kindern nicht zuwendeten.
Inwieweit einfachste Alltäglichkeiten in die Aufmerksamkeit von sehr jungen Kindern gerückt werden könnten, sollten Alleinerziehende, Vollzeitbeschäftigte, Ball-Begeisterte, Outfit-Egozentriker, Handy-Dauerscroller und noch andere für Bildung und Betreuung von abhängigen Kleinkindern Verantwortliche in ihren Möglichkeiten der Zuwendung suchen: Kastanien sammeln, Kürbis aushöhlen, Herbstlaub aufwirbeln, durch Pfützen hüpfen, Grashalme sortieren. Kindergärtnerinnen und Kindergärtner und die Agilen in der Grundschule bewegen solche Aktivitäten zur freudvollen Geistesentwicklung von jungen Kindern.
In einem Interview im Juli 2023 mit Yvonne Anders, Professorin für frühkindliche Bildung und Erziehung an der Universität Bamberg, weist die Expertin darauf hin, dass „mehr Personal und mehr Zeit“ nicht ausreichten. Sie fordert eine „sehr gute Ausbildung und ständige Fort- und Weiterbildung“, was die renommierte Kognitionspsychologin Elsbeth Stern (ETH Zürich) und der Kognitionspsychologe Aljoscha Neubauer (Universität Graz) vor zehn Jahren heftig angemahnt hatten. „Die Kinder so früh wie möglich stützen“, sagt nun Anders; man müsse „Eltern Tipps geben“, nicht nur zwischen Tür und Angel.
Zu einem „strukturierten Ansatz“ gehörten dann vor allem Reime und Lieder, um „phonologische Bewusstheit“ für das Lesenlernen zu erreichen. Damit hat Anders eine entscheidende Kreuzung genannt, auf der entschieden wird, ob sich Kinder freudvoll in Sprache bewegen, um auf solchen Fundamenten den Trip in die Schriftsprache (Texte) bewältigen zu können.
„Die Kinder so früh wie möglich stützen“
Es gibt noch eine Ampel-Anlage für Sprachentwicklung in früher Kindheit, die zuvor aufleuchtet. Kinder lernen Sprache vom ersten Atemzug an. Situationen (auf dem Wickeltisch, im Kinderwagen, im Laufställchen) gehen einher mit dem, was junge Kinder – da noch unbelastet – am besten können: schauen, hören, riechen, schmecken, fühlen. Bevor der Lautklumpen „Opa“ oder so ähnlich den kindlichen Mund verlässt, hat es ihn, den älteren Mann, schon gerochen (Zigarre), gefühlt (Bart), gehört (dröhnend), gesehen (mächtig), geschmeckt (igitt). Die fünf Sinne sind das Netz, in das ein von uns sogenanntes „Wort“ eingehängt wird. Ohne Einsatz der Sinne gibt es keine Erkenntnis; das hat Leonardo da Vinci vor Jahrhunderten gesagt.
Der Einsatz der Sinne gilt auch für alle weiteren Situationen, in denen wirkliche Wirklichkeit von jungen, sehr jungen Kindern erfasst und nach und nach mit einem Wort bestückt wird: Schneeglöckchen, Katze, Puppe, Blätter, Socken, Kürbis, Buch. Zu den Sinneserfahrungen und den gesprochenen Worten kommt noch eine Botschaft hinzu. Der Ton, der Gesichtsausdruck, die Körperhaltung, die Handbewegung des Erwachsenen geben schon dem Säugling „eine Botschaft“ mit, wie die Erfahrung bewertet wird (bitter, gefährlich, erfreulich). Nur die sinnlich wahrgenommene Welt ist Fundament zum Aufstieg in die Welt der Ideen.
Hebammen und Kinderärzte und Kinderärztinnen haben eine hohe Verantwortung, Schwangere (und deren Begleiter) auf ihre Aufgaben, wenn es um Sprachentwicklung geht, vorzubereiten. Neugeborene signalisieren durch ihre Strampeleien, Gesabber, Spuckebläschen ihr soziales Kontaktbedürfnis und erwarten „Rück-Antworten“. Wie sollen junge Kinder merken, dass sie von Bedeutung sind, wenn ihnen nicht in die Augen gesehen wird?
Die Verantwortung, dass junge Kinder ihre Sinneserfahrungen an der wirklichen Wirklichkeit schärfen, kann eben nicht an digitale Geräte abgegeben werden. Der Erscheinung einer Katze, einer Puppe, eines Kürbisses auf einem Bildschirmchen fehlt die Erfahrung diese zu riechen, zu hören, zu fühlen, zu schmecken, ja sogar tief zu sehen.
Elektronische Medien in den Händen von Dreijährigen zerhacken deren Aufmerksamkeit und verseuchen Milliarden von Neuronen, die die Sinneserfahrungen verarbeiten. Auf die Verwahrlosung der Stirnlappen haben Yuval Noah Harari, Bert te Wildt, Maryanne Wolf und andere eindringlich hingewiesen.
Maryanne Wolf, Professorin für frühkindliche Entwicklung, Kognitions- und Literaturwissenschaft von der California University Los Angeles hat in ihrem Buch „Schnelles Lesen, langsames Lesen“ geschrieben, dass die digitale Welt Jagd auf die Aufmerksamkeit junger Kinder macht. Sie schreibt von einem Grashüpfergeist, der permanent von einem schillernden Geist zum nächsten springt und springt und springt, was fatale Folgen für die kindliche Gehirnentwicklung hätte. Alle Neuropsychologen und Neuropsychologinnen sind sich einig, dass die digitalen Zerstreuungen ein Desaster auslösen werden.
Wer als Erwachsener sein Gesicht für die Wahrnehmung durch ein Kleinkind durch ein schwarzes und glitzerndes Viereckkästchen zum größten Teil unerkennbar macht, zeigt dem brabbelnden Dialogsucher, wie unbedeutend das junge Menschenwesen ist.
Weiterbildung und Fürsorge
Am 5. Dezember 2023, heißt es in der neuesten Pisa-Studie: Deutsche Schüler schneiden so schlecht ab wie nie zuvor. Corona sei auch schuld; frühe Sprachförderung sei nicht sichergestellt, so Bildungsforscherin Prof. Dr. Doris Lewalter von der TU München. Und zum ersten Mal taucht innerhalb der Kopfschüttelei, dem Erschrecken über die miserablen Befunde zur Lesefähigkeit von Kindern und Jugendlichen und dem fantasielosen Herumstochern nach dem Niedergang von Bildung das Wort „Literatur“ auf, genannt von Cornelia Rosebrock, Professorin an der Johann-Wolfgang von Goethe Universität Frankfurt. Sie sieht die Nichtbeachtung von Literatur, Jürgen Kaube in der „Frankfurter Allgemeinen“ mangelnde Kenntnisse in Literatur als Ursachen der gesamten Pleite an.
Rosebrock und Kaube drücken den Finger in die morsche, morastige Stelle, in der Einflussnehmer und Einflussnehmerinnen der Gesellschaft herumblubbern: Sie verweisen auf Personen, die die Verantwortung und die Zuwendung für ihr Kind zugunsten eigener Belustigungen schleifen lassen.
die in Bildungseinrichtungen, wie Nabokov vor geraumer Zeit schrieb, über Literatur nur sprechen und Studierende anweisen zu lesen, jedoch selbst ohne Buch bei Studierenden „mitnehmende Aufmerksamkeit“, wie Jerome Bruner nahelegte, vermissen lassen.
die am bundesweiten einzigen Vorlesetag im November, öffentlichkeitsinteressiert, Kindern miserabel vorlesen: viel zu schnell, theatralisch selbstbezogen.
die in universitären Einrichtungen wiederholt „Lesekompetenztests“ fordern, die sie selbst konzipieren, statistisch auswerten, aber sich kreativer ermunternder Aktivitäten enthalten.
in der alltäglichen Schulpraxis: die sich seit Jahren, wenn nicht sogar seit Jahrzehnten einer Frischzellenkur in Kinder und Jugendliteratur versagen; Kipling, Lindgren, Maar genügen nicht; es müssten auch Stefanie Höfler, Frida Nilsson und Lauren Wolk sein.
die in universitären Nischen bedenkenlos, marktorientiert in Verbindung zur technologischen Industrie zum eigenen Nutzen die digitalen Wege ebnen.
Der frühkindlichen Bildung wäre förderlich, wenn Eltern mit Summen und Singen dem Säugling auf dem Wickeltisch den Weg der freudvollen Zuwendung zur Sprache ebnen.
Kita-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen in der Pädagogik des frühen Kindesalters umfassend und bestens gebildet werden.
Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen praxisnahe Initiativen anregen und auf Inszenierungen und Sprachstandsmessungen verzichten; etwas Vitaleres ausdenken als unsägliche Lesewettbewerbe.
Verantwortliche, die mittels Tests Kindern und Jugendlichen wieder mal Defizite aufs Auge drücken, sich zügeln und sich heftig für die Sensibilisierung zur Literatur engagieren und auf die heilenden Kräfte von Literatur mehr als nur hinweisen.
elektronische Gerätschaften (Handys und Tablets) bis zum Alter von (mindestens) zehn Jahren aus dem „Fokus“ geschoben werden, wie es das Bildungsministerium von Schweden beschlossen hat.
Das Ausmaß des Bildungsdesasters ist Ausdruck eines umfassenden pädagogischen Problems, was in allen Zeitungen deutlich formuliert wurde. Beschleunigung durch enthemmte Digitalisierung, aufgeladen mit Dauer-Emotionalisierung, zerbricht in einer malmenden Unterströmung der Bildung junger Kinder. Nötig ist Fürsorge, Aufmerksamkeit, Sicherheit und vor allem Interesse an der Bildung junger Menschenwesen.