Für die SPD sehen die Umfragen ähnlich aus wie vor der letzten Wahl. Alles andere steht unter völlig anderen Vorzeichen. Ob Debakel oder Aufholjagd – es ist noch viel möglich.
Er ist erst ein paar Tage im Amt und steht jetzt unter dem Druck vorgezogener Neuwahlen. Eigentlich ist er derzeit sogar nur kommissarisch im Amt. Dafür hängt viel von seinem Geschick ab. Die Rede ist von SPD-Generalsekretär Matthias Miersch. Der 55-Jährige hatte erst vor vier Wochen kurzfristig die neue Aufgabe übernommen, nachdem Kevin Kühnert überraschend aus gesundheitlichen Gründen seinen Rückzug angekündigt hatte.
Jetzt muss Miersch einen Wahlkampf organisieren, von dem zunächst gar nicht klar war, auf welchen Wahltag er abzielen sollte. Dass er für den Wahlkampf kein Jahr Zeit haben würde, sondern erheblicher weniger, dürfte dem erfahrenen Miersch allerdings vorher schon klar gewesen sein. Diese Unklarheit ist zumindest beseitigt.
Während sich die ehemaligen Koalitionspartner noch gegenseitig mit Schuldzuweisungen überzogen und die Opposition mächtig Druck für einen ganz schnellen neuen Wahltermin aufbaute, setzte Miersch gleich ein Signal der besonderen Art: Die SPD lädt für Ende November zu einer „Wahlsieg-Konferenz“ ein.
Was wird aus den offenen Reformen?
Dieser „Wahlsieg“ soll mit Bundeskanzler Olaf Scholz gelingen. Sagt zumindest die Co-Parteichefin Saskia Esken. Und Scholz unterlegt die Ambition mit seiner Erklärung, für den nächsten Bundestag kandidieren zu wollen. Seine Ambition, auch die nächste Bundesregierung führen zu wollen, hatte er schon zuvor deutlich gemacht.
Die Diskussion darüber, ob das für die Partei sonderlich aussichtsreich ist, ist in der Vergangenheit immer wieder aufgeflackert. Schließlich hat die SPD mit Boris Pistorius (Verteidigungsminister) jemanden, der die Liste der beliebtesten Politiker im Land schon seit geraumer Zeit unangefochten anführt. Nach dem Bruch der Koalition, und vor allem der Art, wie das abgelaufen ist, dürfte die Partei Olaf Scholz aber kaum die Gefolgschaft verweigern.
Überhaupt hat sich die SPD in den letzten Jahren in einer überraschend geschlossenen und ruhigen Verfassung gezeigt. Fast zu ruhig, meinen Kritiker, die bemängeln, dass SPD-Erfolge in der Ampel-Koalition nicht in dem Maße öffentlich und selbstbewusst kommuniziert wurden, wie sie es verdient hätten. Vor allem Hubertus Heil hat in seinem Arbeits- und Sozialministerium mit einigen Reformen sozialdemokratische Politik durchgesetzt. Was ihm durch das Ampel-Ende noch fehlt, ist die Rentenreform. Ein Kernstück, das eigentlich – wie vieles andere – vor Jahresende zur Verabschiedung anstand.
In die SPD ist seit der ersten Doppelspitze Walter Borjans/Saskia Esken (gewählt Ende 2019) schrittweise wieder Ruhe gekommen, mit dem Duo Lars Klingbeil/Saskia Esken (gewählt 2021) hat sich die Entwicklung fortgesetzt. Was nicht heißt, dass es nicht innerhalb der Partei streitbar zuginge.
Die Vorsitzende Esken ist immer mal wieder in der Kritik. Lars Klingbeil gilt als Hoffnungsträger für die Zukunft. Nicht wenige hätten ihn sich auch jetzt schon als möglichen Kanzlerkandidaten vorstellen können.
Auf Länderebene gibt die SPD ein Bild mit größtmöglicher Spannweite ab. Bei zwei Wahlen im Osten musste sie gar phasenweise um ihre parlamentarische Existenz bangen, landete schließlich in Thüringen bei 6,1 Prozent, in Sachsen bei 7,3 Prozent, konnte sich aber in Brandenburg mit 30,9 Prozent als stärkste Kraft behaupten. In Rheinland-Pfalz gab es im Sommer einen reibungslosen Übergang von Malu Dreyer zu Alexander Schweitzer an der Spitze einer geräuschlos regierenden Ampel-Koalition. Im Saarland hat die derzeit einzige Alleinregierung unter Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) im September ihre Halbzeitbilanz vorgelegt. Die umtriebige Rehlinger, derzeit amtierende Bundesratspräsidentin und Bevollmächtigte des Bundes für die (kulturellen) Beziehungen zu Frankreich, hat sich inzwischen auch in Berlin einen Namen gemacht, sodass manche der SPD-Landes- und stellvertretenden Bundesvorsitzenden bereits höhere Aufgaben zutrauen.
Mit den permanenten Streitereien der Ampelkoalition ist die Kritik am (mangelnden) Führungs- und Kommunikationsstil des Kanzlers in gleichem Maße gewachsen, wie die Umfragewerte für die Partei absackten und nunmehr seit geraumer Zeit um die 15 Prozent (plus) verharren. Weit entfernt vom letzten Wahlergebnis (25,7 Prozent).
Die Situation kennt die SPD bereits aus der Zeit vor der letzten Bundestagswahl. Nur war damals eine Wechselstimmung nach 16 Jahren Merkel-Kanzlerschaft spürbar, und das Land steckte nicht in einer wirtschaftlichen Rezession.
Olaf Scholz war auch damals nicht der große visionäre Hoffnungsträger, konnte aber auf lange Regierungserfahrung zurückblicken. Hinter seiner Wahl stand sicher die Erwartung eines grundsätzlichen „Weiter so“ mit anderen Akzenten. Wer aus der Mitte vor drei Jahren einen grundlegenderen Wechsel wollte, fand sich eher bei den Grünen wieder.
Als die SPD gut zwei Wochen vor dem Ampel-Ende erste Eckpunkte für Wahlkampfthemen vorstellte, fanden sich viele an den letzten Wahlkampf erinnert. Mindestlohn, Rente und Steuerentlastung für 95 Prozent der Bürger, für die anderen fünf Prozent Mehrbelastung. Immerhin entspricht sie damit exakt dem Profil, wie es die Kindernachrichten „logo!“ definieren: „Die SPD will vor allem für mehr Gerechtigkeit sorgen. Sie will sich dafür einsetzen, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Fabriken und Firmen fair bezahlt werden, damit alle von ihrer Arbeit gut leben können.(…) Außerdem möchte die SPD, dass Menschen, die sehr viel Geld verdienen, mehr davon an den Staat abgeben müssen, damit der Staat mehr für ärmere Menschen tun kann“.
SPD sieht Chancen in dieser Situation
Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten: Das mühsam diskutierte Rentenpaket II hängt in einer ungewissen Warteschleife, der Mindestlohn ist eigentlich nicht Sache der Politik, sondern der Mindestlohnkommission, und für die Steuerpläne findet sich kaum eine Mehrheit.
Es waren Eckpunkte zum frühen Auftakt, damals noch unter der Voraussetzung, dass die Wahl erst in zehn Monaten terminiert war, und sicher auch unter der Annahme, dass aus den Gipfel- und Spitzenrunden mit der Wirtschaft Konzepte entstehen, die das Land wieder aus der Flaute herausführen sollten.
Dass Kanzler Scholz in Teilen auf der internationalen Bühne inzwischen ein anderes Image erworben hat als das, das er hierzulande hat, wird kaum wahrgenommen.
So steht die SPD mit einem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz vor einigen Herausforderungen. Die bekannten Umfragen sind, wie sie nun mal sind. Zwar geben die wenigsten Menschen der SPD Schuld am Ende der Ampel (19 Prozent). Die sehen die meisten (40 Prozent) bei der FDP (Infratest dimap am Tag nach dem Bruch der Koalition), aber dass die SPD auch die nächste Bundesregierung anführen sollte, meinten zu diesem Zeitpunkt nur wenige der Befragten. Das wiederum hat auch mit dem geringen Ansehen zu tun, das Kanzler Scholz derzeit genießt.
Trotz der aktuell schwierigen Ausgangslage sieht es derzeit nicht danach aus, dass in der SPD eine Personaldiskussion aufflammen würde. Viele empfinden, wie die meisten Bundesbürger, das Ende der quälenden ampelinternen Streitereien als einen richtigen Schritt, auch wenn es für die SPD derzeit nicht nach einem großen Befreiungsschlag aussieht.
Für Scholz bietet diese Situation aber auch eine Chance. Ein Grund zumindest für einen Teil seiner bisher wahrgenommenen Zurückhaltung ist jetzt weg, nämlich die mühselige Moderatorenrolle im Hintergrund zwischen den ungleichen beiden anderen bisherigen Regierungspartnern. Es hängt jetzt davon ab, wie es gelingt, diese für die Bundesrepublik ungewohnte Phase im politischen Betrieb, die zudem belastet ist durch die bekannten außen- und sicherheitspolitischen Situationen und die Ungewissheiten nach dem Ausgang der US-Präsidentschaftswahl, zu managen.