Vor 100 Jahren erschien Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, der für den Ruf des damaligen Kurorts Davos in der Schweiz regelrecht rufschädigend war. Heute kann man vor allem auf der „Schatzalp“ in die vergangene Zeit eintauchen.
Ganz und gar nicht „amused“ war die honorige Davoser Gesellschaft, als 1924 Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ erschien. Zu deutlich hatte er darin den Davoser Ärzten den Spiegel vorgehalten, die viele Patienten für lungenkrank erklären, obwohl sie es gar nicht waren, nur um ihren finanziell einträchtigen Kurbetrieb durch eine gut zahlende Klientel aufrechtzuerhalten. Das Buch sei rufschädigend für den renommierten Schweizer Kurort, hieß es schnell. Und diskriminiere geachtete Mediziner, in die an Tuberkulose erkrankte Menschen aus ganz Europa all ihre Hoffnung auf Heilung setzen.
Zu jener Zeit stand Davos in seiner wirtschaftlichen Blüte. Seit um 1860 der deutsche Arzt Alexander Spengler erkannt hatte, dass das Reizklima in dem 1.500 Meter hoch liegenden Bergdorf den Heilungserfolg bei zahlreichen Krankheiten, darunter Tuberkulose, unterstützen kann, hatte sich das bedeutungslose 1.700-Seelen-Kaff in einen mondänen Kurort gewandelt. Die ersten beiden an Tuberkulose erkrankten Winterkurgäste kamen 1865 hierher und wurden geheilt – Deutsche wie Spengler, der einst als einer der „Revoluzzer“ der gescheiterten Märzrevolution 1848 hierher geflüchtet war. Bald schon folgten Russen, Briten, Franzosen, Holländer. Um die Jahrhundertwende gab es in Davos bereits 26 Sanatorien, 34 Hotels und 51 Pensionen, und man zählte rund 600.000 Übernachtungen im Jahr.
Sollte erst nur eine Novelle werden
Wer es sich leisten konnte, kurte in Davos. Auch Thomas Manns Frau Katia. Am 22. März 1912 begann sie in dem ein Jahr zuvor eröffneten luxuriösen „Waldsanatorium“ eine sechsmonatige Kur – sie war völlig erschöpft, ihr behandelnder Arzt Professor Jessen diagnostizierte bei ihr ein Lungenspitzenkatarrh. Als Thomas Mann sie drei Monate später besuchte, zog er sich bei feuchtem und kaltem Wetter eine lästige Bronchitis zu und bekam Fieber, „sodass der Professor mich für offenbar etwas tuberkulös und einer längeren Kur bedürftig erklärte“. Nach Rückfrage bei seinem Hausarzt in München antwortete dieser ihm: „Sie wären der erste, der bei einer Untersuchung in Davos nicht irgendeine Stelle gehabt hätte. Kommen Sie nur gleich zurück. Sie haben in Davos gar nichts zu suchen.“ Thomas Mann folgte seinem Rat. Statt Monate in Davos in Müßiggang zu verfallen, „habe ich es vorgezogen, den ‚Zauberberg‘ zu schreiben, worin ich die Eindrücke verwertete, die ich in kurzen drei Wochen dort oben empfing“.
Was ursprünglich nur eine kleine Novelle werden sollte, wuchs sich in den nächsten zwölf Jahren zu einem mehr als 1.000-seitigen Roman aus, der heute als Thomas Manns international bekanntestes Werk gilt und in 27 Sprachen übersetzt wurde.
Sein Inhalt ist schnell erzählt. Im Sommer 1907 reist der frisch gebackene Ingenieur Hans Castorp von Hamburg nach Davos, um dort seinen tuberkulosekranken Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen. Als er ankommt, erscheint ihm Joachim ziemlich gesund. Nach Anordnung des Arztes soll der aber ein weiteres halbes Jahr in der Klinik bleiben. Hans ist empört über die Dauer des Aufenthaltes und meint, es hätte doch niemand so viel Zeit übrig. Doch Joachim winkt ab und erklärt ihm, dass die Zeitrechnung im Sanatorium eben anders wäre. Das merkt auch Hans ganz schnell. Der morbide Charme des von Hofrat Behrens geleiteten Sanatoriums – dessen Vorbild Katia Manns Arzt Professor Jessen ist – fasziniert ihn zusehends. Hans bleibt, aus den geplanten drei Wochen werden letztlich sieben Jahre, in denen er viel Zeit mit dem italienischen Humanist und Freimaurer Lodovico Settembrini und dem erzreaktionären Jesuit Leo Naphta verbringt, die beide massiv versuchen, auf ihn Einfluss zu nehmen. Hans verliebt sich in die exzentrische Russin Clawdia Chauchat, und er erlebt mit, wie viele an der Schwindsucht sterben. Auch sein Vetter fällt der Krankheit zum Opfer.
Auch 100 Jahre nach seinem Erscheinen hat der Roman nichts von seiner Faszination verloren. Weil er eben nicht nur von einer längst vergangenen Zeit erzählt. Zugegeben, es macht Mühe, sich durch das „unförmige Opus“ zu quälen, wie Thomas Mann den „Zauberberg“ selbst einmal bezeichnete. Doch die Mühe wird belohnt. Nicht nur durch fantastische Beschreibungen von Landschaften, Charakteren und durch Thomas Manns ausgefeilte, bildhafte Sprache. Der Roman beschäftigt sich insbesondere mit vielen zeitlosen Motiven wie Krankheit und Tod, Erotik, Persönlichkeit, Psychologie, das Wesen und dem Umgang mit der Zeit, den geistigen Grundlagen Europas, dem Widerstreit zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden, dem Gegensatz von Arm und Reich. Themen, die auch nach 100 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt haben. Was bei Thomas Mann der Aufklärungsoptimist Settembrini und der mit Faschismus, Kommunismus und Terrorismus gleichermaßen sympathisierende Naphta sind, die sich endlose Dispute liefern – und sich am Ende duellieren – sind heute Fundamentalisten verschiedener Art, die Meinungs- und Kunstfreiheit und letztlich den Frieden bedrohen. „Wer wissen will, wie Terroristen ticken, muss nur die Reden von Naphta lesen“, sagte der Präsident der Deutschen Thomas Mann Gesellschaft, Professor Dr. Hans Wisskirchen, während einer Tagung zum 100-jährigen Jubiläum des „Zauberbergs“ Anfang August in Davos.
Das Sanatorium war einst eine Sensation
Und Davos selbst? Was ist aus dem einstigen mondänen Kurort geworden, seit in den 1940er-Jahren wirksame Medikamente gegen die Tuberkulose gefunden wurden? Die Sanatorien leerten sich langsam, der Zustrom von Patienten ließ rasant nach, die Häuser wurden zu Hotels umgebaut. Dabei war man nicht zimperlich mit dem Abriss zahlreicher schöner Jugendstilbauten, an deren Stelle zahlreiche seelenlose Appartementhäuser entstanden. Der einstige Charme Davos’ verschwand ebenso wie die Schwindsucht.
Doch wer sich auf die Spurensuche nach den Schauplätzen des Romans macht, wird fündig werden. Beispielsweise im ehemaligen auf 1.620 Meter Höhe gelegenen Waldsanatorium, wo Katia Mann, erzählend auf der Terrasse liegend, ihrem Mann so viele Ideen für den Roman gab. Auch wenn zahlreiche Umbauten dem heutigen eleganten „Waldhotel Davos“ den einstigen Charme nahmen, ein originalgetreu erhaltenes Krankenzimmer aus der Zeit um 1912 gibt es immer noch und auf allen Balkons die bekannten, historischen Liegen, auf denen schon Katia Mann ihre tägliche „Liegekur“ absolvierte.
Viel näher als im „Waldhotel“ kommt man dem Flair des Romans auf der etwa 300 Meter höher gelegenen „Schatzalp“. Da oben angekommen, fühlt es sich tatsächlich so an, als hätte die Zeit eine Pause eingelegt. Nirgends sonst ist Davos mehr Zauberberg als hier.
„Am allerhöchsten liegt das Sanatorium Schatzalp dort drüben …“, sagt Joachim Ziemßen und zeigt während eines Spaziergangs mit seinem Vetter Hans Castorp auf die gegenüberliegende Bergseite. Zu dessen Erstaunen fügt er hinzu: „Die müssen im Winter ihre Leichen per Bobschlitten herunterbefördern, weil dann die Wege nicht fahrbar sind.“ Das will sich Castorp näher ansehen, und so machen sich beide auf den Weg zu Davos’ höchstgelegenem Sanatorium, wo, mehr als unten im Ort, Leben und Tod untrennbar aufeinandertreffen.
Als das Sanatorium „Schatzalp“ 1900 auf einem künstlich angelegten Sonnenplateau im klassischen Jugendstil gebaut wurde, galt es als eine Sensation. Es war nicht nur einer der ersten Stahlbetonbauten in Graubünden, sondern wurde auch nach den neuesten Regeln der Hygiene und des Komforts ausgestattet. Es gab Fußbodenheizung, Zimmer mit Badewannen auf Löwenfüßen, Speiseaufzüge verbanden die Hauptküche mit den drei Etagen und verfügten über Wärmetische, sodass bettlägerigen Patienten die Speisen warm serviert werden konnten. Alle Zimmer hatten große Loggias und waren so konzipiert, dass die Sonne bis zu zwei Stunden länger in die Zimmer scheinen konnte. Ein Luxus, den die Gäste des Hotels „Schatzalp“, zu dem das Sanatorium 1954 wurde, noch heute genießen. Überhaupt strahlt das ganze Hotel das Flair der Jahrhundertwende aus, und an vielen Stellen ist noch immer erkennbar, was es einst war. Wie an den Klingeln, mit denen die Kranken wahlweise nach der Krankenschwester, dem Zimmermädchen oder dem Arzt rufen konnten. Der noch funktionierende gusseiserne Jugendstilfahrstuhl hat eine erst auf den zweiten Blick sichtbare Tür, mittels der man den Lift so vergrößern konnte, dass ein Sarg hineinpasste. Lobby und Speisesaal sind original erhalten, und das einstige Chefarztzimmer soll noch in diesem Jahr wieder sein historisches Aussehen erhalten.
Katia Mann „gesund festgehalten“
Die nostalgische Bobbahn hinunter ins drei Kilometer entfernte Dorfzentrum, auf der im Winter die Toten ihre letzte Fahrt antraten, gibt es noch immer – nur, dass die, die heute mit ihren Schlitten dort hinunterfahren, höchst lebendig sind und sich des Lebens erfreuen. Im Sommer hingegen schlendern viele Besucher der „Schatzalp“ gern durch das Alpinum, den 1906 angelegten fünf Hektar großen Botanischen Alpengarten mit seinen 5.000 verschiedenen Gebirgspflanzen aus aller Welt. „Man könnte zum Botaniker werden“, rief Hans Castorp bei seinem ersten Spaziergang dort begeistert aus und begann sogleich, sich ein Herbarium anzulegen.
Davos hat den Schritt vom mondänen Kurort zu einem im Sommer wie Winter beliebten Tourismus-, Kultur- und Konferenzort geschafft. Inzwischen hat man sich auch mit Thomas Mann ausgesöhnt, was fast 80 Jahre dauerte. Nach außen hin sichtbar ist dies seit 2008 mit der offiziellen Benennung des etwa drei Kilometer langen Wanderweges vom „Waldhotel Davos“ hinauf zur Schatzalp als „Thomas-Mann-Weg“, den der Schriftsteller und seine Frau oft gegangen sind.
Apropos Katia Mann: Jahrzehnte nach der von Professor Jessen gestellten Diagnose begutachtete der langjährige Davoser Klinikleiter und Lungenspezialist Christian Virchow ihre 1912 gemachten Röntgenbilder erneut und stellte dabei fest, dass sie völlig gesund „festgehalten“ wurde. 1994 entschuldigte er sich für seinen Vorgänger und fügte an: „Es ist für einen Arzt ein zwar seltsames, aber doch beruhigendes Gefühl, dass aus einer Fehldiagnose ein literarisches Meisterwerk wie ‚Der Zauberberg‘ entstehen konnte.“