Was heute bei der Spurensicherung an einem Tatort Standard ist, geht in weiten Teilen auf einen Berliner Kriminalinspektor zurück. Mit größter Akribie legte Ernst Gennat zwischen 1904 und 1938 die Grundlagen für die heutige Polizeiarbeit.

Unser Belohnungssystem im Gehirn reagiert besonders intensiv auf Snacks, in denen viel Zucker und Fett stecken. Die dabei ausgeschütteten Glückshormone waren wohl der Grund, warum Ernst Gennat Kuchen über alles liebte. Seine Bewunderer nannten den legendären Berliner Kriminalinspektor wegen seiner Körperfülle freundlich „Buddha“, seine Kritiker verspotteten ihn als „vollen Ernst“. Doch alle stimmten überein, dass Ernst Gennat ein talentierter Kriminalist war und zweifelsohne der scharfsinnigste Ermittler seiner Zeit.
Mehr als 90 Prozent aller seiner Fälle gelöst
Workaholic Gennat belohnte sich mit Bergen von Kuchen für seine seelisch aufreibende, aber sehr erfolgreiche Arbeit: Er löste Fälle, an denen sich andere die Zähne ausbissen. Seine Karriere begann 1904 in der Kaiserzeit und endete 1938 im Nationalsozialismus, in der Weimarer Republik war er zum Chef der Mordkommission aufgestiegen. Er arbeitete stetig und akribisch an der Verbesserung der Ermittlungsmethoden und begründete so die moderne Polizeiarbeit. Gennat entwickelte ein „Mordauto“, das alles enthält, was man zur Spurensicherung am Tatort benötigt. Er ersann eine Kartei, die alle Informationen zu Tötungsdelikten deutschlandweit systematisch erfasste.
Fast nebenbei haben Gennat und Kollegen auch die polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit vorangetrieben: Beweisstücke wurden in den Schaufenstern der Geschäfte am Kurfürstendamm präsentiert, um so Hinweise aus der Bevölkerung zu erhalten. Die Mordkommission ließ bisweilen sogar Flugblätter mit Suchhinweisen abwerfen. Auch die damals neueste Technik kam zum Einsatz: In der „Berliner Funkstunde“ im Radio sprachen Kommissare über Kriminalfälle und baten um Mithilfe bei der Aufklärung. Und schon 1938 wurde mit einer Art Vorläufersendung der bekannten Reihe „Aktenzeichen XY“ Fernsehfahndung betrieben.
In 35 Jahren Dienstzeit lösten Gennat und seine Kollegen mehr als 90 Prozent ihrer Fälle. Seine Mordinspektion war mit Abstand die erfolgreichste Deutschlands, wenn nicht Europas, und wurde zum Vorbild für Kriminalpolizisten weltweit. Selbst die Ganoven hatten Respekt vor ihm wegen seiner findigen Verhörpsychologie: „Er versteht es, uns so zu fassen, dass wir ihm die Wahrheit sagen“, berichtete 1929 ein Zuchthäusler, den Gennat wiederholt eingebuchtet hatte.

Solche Zitate und etliche Anekdoten über Gennat hat Regina Stürickow in ihrem spannenden Buch „Der Kommissar vom Alexanderplatz“ zusammengetragen. Gennat war mit seinen Mordfällen in Zeitung und Radio dauerpräsent und damit das, was man heute einen Medienstar nennt. Sogar eine Postkarte wurde ihm gewidmet: Sie zeigt einen Mann mit großem Kopf und Körperfülle über Mordakten brütend, im Hintergrund seine Sekretärin Trudchen mit einem Tablett, darauf Kaffee und natürlich Kuchen. Dass sein Name auf der Karte fehlt, zeigt, wie bekannt Gennat damals in Berlin war.
Sein Ruf lockte andere berühmte Persönlichkeiten an den Alexanderplatz, wo Gennat sein Büro hatte. An dessen Wand hingen eine echte Mörderaxt und ein vergilbter Pharus-Stadtplan von Groß-Berlin. Schriftsteller Thomas Mann schaute genauso vorbei wie Schauspieler Charlie Chaplin und der englische Krimiautor Edgar Wallace. Der war gleich mehrfach bei der Berliner Mordkommission zu Besuch, um Gennat bei der Arbeit über die Schulter zu schauen und sich von seiner Arbeitsweise zu neuen Kriminalgeschichten inspirieren zu lassen.
Gennat selbst scherte sich wenig um den Ruhm. Wurde er wegen seiner Erfolge gelobt, verwies er bescheiden auf den Faktor Glück. Dem Zufall aber wollte er bei der Arbeit nichts überlassen. Bei seinem Eintritt in den Polizeidienst 1904 steckte Berlin mitten im Wandel – wirtschaftlich, sozial, gesellschaftlich. Hatte die Stadt 1871, im Jahr der Reichsgründung, etwa 824.000 Einwohner, waren es 1910 bereits fast 2,1 Millionen. Armut und Elend grassierten, die Kriminalitätsrate war hoch.
Festes Schema für Arbeit am Tatort entwickelt

Nicht in einer überfüllten Mietskaserne, sondern im gutbürgerlichen Charlottenburg fiel Kolonialwarenladenbesitzerin Martha Klauss am 30. August 1915 einem Raubmord zum Opfer. Sie wurde erstochen. Am Tatort gab es außer viel Blut des Opfers wenig verwertbare Spuren. Die polizeiliche Routinearbeit begann mit der Befragung der Nachbarschaft. Gennats Mitarbeiter nutzten dabei einen speziellen Fragenkatalog, den ihr Chef eigenhändig entwickelt hatte – zu oft hatte sich Gennat zuvor über eine unsystematische Vorgehensweise, unpräzise oder missverständliche Fragen und das Übersehen wichtiger Aspekte geärgert. Bei diesem Raubmord wandte Gennat auch eine Methode an, die man inzwischen als „Profiling“ bezeichnet. Aus heutiger Sicht wissen wir, dass eine Tat und das Verhalten des Täters viel über Geschlecht, Alter, Lebensraum, Intelligenz, Charakter oder Persönlichkeitsstruktur verraten können. Einerseits basiert das Profiling auf statistischen und empirischen Daten, andererseits auf den individuellen Erfahrungswerten und der Intuition des jeweiligen Fallanalytikers.
1915 hatte wohl niemand mehr Erfahrung in Sachen Täterprofile als Gennat. Im Mordfall Klauss war das zentrale Beweisstück eine blutverschmierte Jugendwehruniform, die womöglich dem Täter gehörte. Gennat vermutete, dass der Täter in der unmittelbaren Nachbarschaft des Kolonialwarengeschäfts leben musste, und konzentrierte sich daher auf Personen mit Militärhintergrund und Angehörige der Jugendfeuerwehr, die in der Nähe des Tatorts wohnten. Ein Verdächtiger war schnell ausgemacht. Doch beim Verhör leugnete der labile junge Mann alles. Gennat griff deshalb zu einem Trick, hielt dem Jungen die Jacke hin – mit den unverfänglichen Worten „Probier mal an“. Die Uniformjacke passte wie angegossen, der Junge brach zusammen und gestand.
Doch Gennat ging es nicht nur darum, die Täter zu ermitteln. Auch das Warum trieb ihn um. Und so wurde ihm klar, dass der vernachlässigte und wenig intelligente Täter genauso ein Opfer seiner Zeit war, in der Kriegs- und Uniformverherrlichung weitverbreitet waren. Dienst nach Vorschrift – das gab es bei Ernst Gennat nicht. Wie schwer er es damit bei den pflichtbewussten, mitunter halsstarrigen preußischen Beamten hatte, zeigte sich in seinem kriminalistischen Alltag: An einem Tatort angekommen, machten die zuerst eintreffenden Revierpolizisten erst einmal Ordnung. Bei dem, was dabei passierte, stehen heute jedem passionierten Krimi-Fan die Haare zu Berge: Die Leiche wurde von ihrem Fundort fein säuberlich aufs Sofa gebettet, umgestoßene Möbel wurden an ihren Platz gestellt, benutzte Gläser weggeräumt. Vom unsachgemäßen Umgang mit möglichen Tatwaffen ganz zu schweigen.

in Stahnsdorf - Foto: picture alliance / Caro
Auch wenn Gennat sonst mit Gemütsruhe gesegnet war, brachte ihn ein solcher Dilettantismus zur Weißglut. Für seine „Todesermittlungssachen“ entwickelte er ein festes Schema für die Arbeit am Tatort, das bei der Berliner Polizei im Prinzip heute noch so praktiziert wird: Dazu gehörte ein ausführlicher Tatortbericht, der vor Ort geschrieben wurde, das Fotografieren des Tatorts, die Suche nach Fingerabdrücken und die Untersuchung des Toten durch einen Arzt. Gennats ganzer kriminalistischer Stolz war seine „Todesermittlungskartei“. In dieser umfangreichen Datenbank sammelte er Todesfälle aus Berlin, Deutschland und dem Ausland. Die systematisch aufgebaute Kartei umfasste nicht nur Kapitalverbrechen wie Mord, sondern auch Suizide, die durch eine verbrecherische Handlung ausgelöst wurden. Gennat vertrat die Auffassung, dass auch die Verleitung zur Selbsttötung bestraft werden sollte.
Umgebauter Maybach „Zeppelin“ als Labor
Weil die Datei auch zur Ausbildung und zu Lernzwecken benutzt wurde – Gennat sorgte dafür, dass seine Beamten fachmännisch geschult wurden–, enthielt sie außerdem genaue Informationen darüber, welche polizeilichen Maßnahmen letztlich zur Aufklärung eines Falles führten. Auch Fehlerquellen wurden analysiert. Mithilfe solcher akribisch gesammelten Informationen gelang es Gennats Team oft, den einen oder anderen „nassen Fisch“ zu knacken – Polizei-Slang für ungeklärte Fälle.
Während Gennats Kartei Bewunderung unter seinen Kollegen weltweit hervorrief, war das von ihm entwickelte „Mordauto“ oft das Sensationsobjekt der Berliner Boulevardpresse. Das Auto war sozusagen ein mobiles Kriminallabor, ausstaffiert mit den neuesten technischen Hilfsmitteln, um eine wissenschaftliche Spurensicherung – in der heutigen Polizeisprache als „Kriminaltechnische Untersuchung“ oder kurz KTU bekannt – am Tatort zu ermöglichen. Der umgebaute Maybach „Zeppelin“ hatte an Bord: eine Schreibmaschine, Spurensicherungsmaterialien, Scheinwerfer, Fotoausrüstung, Bandmaß, Schrittmesser, Pinzetten, Pipetten, Sonden, Deckelgläser und Pappschachteln zur Beweisstückaufbewahrung. Und weil Gennat immer mehrere Schritte vorausdachte, war das „Mordauto“ auf der Beifahrerseite für den schwergewichtigen Chef mit einer Stahlkonstruktion verstärkt.
Mehrere filmische Denkmäler für Gennat

Seine größten Erfolge feierte Gennat während der Weimarer Republik. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 waren es wohl seine enorme Expertise und seine Beliebtheit bei den Berlinern, die ihn vor einer Degradierung schützten. Auch wenn Gennat kein politischer Mensch war, beschrieb ihn ein Kollege „als demokratisch bis auf die Knochen“. Wie Gennat zur NSDAP stand – in die er nie eintrat –, zeigt der Fall des von SA-Schergen entführten jüdischen Trikotagen-Fabrikanten Otto Schlesinger. Trotz aller politischen Widerstände schaffte es Gennat, die Nazitäter vor Gericht zu bringen – auch wenn diese später wieder freikamen.
In einer Zeit, in der zu oft die Politik bestimmte, wer schuldig war, hatte der Menschenfreund Gennat keine Freude mehr an seinem Beruf und zog sich zunehmend in sein Büro zurück, von wo aus er die Ermittlungsarbeiten koordinierte.
Am 21. August 1939 starb Gennat an Darmkrebs – allerdings nicht, ohne vorher noch einmal zu überraschen: Der eingefleischte Junggeselle heiratete seine Kollegin, die junge Kriminalkommissarin Elfriede Dinger. Ob er damit dem Nachwuchstalent zu einer beachtlichen Witwenrente verhelfen wollte, wie manche Zeitgenossen vermuteten? Filmisch wurde Ernst Gennat bereits zu seinen Lebzeiten ein Denkmal gesetzt: Kriminalkommissar Lohmann in Fritz Langs „M“ von 1931 ist Gennat nachempfunden. Auch in den Gereon-Rath-Krimis von Volker Kutscher spielt Gennat eine prominente Rolle; in der darauf basierenden TV-Serie „Babylon Berlin“ wird Gennat von Udo Samel gespielt.