Es wächst rasant und kommt ohne künstliche Aromen aus: das Wurzelwerk der Pilze. Eine Hamburger Firma züchtet einen neuartigen Fleischersatz. Ein Laborbesuch mit Verkostung.
Eine Chipkarte, ein Piepen, die Tür springt auf. Jetzt noch Laborkittel, Überschuhe und Schutzbrille überziehen, die Hände desinfizieren. Die Füße bitte auf einer Klebematte abtreten. Fotos? Verboten, bis auf wenige Winkel. Kein Keim soll die Kreationen, die hier entstehen, ruinieren. Kein Betriebsgeheimnis die abgeschotteten Räume verlassen.

Myzelien werden derzeit weltweit fieberhaft erforscht
Unter diesen Bedingungen gewährt Betriebsleiter Philipp Göpel, 49, promovierter Biotechnologe mit braungrauem Vollbart, einen Einblick in die drei Herzkammern von Infinite Roots, einer jungen, schnell wachsenden Food-Firma in Hamburg-Barmbek: Labor, Forschungsküche, Produktionsbereich. Sie liegen versteckt hinter einer unscheinbaren Hinterhoftür und verteilen sich über mehrere Stockwerke eines ehemaligen Filmstudios. Vorbei an Kolben, Kabeln und Fermentationstanks führt der Weg, sagt Göpel, „in eine ganz neue Welt, die gerade im Entstehen begriffen ist“. Die Welt des Myzels, des Wurzelwerks der Pilze. Dieses Geflecht ist ihr eigentlicher Hauptbestandteil, auch wenn wir unter Pilzen im Alltag die sichtbaren Fruchtkörper verstehen.
Myzelien, sagt Göpel, würden derzeit weltweit fieberhaft erforscht. Denn in ihnen schlummern zahlreiche verlockende Potenziale. Sie können Plastik ersetzen, sie lassen sich zu Textilien oder Baumaterial verarbeiten – oder eben essen. Infinite Roots sieht in ihnen den Schlüssel, um den Fleischkonsum zu reduzieren.
Nicht dass nicht auch andere das von sich behaupten würden. Schon seit vielen Jahren wird an Laborfleisch auf Basis tierischer Stammzellen geforscht, was das Halten und Töten von Tieren überflüssig machen könnte. Doch dieser Ansatz ist extrem energieintensiv und damit bislang viel zu teuer. Fleischalternativen aus Tofu oder Erbsen gelten als etwas fad, wenn sie nicht mit künstlichen Aromen aufgepeppt werden. Das proteinreiche Pilzmyzel hingegen verfügt über den herzhaften Grundgeschmack Umami und kommt mit deutlich weniger Zusatzstoffen aus. Deshalb sind sie bei Infinite Roots davon überzeugt, mit ihren Kreationen das Ernährungssystem umkrempeln zu können. „Wir wollen kein teures Nischenprodukt für eine kleine Elite“, verkündet Göpel. „Wir wollen die Welt verändern.“
Man kennt solche Sprüche von Start-ups, wie Infinite Roots es ist, und nicht immer folgt auf solch hochtrabende Ankündigungen auch die Weltrevolution. Allerdings glauben auch ein paar Branchengrößen an das 2018 unter dem Namen Mushlabs gegründete Unternehmen mit rund 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ende Januar verkündete es den Einstieg von Rewe und der Dr. Hans Riegel Holding, eine der beiden Haribo-Gesellschafterinnen. Zusammen mit weiteren Firmen und einem EU-Innovationsfonds investierten sie 58 Millionen US-Dollar, eine für Europa außergewöhnliche Summe.

Im Anschluss an den Laborrundgang erwartet uns eine gut gelaunte Frau im dunklen Rollkragenpulli und mit Baby auf dem Arm: Cathy Hutz, 34, Mitgründerin von Infinite Roots und Leiterin der Produktentwicklung. Die großen Erwartungen, die ihre Firma geweckt hat, scheinen sie nicht einzuschüchtern, im Gegenteil. Sie sieht im Pilzmyzel einen, wie sie sagt, „neuen Rohstoff“ für die Lebensmittelindustrie. Einer, der weder Fleisch noch Fisch ist – noch Gemüse, wie etwa der Fleischersatz-Klassiker Soja. „Viele“, sagt Hutz, „wissen gar nicht, dass Pilze ein eigenes Königreich sind, neben Tieren und Pflanzen.“
Wie also schmeckt dieser neue Rohstoff? Cathy Hutz lädt zu einer Prototypenverkostung in die Infinite-Roots-Küche. Christian Kühnel, Koch und Produktentwickler, kredenzt dort ein Drei-Gänge-Menü, das die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten von Myzel aufzeigen soll: als Vorspeise „Cream Cheese“, ein milchigweißer Aufstrich, mit Knäckebrot und hauchdünnen Gurkenscheiben; als Hauptspeise gebratene „Mealballs“ an Roter Bete; zum Nachtisch Kokoseis mit „Karamellmyzelsoße“. Manche dieser „Samples“, sagt Hutz, seien schon recht „marktnah“.
Besser als gängige industrielle Prozesse

Sie fragt, welche Assoziationen beim Probieren der Samples geweckt würden. Nun, tatsächlich kommen die Kreationen einem Cream Cheese, einem „meat ball“, also Fleischbällchen, und einer klassischen Karamellsoße erstaunlich nahe, sowohl was den Geschmack als auch was die Konsistenz angeht. Erstaunlich deshalb, weil der Inhalt der Tanks im Labor etwas quabbelig wirkte. Und erstaunlich auch, weil Infinite Roots auf jenes Arsenal an chemischen Helferlein und Aromen verzichtet, mit denen viele andere Ersatzprodukte auf die Anmutung von Fleisch- oder Milchprodukten getrimmt werden– ein Umstand, der die gesundheitlichen Vorteile einer von vielen Experten empfohlenen fleischarmen Ernährung wieder etwas schmälert.
Bei Myzel hingegen lassen sich Geschmack und Textur über den Fermentationsprozess variieren und immer wieder nachjustieren, bis alles passt; verschiedene Patente hat Infinite Roots sich bereits gesichert. „Den Umami-Geschmack des Myzels von Speisepilzen können wir über wenige Würzmittel in sehr viele verschiedene Richtungen entwickeln“, erklärt Hutz. „Und das ermöglicht uns, die Zutatenliste total zu reduzieren.“ Die Fermentation, sagt sie mit einem Lächeln, erlaube es, „so cleane Produkte wie möglich“ herzustellen.
Die Fermentation nennt Hutz ihre „große Liebe“, weil sie natürlicher, nachhaltiger und letztlich auch günstiger sei als gängige industrielle Prozesse. Schon zu Studienzeiten, während ihres Masters in Lebensmittelproduktentwicklung in Österreich, habe sie eine Sojasoßen-Alternative auf Basis fermentierter Erbsen entwickelt. Später fand sie im Fermentationslabor des Kopenhagener Sterne-Restaurants Noma ihren Traumjob. Es wurde schon mehrfach zum weltbesten Restaurant gekürt. Über einen befreundeten Koch lernte sie schließlich die Biotechnologen Mazen Rizk und Thibault Godard kennen – und deren Pläne, eine Firma für die Fermentation von Pilzmyzel aufzubauen. Der nächste Traumjob winkte.
Faktor Zeit ist ein weiterer Pluspunkt

Für eine Unternehmensgründung sprachen aus Hutz’ Sicht gleich mehrere ökologisch wie ökonomisch vorteilhafte Faktoren. Raum und Zeit würden durch die Nahrungsmittelproduktion mit rasch wuchernden Pilzwurzelfäden neu definiert. In dieser Hinsicht, sagt Hutz, sei Myzel „ein Gamechanger“. Faktor Zeit: Mit Myzelium könne man innerhalb einer Handvoll Tage das finale Lebensmittel herstellen, so Hutz. Kein Vergleich zur Tofu-Zutat Soja, die fünf Monate auf dem Feld steht. „Und bei Tieren brauchen wir mit dem Rechnen erst gar nicht anzufangen.“ Rechnen lohnt sich allerdings, auch wenn es um den Faktor Fläche geht: Statt hektarweise Weide oder Acker reicht ein Fermentationstank, der witterungs- und ortsunabhängig produziert. Obwohl tierische Produkte nur rund 20 Prozent der Kalorien und nur 40 Prozent des Proteins für die menschliche Ernährung liefern, beansprucht deren Produktion mehr als 80 Prozent der weltweiten Landwirtschaftsfläche. Schlicht, weil Tiere so viel Futter futtern. Bei Wiederkäuern wie Rindern kommt hinzu, dass sie das starke Treibhausgas Methan ausstoßen.

„Etwa ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen ist dem Agrar- und Ernährungsbereich zuzurechnen“, sagt Florian Humpenöder vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). „Wenn man die Treibhausgasemissionen eines Pilzmyzel-Produktes mit denen eines Rindfleischproduktes vergleicht, dann gibt es da ein sehr großes Einsparpotenzial.“ Dessen genaue Größe hänge auch von der Energiequelle ab, die bei der Fermentierung zum Einsatz komme. „Ein solcher Bioreaktor braucht eine bestimmte Temperatur, ist eingebettet in eine Art Fabrik. Es macht also einen großen Unterschied, ob die Energie dafür aus Braunkohle stammt oder regenerativ erzeugt wird.“ Infinite Roots beziffert das Einsparpotenzial auf mehr als 90 Prozent.
Bleibt die Frage, wie die drei Infinite-Roots-Gründer ihren Traum wahr machen wollen, das Ernährungssystem tatsächlich zu verändern. Eine Hürde stellt Hutz zufolge noch die Novel-Food-Verordnung der EU dar. Der Verordnung zufolge bedürfen neuartige Lebensmittel einer aufwendigen Zulassung. Infinite Roots versucht die EU gerade davon zu überzeugen, dass Produkte aus Speisepilzmyzel nicht wirklich „novel“ sind, auch wenn sie nun erstmals als Nahrungsmittel auf den europäischen Markt kommen sollen.

Ist diese Hürde genommen, könnte eine weitere prominente Partnerschaft dem Start-up direkt in die oberen Ligen der Lebensmittelproduzenten verhelfen: Bereits seit Längerem ist die namhafte Großbrauerei Bitburger an der Firma beteiligt. Mit ihren Getreideresten, in ihren Riesenkesseln, sollen bald die ersten marktreifen Pilzmyzel-Produkte heranreifen. „Wir produzieren auf diese Weise mithilfe von Nebenströmen – Reststoffen, die sonst als Abfall deklariert werden – neue Lebensmittel“, sagt Cathy Hutz. „Damit schließen wir eine Lücke in der Lebensmittelindustrie.“ Diese Kreislaufwirtschaft trägt ebenfalls zum vergleichsweise kleinen ökologischen Fußabdruck der Pilzmyzel-Produkte bei. Lebensmittel aus Pilzmyzelien könnten PIK-Forscher Humpenöder zufolge die Klimakrise derweil nicht nur entschärfen. Sondern auch dabei helfen, sich an sie anzupassen. „Durch den Klimawandel nimmt die Anzahl und Intensität von Extremwetterereignissen zu“, sagt Humpenöder. „Da ist es für die Ernährungssicherheit hilfreich, über eine Technologie zu verfügen, die möglichst resilient gegenüber diesen Klimaveränderungen ist.“ Im einem kontrollierten Bioreaktor gibt es schließlich weder Starkregen noch Dürre.