Kamala Harris oder Donald Trump – Freude gegen Lügenmaschine, so erscheint der US-Wahlkampf in seinen letzten Tagen. Dabei versucht Harris bis zuletzt, eine breite Koalition gegen einen zunehmend autoritären Kandidaten zu schmieden.
Es sind nur wenige Staaten, am Ende vielleicht wenige Tausend Stimmen, die den Unterschied machen. Arizona, Nevada, Georgia, North Carolina, Michigan, Wisconsin und Pennsylvania. Deren Wahlmännerstimmen werden den Ausschlag für die nächste Präsidentin oder den nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten geben.
Die Parteilinien aber verschwimmen in diesem Wahlkampf. Viele Republikaner sind von Donald Trumps düsterer Gossenrhetorik, seinen geradezu faschistischen, mindestens autoritären Instinkten abgestoßen. Beispiel Arizona: Hier trifft die Demokratin Kamala Harris auf Konservative, die sie unterstützen, viele von ihnen Republikaner. In dem Swing State kommt es auf jede Stimme an. Im Jahr 2016 gewann hier Trump, 2020 siegte der amtierende US-Präsident Joe Biden ganz knapp. Harris und ihr republikanischer Rivale Trump liegen in Umfragen für die Wahl am 5. November in Arizona ungefähr gleichauf, der 78-jährige Trump hat im Schnitt einen leichten Vorsprung im Bereich der Fehlertoleranz. Einer aktuellen landesweiten Befragung zufolge hat die 60 Jahre alte Demokratin zuletzt bei Republikanern an Unterstützung gewonnen. Während drei Prozent der befragten Anhänger der Demokraten ihre Stimme Trump geben würden, gaben neun Prozent der befragten Republikaner an, Harris wählen zu wollen. Einen Monat zuvor waren es nur fünf Prozent.
Trump schreckt mit seiner harschen Rhetorik und seinen radikalen Positionen auch Anhänger in der eigenen Partei ab – ein prominentes Beispiel ist die aus der Parteiführung geschasste Liz Cheney. Doch ob die konservativen Trump-Gegner den Ausschlag für Harris geben können, bleibt offen. Harris jedenfalls kämpft um jede Stimme – denn das Rennen könnte nicht knapper sein. Das Motto für sie heißt „Country over Party“, „Land über Partei“. Denn: „Jeder von Ihnen hatte den Mut zu sagen: Hey, wir sind vielleicht nicht in allen Punkten einer Meinung.“ Aber bestimmte Prinzipien dürften nicht infrage gestellt werden. Harris spricht mit Bewunderung über den republikanischen Senator John McCain aus Arizona, der 2018 starb. In seinen letzten Jahren war er zu einer Art Intimfeind Trumps geworden. Harris warnt davor, dass die USA unter Trump in der Welt nicht mehr ernst genommen würden. Dabei brauche es ein starkes Amerika.
Spaltung in den USA so tief wie nie zuvor
Ein prominentes Beispiel sei die Kandidatin der Partei in Arizona für den US-Senat, Kari Lake. Die einstige TV-Moderatorin zählt zu den glühendsten Anhängern Trumps, sie wollte bereits Gouverneurin von Arizona werden – und verlor gegen die Demokratin Katie Hobbs. Die Niederlage erkennt sie nicht an, verbreitet Verschwörungstheorien. Lake steht sinnbildlich für die radikale Ausrichtung der Partei. Dass Lake überhaupt ins Rennen um den wichtigen Senatssitz geht, über den ebenfalls am 5. November abgestimmt wird, zeigt, wie fest Trump die Partei im Griff hat. In Umfragen liegt Lake klar hinter dem Demokraten Rubén Gallego – ein für das moderate Arizona bemerkenswert liberaler Kandidat. Dennoch kann Lake nicht recht punkten. Ähnlich wie Trump ist die 55-Jährige einigen zu extrem.
Denn nicht nur das Präsidentenamt wird nach Joe Bidens Rückzug neu vergeben, auch 34 der 100 Senatoren und das gesamte Repräsentantenhaus werden neu gewählt. Bei den Wahlen zu den Senatsposten stehen die Chancen, ähnlich wie bei den Präsidentschaftswahlen, derzeit 50:50, dass die Demokraten und häufig mit ihnen stimmende Unabhängige ihre dünne Mehrheit von einer Stimme verteidigen können. Auch bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus ist unklar, wer am Ende das Rennen macht: Bislang zeigen hierbei aggregierte Umfragen einen leichten Vorteil für die Republikaner.
Geteilte Regierungen, die nicht in beiden Häusern die Mehrheit haben, müssen sich häufig auf Kompromisse in der Gesetzgebung einlassen. Einige Entscheidungen können per präsidialem Dekret erlassen werden, sind jedoch von einer Nachfolgeregierung leicht rückgängig zu machen. Kamala Harris könnte als Präsidentin außerdem Republikaner in ihre Regierung holen – dies wäre kein Novum in der US-amerikanischen Politik, in Barack Obamas Kabinett arbeiteten mehrere Republikaner wie Verteidigungsminister Robert Gates. Harris’ ausgestreckte Hand in Richtung der zweiten großen Partei, der Grand Old Party, zeigt jedoch auch, dass ein rein demokratisches Wahlklientel in diesem Falle womöglich nicht mehr ausreicht, um zu gewinnen. Ihr politisches Schicksal jedoch mit den Republikanern zu verbinden heißt, auch demokratische Wähler, vor allem Progressive, mit dieser Geste zu verprellen. Jene Gratwanderung ist für Harris heikel, könnte sich jedoch auszahlen.
Ihr Wahlkampf, prominent von einer ganzen Reihe republikanischer Politiker unterstützt, die bei Donald Trump in Ungnade gefallen sind, versucht Frauen, Familien, den Mittelstand, junge Wähler, People of Color ebenso wie Weiße zu vereinen. Umfragen zeigen bei vielen Wählerschichten einen Vorsprung von Harris. Ihre politischen Vorschläge, allesamt innenpolitischer Natur, liegen auf dem Tisch. Vor allem in Sachen Wirtschaft unterscheidet sie sich deutlich – und glaubt man einer ganzen Reihe von namhaften Ökonomen, dann im positiven Sinne – von den Vorschlägen Trumps. Dennoch scheint die Wahl weiter knapp zu sein. Dies könnte jedoch auch an einem Kunstgriff der Trump-Kampagne liegen, die Medien mit einer Vielzahl von Pro-Trump-Umfragen zu fluten, wie das US-Politmagazin „The Hill“ feststellte.
Dem Enthusiasmus der ersten Wochen auf die Kandidatur von Harris und ihrem volksnah auftretenden designierten Vizepräsidenten Tim Walz folgten ein Parforceritt durch Swing-States, Gespräche mit reichweitenstarken Podcasts, einige Interviews. Zunehmend bestimmt dabei ein Thema die Schlagzeilen: Ist Donald Trump ein Faschist? Die Frage ist nicht neu, wurde bereits 2016 gestellt. Im Verlauf ihres vergangenen Town-Hall-Meetings beim liberalen Sender CNN fragte Moderator Anderson Cooper Harris direkt: „Halten Sie Donald Trump für einen Faschisten?“ Harris antwortete ohne Zögern: „Ja, das tue ich.“ Auslöser waren Äußerungen von Trumps ehemaligem Stabschef John Kelly. Er sagte der „New York Times“, Trump falle aus seiner Sicht „unter die allgemeine Definition eines Faschisten“. Er verwies dabei auf die Beschreibung von Faschismus als einer extrem rechten, autoritären und ultranationalistischen Ideologie, bei der es unter anderem einen diktatorischen Anführer und eine Unterdrückung der Opposition gebe.
Ex-Mitarbeiter von Trump besorgt
Trump sei „zunehmend instabil“ und „ungeeignet für das Amt“, sagte Harris. Ehemalige Mitarbeiter des Ex-Präsidenten und enge Vertraute hätten ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Trump die Verfassung der Vereinigten Staaten verachte und nie wieder das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten ausüben sollte, sagte Harris. Kelly habe mit seinen Aussagen über Trump einen „Notruf an das amerikanische Volk abgesetzt“, um darauf hinzuweisen, was passieren könnte, wenn dieser wieder ins Weiße Haus einziehe. Die Leute, die Trump „zurückhalten könnten“, seien nun nicht mehr da. „Ich glaube, Donald Trump ist eine Gefahr für das Wohlergehen und die Sicherheit Amerikas“, sagte Harris.
Klar ist: Eine zweite Trump-Präsidentschaft sieht mit großer Wahrscheinlichkeit weniger chaotisch aus als die erste. 2016 kam der New Yorker Geschäftsmann ins Amt, ohne je damit gerechnet zu haben. Seine Wahlniederlage schuf den Mythos für seine nächste Amtszeit: die Lüge von der gestohlenen Wahl, zigfach von Gerichten in den USA widerlegt und dennoch unermüdlich wiederholt, bis laut Umfragen mehr als die Hälfte der Republikaner ihm glaubten. Der Grund, warum sie dies tun, liegt in der Größe der Lüge.
Hannah Arendt gilt als eine der Koryphäen und als deutsche Kronzeugin in Sachen Totalitarismus und politischer Lüge. Die jüdische Publizistin, die 1933 aus Deutschland in die USA emigrierte, schrieb in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ von 1967: Das ideale Subjekt totalitärer Herrschaft sei nicht jemand mit ideologischen Überzeugungen, „sondern Menschen, für die die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion ... und die Unterscheidung zwischen wahr und falsch ... nicht mehr existiert“. Wahrheiten seien jedoch unbeständiger. Sie werden, wie etwa die Wissenschaft deutlich macht, in vielfachen Debatten ausgehandelt. Lügen seien oft viel plausibler, attraktiver für die Vernunft als die Realität, „da der Lügner den großen Vorteil hat, im Voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht oder erwartet. Er hat seine Geschichte für die Öffentlichkeit so aufbereitet, dass sie glaubwürdig ist, während die Realität die beunruhigende Angewohnheit hat, uns mit dem Unerwarteten zu konfrontieren, auf das wir nicht vorbereitet waren“ (in „Lügen in der Politik“, 1971). Je grandioser die Lüge, desto eher hält der geneigte Zuhörer sie für eine Wahrheit, vor allem, wenn sie beharrlich wiederholt wird.
Große Lügen entfalten große Macht
„Große Lügen“ wie die der jüdischen Weltverschwörung, die Hitler zur Rechtfertigung seines Völkermords nutzte – und dieses Konzept bereits in „Mein Kampf“ beschrieb – besitzen erstaunliche Macht. Etwa jene, die „Bourgeoisie“ für die Misere der Arbeiter verantwortlich zu machen, wie einst im Kommunismus; oder eine niedrige Zahl an Migranten für alle nationalen Probleme eines Landes verantwortlich zu machen, wie es Ungarns Staatschef Viktor Orbán tut; oder Boris Johnsons Lüge, der Brexit werde Großbritannien einen wahren Geldsegen von 350 Millionen Pfund bescheren. In der Taktik der Populisten wird das Lügen selbst verherrlicht, schreibt die Populismus-Forscherin Catherine Fieschi: Es sei ein Instrument „der Subversion, sein Zweck besteht darin zu zeigen, dass der Lügner vor nichts Halt macht, um ‚dem Volk zu dienen‘. Die Lügen sind Signale dafür, dass diese Politiker sich nicht an die üblichen Normen der liberalen demokratischen Elite halten. Liberale signalisieren Tugendhaftigkeit – Populisten signalisieren Empörung. Das ist Politik, die eher an den Bauch als an das Gehirn appelliert“, schreibt Fieschi, Autorin von „Populocracy: The Tyranny of Authenticity and the Rise of Populism“.
Populisten lügen konstant, Donald Trump ist keine Ausnahme. Sei es über Migranten, die Hunde und Katzen essen (das tun sie nicht) oder über den schlechten Zustand der US-Wirtschaft (sie brummt wie seit Jahrzehnten nicht) und vieles mehr. Seine Partei zuckt die Schultern, rechtfertigt dieses Verhalten seit Jahren. J. D. Vance, designierter Vize von Trump, versicherte in einem TV-Interview treuherzig, Trump spreche eben „aus seinem Herzen“. Ein Signal an Trumps Wähler zu dessen Authentizität und Volksnähe.
Wie kann Harris gegen einen Kandidaten gewinnen, der Lügen wie am Fließband produziert? Mit Freude, einer Vision der Zukunft, Authentizität und Emotionen entfachte Kamala Harris zu Beginn eine gewaltige Aufbruchsstimmung. Diese ist in den monotonen Empörungstiraden der Trump-Kampagne, deren fast tägliche Ungeheuerlichkeiten von den US-Medien ausgeschlachtet und weiterverbreitet werden, mittlerweile etwas untergegangen.
Donald Trump muss, das gebietet ihm seine Persönlichkeit, im Mittelpunkt stehen – mit jeder noch so großen Ungeheuerlichkeit, die er verbreitet, generiert er die gewünschte Aufmerksamkeit. Entsprechend ungehemmter und noch ungeheuerlicher wurden die Schlagzeilen, entstanden aus Trumps Hetze gegen eine, wie er sagt, „beschissene“ Vizepräsidentin zum Ende der Kampagne hin. Ob Freude und die Warnung vor dessen faschistischen Tendenzen das rechte Mittel der Harris-Kampagne gegen einen zunehmend autoritär wirkenden Trump war, wird sich dann am 5. November zeigen.