Neben seinem befreundeten Rivalen Pablo Picasso gilt der vor 70 Jahren verstorbene Henri Matisse als bedeutendster Vertreter der klassischen Moderne. Mit seinem künstlerischen Schaffenswerk spannte er einen weiten Bogen vom farbkräftigen Fauvismus bis hin zu Scherenschnitt-Collagen.
Mit ihrer „Matisse-Picasso“ betitelten Ausstellung hatte die Pariser „Galerie Guillaume“ 1918 erstmals die beiden Giganten der Klassischen Moderne mit ihren seinerzeit als herausragend avantgardistisch geltenden Schöpfungen in einer gemeinsamen Werkschau präsentiert. Auch wenn man sich schon damals durchaus die berechtigte Frage hätte stellen können, warum ausgerechnet die in ihrer stilistischen Ausrichtung so unterschiedlichen Künstler Henri Matisse und Pablo Picasso, die beiden größten Maler und Bildhauer des 20. Jahrhunderts, auf die gleiche Bühne gehievt wurden.
Dabei hatte schon Matisse selbst sein Werk im Vergleich zum Oeuvre Picassos als grundverschieden eingestuft, „so verschieden der Nordpol vom Südpol ist“. Ein größerer Kontrast wie zwischen den etwa zeitgleich 1906 beziehungsweise 1907 präsentierten Gemälden „Le bonheur de vivre“ von Matisse, einem vor Lebensfreude geradezu sprühenden Frühwerk, und dem dem Kubismus schon vorgreifenden Oeuvre „Les Desmoiselles d’Avignon“ von Picasso ist kaum vorstellbar. Wobei beide Bilder als Säulen der frühen Moderne eingestuft werden.
Rivalität in Freundschaft
Während Picasso seinen Stil ständig zu wechseln verstand, führte bei Matisse eine konstante Entwicklung von seiner Frühzeit bis zu den Scherenschnitt-Bildern des Spätwerks. Das lässt sich ganz prägnant an Matisses Umsetzung des Tanz-Motivs belegen, das neben den sogenannten Odalisken oder Haremsdamen und der Musik zu den Lieblingssujets des Künstlers zählte. Zwischen den beiden Versionen mit dem Titel „Der Tanz“ von 1909/1910 und dem viel späteren gleich titulierten Auftragswandgemälde für den US-Kunstsammler Albert C. Barnes von 1933 gab es trotz figürlicher Vereinfachungen und der Verarbeitung ausgeschnittener Teile aus farbigem Papier bei Letzterem doch noch viele Übereinstimmungen in der Komposition.
Während Picasso das dissonante Bild bevorzugte, setzte Matisse auf bildliche Harmonie. Wobei sich die beiden Heroen in der Verehrung des späten Paul Cézanne und in der Abgrenzung zur abstrakten Malerei einig waren. Im Unterschied zu Picasso lässt sich das Lebenswerk von Matisse nicht in eine Abfolge stilistisch streng unterscheidbarer Schaffensperioden unterteilen. Lediglich in der Auswahl der Bildmotive oder der präferierten Farben sowie in der Adaption von afrikanisch-islamischer Ornamentik ist ein gelegentlicher Wechsel festzustellen. Der zwölf Jahre ältere Matisse und Picasso, die sich 1906 kennengelernt hatten, pflegten lebenslang ein freundschaftliches, von Rivalität und gegenseitiger Wertschätzung geprägtes Verhältnis. Wobei der Spanier seinen französischen Kollegen als einzigen lebenden Künstler neben sich gelten ließ.
Mit der skandalträchtigen Ausstellung „Salon d’Automne“, die im Herbst 1905 im Pariser Grand Palais stattfand, katapultierte sich Henri Matisse als Hauptprotagonist einer neuen Kunstrichtung namens Fauvismus nicht nur an die Spitze der künstlerischen Trendsetter, sondern legte sogar den Grundstein zur ersten artistischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Vor allem sein Porträt „Frau mit Hut“ wurde zum Gegenstand vernichtender Kritik und unverblümter Häme unter dem Schimpfwort „Fauves“ (sinngemäß: „Wilde Bestien“).
Matisse war auf der Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen „jenseits des naturgetreuen Abklatsches“, wie er es selbst einmal formuliert hat, und in bewusster Abwendung von malerischen Konventionen, die eine Naturähnlichkeit in der Kunst verlangten. So hatte er innerhalb eines Jahres einen geradezu gewaltigen Schritt vom noch dem Postimpressionismus und dem Stil eines Paul Signac verpflichteten Gemälde „Luxe, calme et volupté“ von 1904 hin zu einer gänzlich revolutionären Malweise vollzogen.
„Vereinfacher der Malerei“
Inspiriert von Gemälden Paul Gauguins und Vincent van Goghs wagte er im Frühjahr 1905 bei einem Aufenthalt im Fischerdorf Collioure am Mittelmeer gemeinsam mit seinem Kollegen André Derain den großen Wurf. Unter komplettem Verzicht auf eine realitätsnahe Darstellung der Wirklichkeit, auf Licht- und Schattenmodellierungen, auf plastische Dreidimensionalität oder die Zentralperspektive wurden Formen und Inhalte extrem reduziert und vereinfacht sowie dem Diktat eines großflächigen, ungemischt grellen Farbauftrags unterworfen. Als „Meister der Farbe und Vereinfacher der Malerei“ pries ihn denn auch der „Deutschlandfunk Kultur“ zum 150. Geburtstag.
Laut der „Süddeutschen Zeitung“ hatte Matisse bewiesen, „wie man den Raum in Farben auflöst“ und hatte damit „die Gestaltungsprinzipien neu durchdacht“. Matisse habe „sich mit der Auflösung des Raums in Farbmuster ein Medium geschaffen, das unendlich viele spielerische Varianten zuließ und seinem Ideal einer ‚Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit und der Ruhe‘ auf fast schon ideale Weise nahekam. Für die Kunstgeschichte aber war die Beseitigung der Tiefenillusion und die Reduzierung des Raums auf farbige Muster ein ähnlich revolutionärer Akt wie das Zerhacken und Neuverkleben der Gegenstände bei den Kubisten. Um in seinen bunten Farbfeldern aber dennoch Körper von einiger Sinnlichkeit zu beschwören, musste Matisse das flächige Farbgeschehen, wie er selber sagte, ‚linearisieren‘, also mit Linien strukturieren. So bekam die das Körperliche definierende Umrisslinie neben der Farbfläche zentrale Bedeutung.“
Auch wenn der Fauvismus selbst schon nach 1908 von der Pariser Bildfläche verschwunden war, blieb Matisse seinen Grundprinzipien treu und liebäugelte nur ganz kurz mit dem Kubismus. Neben seinem malerischen Opus setzte Matisse auf den Spuren seines Vorbilds Auguste Rodin auch in seinem mit rund 80 Werken recht überschaubaren bildhauerischen Wirken neue Maßstäbe. Wobei er hier allerdings dem dreidimensional Plastischen verpflichtet blieb und besonders mit den vier Reliefs weiblicher „Rückenakte“, die zwischen 1910 und 1930 entstanden, neben seinen Versionen eines „Liegenden Akts“ seine größten Meisterwerke schuf.
Auch mit dem Zeichenstift wusste er meisterlich umzugehen. „Seine mit verblüffend wenigen schwarzen Umrisslinien aus dem weißen Zeichenpapier herausmodellierten weiblichen Akte gehören zum Sinnlichsten, was in der Geschichte der Zeichenkunst geschaffen worden ist“, schrieb die „SZ“. Ebenfalls gefragt war Matisse als Buchillustrator. Zudem publizierte er 1908 als erster der großen Künstler seiner Epoche eine kunsttheoretische Abhandlung mit dem Titel „Notizen eines Malers“.
Erst mit 21 Jahren zur Malerei
Nicht zuletzt führte er zwischen 1908 und 1911 in Paris auch eine eigene Malschule namens „Académie Matisse“.
Dabei hatte der am 31. Dezember 1869 im nordfranzösischen Provinznest Le Cateau-Cambrésis geborene Henri Emile Benoît Matisse mit Kunst bis zu seinem 21. Lebensjahr nichts am Hut. Eigentlich hatte er die väterlichen Betriebe, eine Drogerie und Samenhandlung, in seinem Heimatort Bohain-en-Vermandoie übernehmen sollen, sich dann aber für eine juristische Kurzausbildung in Paris entschieden. Seine erste Stelle als Anwaltsgehilfe in Saint-Quentin fand er unglaublich langweilig. Er beschäftigte sich daher mit einem Malkasten, den ihm seine Mutter zur Zerstreuung geschenkt hatte, als er infolge einer Blinddarmoperation ein Jahr lang das Bett hüten musste. So nahm er eine berufliche Neuorientierung vor.
Er kehrte nach Paris zurück und absolvierte dort eine fundierte künstlerische Ausbildung bei verschiedenen Akademien und Meistern. Er beschäftigte sich mit dem Kopieren berühmter Louvre-Gemälde, aus deren anschließendem Verkauf er ebenso wie durch seine Tätigkeit als Dekorationsmaler etwas Geld verdiente. Und mit dem Studium der angesagtesten Kunstrichtungen wie dem Neoimpressionismus.
Von Darm-OP nie richtig erholt
Es waren finanziell harte Zeiten. Die Einkünfte aus dem Modistengeschäft seiner Frau Amélie Noellie Paraye, die er 1898 geheiratet und mit der er zwei Kinder hatte, reichten für das Einkommen des zusätzlich noch mit einer außerehelichen Tochter erweiterten Familienverbunds kaum aus. Erst dank der Unterstützung durch das Geschwisterpaar Stein, das sein Werk „Le bonheur de vivre“ 1906 für seinen Pariser Salon gekauft hatte, und nach dem Auftrag des russischen Kunstmäzens Sergei Schtschukin für die beiden großen Gemälde „Der Tanz“ und „Die Musik“ 1909 konnte Matisse endlich durchatmen und ein Haus im Pariser Vorort Issy-les-Moulineaux erwerben.
Erste Ausstellungen sorgten dafür, dass Matisse schon vor seinem Umzug 1916 nach Nizza und ins direkte Umland, wohin er seinen Lebensmittelpunkt bis zu seinem Tod im Alter von knapp 85 Jahren am 3. November 1954 infolge eines Herzanfalls verlegt hatte, international stetig an Popularität gewann.
Von einer schweren Darmoperation 1941 und den darauf folgenden Erkrankungen erholte er sich gesundheitlich nicht mehr restlos. Das Malen im Stehen war ihm danach nicht mehr möglich. Daher wandte er sich den Scherenschnitt-Collagen zu. Mit der von ihm zwischen 1947 und 1951 gestalteten Rosenkranzkapelle in Vence setzte der längst Hochgeehrte seinem Lebenswerk ein letztes i-Tüpfelchen auf.