Der US-Wahlkampf war niemals nur ein Austausch von Argumenten. Diesmal aber geht es für Donald Trump darum, nicht verurteilt zu werden, und für Kamala Harris darum, das plötzlich fragil gewordene demokratische System zu stärken.
Das sagt man nicht, das tut man nicht – gewisse Regeln in der amerikanischen Politik, Tabus, moralische Grenzen des Sagbaren, all dies hat Donald Trump in der US-Politik längst niedergerissen. Seine Wähler lieben ihn dafür. Es gibt Anzeichen dafür, dass sein Vorbild Schule macht, auch in anderen Ländern. Ihn als „disruptiv“ zu bezeichnen, verleitet jedoch dazu, ihn fälschlicherweise als planvoll innovativen Politiker zu sehen. Ein Narzisst, der Kritik an sich und seinen Entscheidungen für ein Verbrechen hält und seine Kontrahentin Kamala Harris als „dumm“ und „beschissen“ bezeichnet, könnte der 47. Präsident der USA werden. Aus europäischer Sicht ist nicht zu fassen, dass die Umfragen weiterhin ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem rechtspopulistischen Pleitier, verurteilten Steuerbetrüger und Schweigegeldzahler Trump und der liberalen Ex-Staatsanwältin, Ex-Senatorin und amtierenden Vizepräsidentin Kamala Harris prognostizieren.
Geliefert wie versprochen
Dass Trump so weitermachen konnte wie bisher und damit erfolgreich ist, hat viel mit den US-Medien zu tun. Das dortige System begünstigt extrem polarisierte Meinungen. Der konservative Sender Fox News spielt auf seiner Webseite einen Counter aus, der zeigt, dass Harris seit 92 Tagen keine öffentliche Pressekonferenz gegeben hat. Was Fox News nicht sagt: dass die amtierende Vizepräsidentin weniger in den üblichen Medien auftritt, stattdessen eine Vielzahl von Tiktok-Videos veröffentlicht und in Podcasts und Youtube-Sendungen auftaucht. Trumps verbale Entgleisungen fallen bei Fox News ebenso unter den Tisch. Die liberalen Medien dagegen springen auf jede Ungeheuerlichkeit auf und spielen damit eine zentrale Rolle in ihrer Weiterverbreitung. Mit Vulgarität zog Trump die mediale Aufmerksamkeit, die er so dringend braucht, wieder auf sich, nachdem Harris nach ihrer Kandidatenkür wochenlang die Schlagzeilen beherrschte – und die Umfragewerte in vielen kritischen Bundesstaaten.
In vielen Umfragen versteckt sich der Wunsch der Amerikaner nach einer echten Führungsfigur, der man Glauben schenken kann: Donald Trump habe in seiner ersten Amtszeit geliefert, was er versprochen habe, heißt es oft. Deswegen werde er wiedergewählt, nicht wegen seiner niveaulosen und hasserfüllten Rhetorik, die die meisten ohnehin auf dem Schirm haben. Kamala Harris hatte nach ihrem phänomenalen Einstieg in den Wahlkampf einen harten Kampf zu führen, um die US-Amerikaner zu überzeugen. Während Trump die Chauvinistenkarte zieht und vor allem weiße, männliche, weniger gebildete Menschen anspricht, aber auch Zuspruch in der männlichen Latino- und der Black-Community findet, setzt Harris auf weibliche Wählerstimmen, will die Familie und die Mittelschicht stärken und das kürzlich zu Ungunsten vieler betroffener Frauen veränderte Abtreibungsrecht in den USA wieder ändern. Gewinnt Harris, ist ein friedlicher Machtwechsel nicht im Sinne Trumps. „Wir lassen nicht zu, dass dies wieder passiert“, sagte er bei einem seiner Wahlkampfauftritte, und gemeint war die Lüge der gestohlenen Wahl von 2020. Man führe schließlich in allen Umfragen. Beides falsch oder maßlos übertrieben. Bereits jetzt legen Getreue der Trump-Kampagne den Grundstein dafür, die Wahl anzufechten, direkt im Wahllokal, beim Zählen der Wählerstimmen, später vor Gericht. Das politische Magazin „The Hill“ bemerkte, dass eine Vielzahl von Umfragen von Instituten, die den Republikanern nahestehen, die Medien fluten – und einige Vorhersagemodelle derart manipulieren, dass es plötzlich mehr Zustimmung zu Trump gibt als noch eine Woche zuvor. Einige der wichtigsten Modelle, darunter „FiveThirtyEight“, „The Hill Decision Desk“ und das Modell des Statistikers Nate Silver sehen jedoch eher ein Kopf-an-Kopf-Rennen oder Harris marginal in Führung. Letztlich aber kommt es auf wenige Swing-States an, in denen die dort mobilisierten Wähler den Ausschlag geben: Wisconsin, Michigan, Pennsylvania, Georgia, North Carolina, Arizona und Nevada.
Prozesse könnten eingestellt werden
Trump zieht alle Register – die Chance, dass er wegen seiner Straftaten nach einer verlorenen Wahl rechtskräftig verurteilt wird, ist hoch. Gewinnt er die Wahl, könnte er Bundesprozesse gegen sich einstellen lassen – entweder auf seine Anweisung oder nach möglichen weiteren gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Amtsimmunität des Präsidenten.
Was nach dem 5. November, dem Tag der Wahl, geschieht, ist unklar. Gut möglich, dass diese Wahl vor Gericht entschieden wird. Schon jetzt kämpfen Anwälte beider Seiten um Auszählungsregeln oder gegen Einschüchterungsversuche der Republikaner. Die Kandidatur von Harris hat dennoch Hoffnung auf eine positive Veränderung gegenüber der düsteren Trump-Kampagne geweckt. Mehr demokratische Wahlhelfer und Wahlbüros als auf Seiten der Republikaner sollen vor allem Wechselwähler überzeugen. Schon jetzt dringt ihre Botschaft tief in republikanisch gehaltenes Territorium: Ex-Wählerinnen der republikanischen Kandidatin Nikki Haley sprachen sich für Harris aus; Hunderte republikanische Politiker wie etwa Liz Cheney auf regionaler und lokaler Ebene, viele Ex-Politiker und -Spitzenbeamte republikanischer Regierungen stärken Harris den Rücken. Ob es am Ende für sie reicht, wird jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit am 6. November noch nicht endgültig feststehen. Die Regeln, die seit Langem in den USA galten, gelten spätestens mit dieser Wahl nicht mehr.