Über die Patient-Arzt-Beziehung und den Verlust der Balance
Eigentlich war es bisher umgekehrt: Wie behandeln Ärzte ihre Patienten? So lautete die Standardfrage. Neuerdings müssen wir in einer verkehrten Welt öfters die Blickrichtung wechseln. Wir hören und lesen, wie nicht wenige Patienten ihre Ärzte „behandeln“, also wie sich Respekt und Umgangsformen in ärztlichen Praxen und Krankenhäusern gewandelt haben.
Als ich in Heidelberg als Student vor einigen Jahrzehnten an der ältesten Universität im heutigen Deutschland, der 1386 gegründeten Ruperto Carola, mein Medizinstudium begann, gab es noch die respekt- bis angsteinflößenden, unantastbaren „Halbgötter in Weiß“. Die Professoren und insbesondere „Lehrstühle“ waren fast alle männlich und oft patriarchalisch geprägt. Den weißgestärkten Kittel, gern mit glänzenden Messingknöpfen, trugen sie – wie eine zweite Haut – gefühlt immer, also auch bei Vorlesungen, Prüfungen und Toilettengang.
Natürlich gab es herausragende Koryphäen. Aber Respekt und Ehrfurcht von Studenten, Patienten und „untergeordneten“ Mitarbeitern waren nicht selten größer als fachlich oder auch menschlich gerechtfertigt und verdient. Kritische Fragen oder ein Hauch von Zweifel an ihrer ärztlichen „Kunst“ war für das gemeine studentische Fußvolk höchst waghalsig hinsichtlich bevorstehender Prüfungssituationen.
Schon vor vielen Jahren hat sich das vernünftig eingependelt, und Ärzte und Ärztinnen durften wieder „normale“ Menschen sein. Heute scheint das Pendel wieder kräftig auszuschlagen, allerdings ins andere Extrem. Medizinisches Personal, das sich für Patienten sehr engagiert einsetzt, bekommt jetzt weniger Respekt und Verständnis, als es verdient. Aggressionen bis hin zu körperlichen Angriffen – dies zumindest früher eigentlich undenkbar – sind an der Tagesordnung. Das gilt auch für andere Berufsgruppen, die viel mit und für Menschen arbeiten und nicht immer allen oft überzogenen Wunschvorstellungen nachkommen können, wie beispielsweise Lehrer und Lehrerinnen, Polizisten und Polizistinnen oder Feuerwehren.
Das Phänomen, das man sich vom falschen Ausschlag der Waage zunächst in die vernünftige Richtung hin zum ausbalancierten Gleichgewicht bewegt, aber schnell wieder in das entgegengesetzte Extrem abrutscht, ist vielleicht kein neues, aber akzentuiertes Kennzeichen unserer schnelllebigen Gesellschaft. Das lässt sich in vielen Bereichen wie Transformation, Ökologie, Migration, Infrastruktur und Mobilität durchdeklinieren.
Mal hü und mal hott, das unausgewogene Hin und Her, sorgt für viel Irritation und Verdruss. Und schlimmer noch: Fatalerweise bleiben in diesem unproduktiven bis kontraproduktiven Wirrwarr die wirklich Hilfsbedürftigen oder auch dringend notwendige strukturelle Maßnahmen oft auf der Strecke.
Die Balance und das Gleichgewicht zu finden, dazu müsste man erstmals seine eigene Ruhelage und Mitte spüren. Schwierig, wenn man sich zu oft den per „Mausklick“ rasant ausgelösten, von allen Seiten gleichzeitig global einstürmenden Informations- und Desinformationsfluten aussetzt. Es ist wie bei Goethe’s Ballade vom Zauberlehrling: „Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.“
Aber irgendwo müssen doch auch in einer digital verzerrten Welt noch die gesellschaftlich oder politisch wahren und realen Vorbilder und Strategen stecken, die uns mit ausbalanciertem Wissen und Erfahrung, natürlicher Intelligenz und ehrlicher Transparenz begegnen. Woran erkennt man sie?
Ein Merkmal kennen wir aus der ärztlichen Praxis: eine unabhängige, fachlich fundierte, nicht immer gern gehörte Aufklärung über gesundheitlich riskantes Verhalten, drohende Konsequenzen und Eigenverantwortung. Und natürlich überbringt ein Arzt viel lieber gute Nachrichten. Aber die unangenehme Diagnose darf nicht verwischt oder verschwiegen werden. Schließlich muss der Patient mit ihr leben und sich arrangieren. Gerade jetzt muss er auf bestmögliche ärztliche Hilfe vertrauen und in einer immer noch vergleichsweise reichen Gesellschaft erwarten können, dass die verbriefte Solidarität auch organisiert und gelebt und geleistet wird.