Der Krieg in Nahost beeinflusst auch die US-Wahl. Kamala Harris darf es sich mit muslimischen Wählern nicht verscherzen, Donald Trump macht es sich dagegen einfach. Das sagt der Historiker und Propagandaforscher Alexander Friedman, der den Gewaltausbruch der Hamas am 7. Oktober in Israel miterlebte.
Herr Friedman, der Krieg in Nahost hängt unter anderem an guten politischen Beziehungen zwischen Israel und den USA. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Biden, Harris, Netanjahu und Trump?

Aus der Sicht der heutigen israelischen Regierung ist Joe Biden für Israel „in Ordnung“. Er gehört zu einer alten Garde von Politikern, die im Zweifel an Israels Seite stehen, obwohl ihm nicht alles gefällt, was Israel derzeit tut. Israel ist weiterhin wichtigster Partner im Nahen Osten für die USA, die jüdische Community in den USA ist zudem ein wichtiger Wählerblock für die Demokraten. Es gibt Kritik an Israels Vorgehen, aber im entscheidenden Moment ist die USA zur Stelle. Harris dagegen ist ein Risikofaktor. In Israel befürchtet man, dass es mit ihr als Präsidentin zu einer ähnlichen Israelpolitik kommt wie unter Obama. An dessen Nahostpolitik, die weniger proisraelisch, sondern vielmehr ausgleichender war, erinnert man sich in Israel nicht gerne. Hier wurde auch massiv Druck auf Israel ausgeübt. Unter Trump bekäme man, und das hat seine erste Amtszeit gezeigt, in Israel alles an Unterstützung, was man sich wünscht, denn die Palästinenser fanden in Trumps Nahostpolitik ja praktisch nicht statt. Er wäre ein Wunschkandidat vieler Israelis. Netanjahu aber muss taktieren, vielleicht wird Harris gewinnen. Deshalb ist er sehr vorsichtig, hofft auf Trump, aber kann es sich nicht mit Harris verscherzen. Daher kommt es auch darauf an, wann und wie der erwartete israelische Gegenschlag auf den Iran erfolgen könnte. (Das Interview wurde vor dem israelischen Gegenschlag am 26. Oktober geführt; Anm. d. Red.) Für diesen wäre ein Präsident Trump eine Katastrophe, nicht umsonst gibt es Gerüchte, die von Planspielen der iranischen Führung zur Ermordung Trumps sprechen. Denn unter Trump hat der Iran einiges zu befürchten, unter anderem amerikanisch-israelische Angriffe auf ihre Atomanlagen. Dies steht derzeit nicht zur Debatte, darüber haben sich Netanjahu und Biden offenbar schon geeinigt. Was genau die Israelis vorhaben, dürfte jedoch selbst den Amerikanern derzeit noch nicht bekannt sein.

Biden droht im Falle eines Anschlags auf Trump dem Iran mit Krieg. Der Iran steckt in einem Dilemma, er kann nicht direkt gegen Israel vorgehen und seine verlängerten Arme, Hamas und Hisbollah, sind praktisch führungslos. Wie kann der Iran noch reagieren?
Die Situation ist schwierig. Am besten wäre ein Waffenstillstand im Libanon und im Gazastreifen, dann besteht für den Iran eine Chance, diese Organisationen wieder aufzubauen. Einen Krieg mit Israel können sie nicht riskieren, dazu ist die innenpolitische Situation zu instabil. Die Hoffnung ist, die Lage zu konsolidieren. Gelingt das nicht, gerät der Iran weiter unter Druck. Denn verschwinden die Werkzeuge seines Einflusses, ist dies schlecht für das Prestige des Mullah-Regimes. Sie müssen Stärke zeigen, ohne einen großen Krieg zu provozieren, denn die Gefahr ist real: Wenn nun Israel die Operation gegen die Hisbollah im Libanon gelingt, warum anhalten? Netanjahu hat vor Kurzem auch recht laut über einen Regimewechsel in Teheran nachgedacht. Die Hoffnung seitens mancher Iraner, der iranischen Exilpresse ist real, dass eine gemeinsame amerikanisch-israelische Aktion das Regime zum Kollabieren bringt. Sicherlich befürchtet der Iran auch eine ähnliche Aktion wie die der explodierenden Pager im Libanon. Eine Aktion, die den Iran sehr blamieren würde. Wenn ich mir iranische Medien derzeit anschaue, sind diese sehr angespannt. Man fürchtet eine blamable Aktion, denn darauf muss eine starke Reaktion erfolgen und damit eine Gewaltspirale. Gleichzeitig muss Israel stark reagieren, um glaubwürdig zu bleiben, aber man hat dort derzeit auch genug zu tun mit der Hisbollah und der Hamas.
Wie gewichtig ist der Einfluss des Krieges in Nahost auf die US-Wahl, was glauben Sie? Wir sehen die propalästinensischen Proteste an Unis, Muslime verweigern den Demokraten öffentlich die Gefolgschaft.
Trump hat es leicht: Die Menschen, die „Free Palestine“ rufen, sind nicht seine Wähler. Mit seiner proisraelischen Einstellung versucht er, jüdische, christlich-fundamentalistische, weiße Stimmen zu gewinnen. Linke, propalästinensisch Eingestellte und die arabischstämmige US-Bevölkerung wählten bevorzugt demokratisch, für Harris wäre es also fatal, diese Stimmen zu verlieren. Auf der anderen Seite muss sie trotzdem vorsichtig mit dem Thema umgehen, um keine jüdischen Stimmen zu verlieren. Eine Eskalation des Krieges in den kommenden Wochen würde Trump in die Karten spielen.

Sie sind Historiker und Propagandaforscher. Wie erleben Sie die Propaganda im Krieg zwischen Israel, der Hamas und der Hisbollah?
Israel gewinnt in der Regel die Gefechte am Boden: Die Hamas ist stark dezimiert, die Hisbollah steht massiv unter Druck und auch der Iran ist nicht so stark wie gedacht. Für Israel aber ist der Krieg eine große Herausforderung. Für die Art und Weise, wie dieser Krieg geführt wird, gibt es kein Verständnis. Wenn ich mir die Reaktionen in Deutschland, Frankreich, aber auch in Italien anschaue, wird die Kritik daran immer schärfer. Klar, Nachrichten aus dem Nahostkrieg, Bilder aus dem zerstörten Gazastreifen und Stimmen von Kriegsflüchtlingen beeinflussen alle Beobachter dieses Krieges. Es gibt jedoch nicht viele, die tief in die Materie einsteigen und sich fragen, warum der Krieg so geführt wird, ob man diese Operation nicht hätte anders führen können. Solche Fragen werden kaum gestellt, sondern man wird gezwungen, Seiten zu wählen. So wird die Stimmung mehrheitlich propalästinensischer. Die Kundgebungen sind das legitime Recht dieser Menschen, sich mit dem Leid der Palästinenser zu solidarisieren. Das Problem: Es geht weniger um die israelische Politik, sondern es werden antisemitische Parolen in den Vordergrund gestellt, dem Staat Israel wird das Existenzrecht abgesprochen, und die Angriffe werden mit dem Völkermord der Nationalsozialisten verglichen. Umfragen zeigen, dass solche Narrative auch vermehrt in der deutschen Bevölkerung Widerhall finden. Das ist beunruhigend.

Es gibt auch in Israel Stimmen, die sich gegen die Art und Weise der Kriegsführung wenden. Führt Israels Regierung diesen Krieg auch gegen Widerstände im eigenen Land?
Politisch gesehen ist die israelische Gesellschaft gespalten. Dass ein Krieg gegen die Hamas geführt und die Hisbollah geschlagen werden muss, darüber gibt es einen Konsens. Sie bedrohen die Existenz Israels. Dass dieser Krieg so rabiat geführt werden muss, darüber gibt es durchaus unterschiedliche Meinungen. Es gibt den Vorwurf, dass die Regierung Netanjahu eine Art Selbstprofilierung dadurch betreibt, dass sie diesen Krieg auf diese Art und Weise führt und sich sogar weniger um das Schicksal der Geiseln kümmert. (101 von 240 Geiseln sind nach einem Jahr immer noch im Gazastreifen gefangen; Anm. d. Red.) Die Opposition wirft Netanjahu vor, die Wahlen hinauszuzögern. Dieser Vorwurf ist nicht unberechtigt. Im Krieg finden keine Wahlen statt, erst danach. Dann kommen auf die Regierung und auf Netanjahu besonders unangenehme Fragen zu: Was geschah am 7. Oktober 2023, warum wurden an diesem Tag so viele Fehler gemacht, wer ist verantwortlich? Diese Aufklärung verspricht für Netanjahu nichts Gutes. Aber mittlerweile hat er sich erholt, seine Umfragewerte werden besser. Ihm gelingt es, sich als Kämpfer für das Existenzrecht Israels zu profilieren, egal was es kostet. Und durch die propalästinensischen Reaktionen in aller Welt versteht er sich auch als alleiniger Kämpfer für Israel, denn offenbar zeigt man in aller Welt eher Verständnis für die Feinde Israels, so das Narrativ der Regierung. Aktuell wäre es gar ein politisches Geschenk für Netanjahu, wenn es einen internationalen Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gibt, wie derzeit angedacht. Und schlägt er die Hamas, die Hisbollah und noch dazu den Iran, den erklärten Erzfeind Israels, würde er politisch ebenfalls massiv profitieren.

Gibt es in Israel eine Vorstellung davon, was nach dem Krieg mit Gaza passiert?
Diese Diskussionen gibt es, aber im Vordergrund steht die Zerstörung der Hamas. Theoretische Szenarien aber gibt es: Langfristig militärisch lässt sich Gaza nicht kontrollieren. Man braucht eine Regierung dort, ohne Hamas. Aber wer könnte dies sein? Die Strukturen dort stehen seit fast 20 Jahren unter Hamas-Diktatur. Die konkurrierende Fatah unter Mahmoud Abbas ist unbeliebt, niemand und schon gar nicht Netanjahu möchte, dass Abbas auch die Kontrolle über Gaza erhält. Denn Netanjahus Politik war es immer, die Palästinenserbewegung zu spalten. Ein Wunschszenario für Israel wäre es, wenn Gaza unter arabischer Kontrolle steht, beispielsweise durch Ägypten oder andere arabische Länder. Das wollen die arabischen Staaten jedoch nicht, ebenso wenig die Palästinenser, die ihren eigenen Staat haben wollen. Israel hat keinen langfristigen Plan für den Gazastreifen.
Kurz nach dem Überfall der Hamas auf israelisches Gebiet sprach FORUM schon einmal mit Alexander Friedman: www.magazin-FORUM.de/de/das-kann-niemand-voraussagen