Johannes M. sitzt in einem deutschen Gefängnis. Rund vier Jahre, davon zwei im Maßregelvollzug. FORUM hat ihn auf einem Teil dieses Wegs begleitet.
Beklemmend. Das beschreibt meine Gefühlslage wohl am besten, als ich vor dem klobig in die Höhe ragenden grauen Steinbau stehe. Auf den Mauern ringelt sich Stacheldraht wie eine Schlange, unter ihm die Sicherheitskameras, die jeden Winkel einfangen. Ich war bereits ein paarmal hier in der Justizvollzugsanstalt, und dennoch weicht das unangenehm kalte Gefühl nicht von meiner Seite.
„So schlimm ist es gar nicht“, hatte Johannes M. (*Name von der Redaktion geändert) mir bei einem meiner ersten Besuche gesagt. Und auch heute – nachdem ich den Sicherheitscheck durchlaufen und in der Besucherhalle Platz genommen habe – lächelt er mir über die halbhohe Plexiglasscheibe zu. „Ich darf endlich arbeiten“, freut er sich. Das durfte der Mittvierziger während seiner Untersuchungshaft nicht. Zu dieser Zeit wurden unsere Gespräche auch von einer Polizeibeamtin beobachtet, die sich akribisch genau Notizen machte. Über die damals noch laufende Verhandlung zu sprechen, war tabu. „Ich sortiere jetzt Schrauben“, sagt der gelernte Tischler. Mit seinem ursprünglichen Job in der Tischlerei hat das bislang wenig zu tun, aber es beruhige ihn, „etwas Sinnvolles“ zu tun. Das hat er in seinen letzten Jahren in Freiheit nicht.
Geregelter Tagesablauf
Johannes geriet unter starkem Alkoholeinfluss in eine Streitigkeit auf offener Straße und verletzte dabei sein Gegenüber mit einem Messer. „In der Zeit bis zur Verhandlung konnte ich viel nachdenken“, erinnert er sich. Fast sechs Monate wartete er bis zum Verhandlungsauftakt. „In der U-Haft kannst du dich ja mit nichts ablenken“, sagt er. So habe die JVA zwar ein großes Angebot an Freizeitgestaltungsmöglichkeiten, die durfte er aber in U-Haft nicht nutzen. Eine Maßnahme, die, so teilt es das für seine JVA zuständige Landesministerium mit, „darauf abzielt, das laufende Verfahren nicht zu gefährden.“
Nun aber ist die Verhandlung zu Ende. Drei Jahre und acht Monate soll Johannes absitzen, davon zwei Jahre eine Therapie in der sogenannten Maßregel, also der forensischen Psychiatrie, machen. „Keine Ahnung, wann ich da hinkomme“, erzählt er. „Hier sitzen Leute die warten schon Monate darauf.“ In der Tat, der Maßregelvollzug in Deutschland platzt aus allen Nähten. Im vergangenen Jahr waren mehr als 13.000 Menschen in einer der 78 Einrichtungen des Maßregelvollzugs in Deutschland untergebracht. Planbetten gibt es allerdings nur rund 11.000. Damit befasste sich auch der Bundestag und stimmte über eine Reform des Paragrafen 64 im Strafgesetzbuch ab, der die Unterbringung von Suchtkranken in der Therapie regelt. „Wir schärfen den Begriff der Abhängigkeitserkrankung, und wir verhindern Fehlanreize“, hatte die SPD-Abgeordnete Heike Engelhardt damals erklärt. Unter anderem Fehleinweisungen von Personen, die gar nicht abhängigkeitskrank sind oder die sich in der Therapie im Maßregelvollzug ein ‚Gefängnis light‘ erhoffen, seien maßgeblich für die Überbelegung verantwortlich. Der Bundestag einigte sich auf die Reform, wirkliche Besserung ist aber bislang nicht erkennbar.
Auf den Beinen ist Johannes bereits seit 6 Uhr in der Früh. „Da werden die Zellen aufgeschlossen“, sagt er. Ab 6.40 Uhr geht es dann zur Arbeit bis 14.40 Uhr. „Dann habe ich etwas Freizeit“, erzählt er. Jedem Gefangenen steht eine Stunde Freibewegung am Tag zu. „Danach gibt es Abendessen, und ich darf noch ein wenig Sport machen“, so Johannes. Ab 21.30 Uhr werden die Zellen wieder verschlossen und die Nachtruhe beginnt.
Ein Fernseher steht ihm zwar auch auf dem Zimmer zur Verfügung – fünf Kanäle kostenfrei, weitere für 16 Euro im Monat – aber am liebsten schaut er gemeinsam mit anderen Häftlingen im Aufenthaltsraum. „Ich bin ein geselliger Mensch“, begründet Johannes. „Du bist hier so oft mit deinen Gedanken alleine, da musst du jede Minute nutzen.“ Einen Zimmermitbewohner hat er zwar, aber „wirklich warm“ seien sie bisher miteinander nicht geworden.
Wenn Johannes etwas kaufen will, so kann er das per Bestellung tun. Der Gefängniskiosk bietet Produkte des täglichen Bedarfs wie Wasserkocher, Snacks oder Zigaretten, aber auch Unterhaltungsmedien wie DVDs oder Zeitungen. Alkohol gibt es natürlich keinen. Der fehle ihm auch nicht wirklich. „Ich mag das Gefühl, klar im Kopf zu sein“, sagt er schon fast nachdenklich. In den Gruppentherapiesitzungen, die die JVA anbietet, sei ihm mittlerweile schon so einiges bewusst geworden. „Das ist für mich hier auch die Chance, den Reset-Knopf zu drücken.“ Viele private Rückschläge hatten ihn zum Alkohol und schließlich auch zu härteren Drogen geführt. Wann er „draußen“ das letzte Mal einen Tag ohne Alkohol verbracht hat, kann Johannes gar nicht mehr sagen.
Als wir uns an diesem Tag nach der Stunde Besuchszeit verabschieden – jedem Häftling stehen in dieser Einrichtung pro Monat zweimal eine Stunde Besuch zu – wissen wir beide noch nicht, dass es der letzte Besuch in der JVA gewesen sein sollte. Es sind mittlerweile einige Monate vergangen, als mich ein Anruf aus dem Maßregelvollzug erreicht. Während in der JVA der Besucher dafür verantwortlich ist, die Besuche zu vereinbaren, ist es in der Maßregel nun Aufgabe des Häftlings, die Termine auszumachen. Wir verabreden uns zu einem der Besuchstermine am Wochenende. Die Sicherheitskontrolle fällt deutlich lockerer aus und statt von einer Scheibe getrennt treffen wir uns bereits im Flur der Station. „Wir setzen uns in den Speisesaal“, grüßt Johannes mich und sieht meiner Meinung nach besser aus als in der JVA. Befreiter. „Hier ist alles etwas lockerer“, erzählt er mir sogleich. Aber mit der Lockerung kommt auch Eigenverantwortung: „Ich habe morgens eine Therapiestunde. Wenn ich die verpasse, bin ich selbst schuld“, sagt er. Einen „Weck- und Abholservice“, wie er sagt, gäbe es hier nicht mehr.
Eigenverantwortung und Therapie
Einmal in der Woche hat er eine Einzeltherapiestunde. „Wir machen gerade Biografiearbeit“, erzählt Johannes. „Das ist schon seltsam, so über sein Leben nachzudenken.“ Seine Therapeutin und er wollen somit erarbeiten, an welchem Punkt in seinem Leben der „Knackpunkt“ saß und wie er in Zukunft mit Triggern umgehen muss. „Hier sind einige, die das gar nicht so ernst nehmen“, sagt er. „Die kommen in der Regel hier raus und sitzen wenig später doch wieder hier drin.“ Das möchte Johannes auf keinen Fall, schon allein wegen seines Sohnes. „Wir telefonieren, so oft es geht. Sobald ich alleine hier raus darf, will er mich auch besuchen“, erzählt er. Hier drin möchte Johannes das nicht. „Ich will nicht, dass mein Kind mich eingesperrt sehen muss“, begründet er. In wenigen Wochen soll es losgehen mit begleitetem Ausgang. Dann soll ein Pfleger mit ihm über das Klinikgelände spazieren, später in einem nahe gelegenen Discounter einkaufen gehen. „Wenn da alles gut läuft und ich in der Therapie mitarbeite, darf ich das auch alleine“, sagt er.
Das dauert auch nicht lange. Es ist Spätsommer, als Johannes mich anruft, um sich mit mir auf einen Spaziergang zu verabreden. Wir sitzen auf einer Sitzgruppe aus Holz, direkt vor den Türen der Klinik, und unterhalten uns. „Die Bänke hab’ ich selbst gebaut“, erzählt er. Auch in der Maßregel hat er die Möglichkeit, in der Arbeitstherapie zu arbeiten. Mittlerweile darf er für eine Stunde allein auf dem Klinikgelände spazierengehen. Sein Sohn war auch schon das erste Mal hier. Das alles läuft auf Vertrauensbasis, eine elektronische Sicherung oder ähnliches trägt Johannes bei seinen Spaziergängen nicht. „Nächsten Monat darf ich dann das Klinikgelände verlassen und dann wird es immer lockerer“, erzählt er. Die nächsten Schritte beinhalten den Umzug in ein anderes Gebäude, das ihm erlaubt, den ganzen Tag frei unterwegs zu sein. Dann soll er auch auf die Suche nach einer Arbeit und einer neuen Wohnung gehen. „Wenn ich das gefunden habe, darf ich ausziehen und muss nur noch zu den Drogentests und ambulanter Therapie kommen“, sagt er. Eine Wohnung hat er schon in Aussicht, nur der Job sei herausfordernd: „Nicht jeder Betrieb will einen Ex-Knacki“, sagt er.
Aufgeben will er aber auf gar keinen Fall. „Ich weiß, dass ich nie wieder hierhin möchte“, sagt er mit Entschlossenheit. In der Arbeitstherapie beispielsweise habe er auch mit Menschen zu tun, die teils schwerste Verbrechen begangen haben. „Dann stehst du da neben jemandem, der Kinder missbraucht hat. Das willst du nicht“, sagt er nachdenklich. „Du erlebst hier drin Schicksale, die schrecken dich ab. So willst du nicht werden.“ Je näher das Ende seiner Zeit hier rückt, desto ungeduldiger werde er. „Ich freue mich, wieder auf eigenen Beinen zu stehen“, sagt Johannes. „Ganz ehrlich: Wenn du schon eine zweite Chance bekommst, wärst du ein Idiot, die nicht zu nutzen.“