Beim irre-verrückten und turbulenten Chaos-Grand Prix von Brasilien baute Sieger Max Verstappen seinen Vorsprung im giftigen Titel-Duell auf Rivale Lando Norris (McLaren) auf 62 Punkte aus. Kommenden Sonntag kann der Red-Bull-Pilot in Las Vegas vorzeitig zum vierten Mal Weltmeister werden.
Das 21. von 24 Rennen der Formel1-Rekordsaison 2024 wird als grandiose, spannende, bemerkenswerte, spektakuläre und denkwürdige Sensationsdarbietung in die Geschichtsbücher eingehen. Der Grand Prix am 3. November im legendären Autódromo José Carlos Pace in Interlagos (Deutsch: Zwischen den Seen) am Rande der Megametropole São Paulo war für die 20 Fahrer eine immense, gewaltige Herausforderung. Sintflutartige Regenfälle und enorme Gewitterzellen verhinderten den üblichen Ablauf des Rennwochenendes.

Das Qualifying, die Zeitenjagd für die Startaufstellung, musste nach einem Wolkenbruch von Samstag auf Sonntagfrüh 7.30 Uhr Ortszeit verschoben werden, was zum sechsten Mal in der Geschichte der Fall war (in Japan 2004, 2010 und 2019, in Australien 2013, in den USA 2015 und nun in Brasilien 2024). Fünf Stunden später folgte um 12.30 Uhr zu ungewohnter Zeit der Start zum Hauptrennen, dem GP Brasilien. Ein stressiger Sonntag für die Piloten. Hauptgegner im Qualifying und Rennen war das unberechenbare Wetter mit all seinen Begleiterscheinungen. Bei der Regen-Lotterie wurden etliche Fahrer auf dem rutschigen Asphalt zu segelnden Passagieren. So ziemlich alle Flaggenfarben bekamen die Piloten während ihrer zwei Sonntagsschichten zu sehen. Gelb für „Vorsicht, Gefahrenquelle“, gelb-rote Streifen für „Rutschgefahr“, Weiß für „Langsames Auto auf der Strecke“, Blau für „Überholen lassen“, Grün für „Gefahr vorbei“, Schwarz für „Disqualifiziert“.
Am häufigsten aber sahen die Fahrer Rot. Allein fünfmal wegen schwerer Unfälle in der Qualifikation, was Abbruch der Sitzungen bedeutete, die später (nach Aufräumarbeiten) aber fortgesetzt wurden. „Ich kann mich nicht daran erinnern, in einer Quali schon so viele Unfälle gesehen zu haben. Wie viele haben wir denn jetzt?“, wunderte sich auch Sky-Kommentator Sascha Roos.
Die rote Flagge – sie war auch im Regen-Rennen präsent und nicht zu übersehen. Und das ausgerechnet in einer Safety-Car-Phase, nachdem F1-Senkrechtstarter Franco seinen Williams-Boliden eingangs der Zielgeraden in der Mauer versenkte. Es war nach seinem heftigen Quali-Unfall der zweite Totalschaden des „Wochenend-Crash-Kings“ von o Paulo. Rote Flagge. Das Rennen wurde in der 31. von 69 Runden für 25 Minuten unterbrochen. In dieser Rennunterbrechung ist es erlaubt, die Reifen ohne Zeitverlust zu wechseln. Das war der Fall bei Verstappen und dem Alpine-Duo Esteban Ocon und Pierre Gasly. Nur neun Runden später, im Umlauf Nummer 40, musste Bernd Mayländer nach einem Dreher von Carlos Sainz im Ferrari erneut mit dem Safety Car ausrücken.
Verstappen behielt einen kühlen Kopf

Doch all diese Vorkommnisse ließen einen Fahrer unberührt und eiskalt: Max Verstappen. Der Red-Bull-Pilot bewahrte in der Hitze der Gefechte einen kühlen Kopf, die Ruhe und die Übersicht. Für den Weltmeister war sein 206. Grand Prix ein Rennen in (s)einer eigenen Liga, auf (s)einem eigenen Planeten. Diese 69 Runden des Ausnahmefahrers waren einfach nur phänomenal, einzigartig, außergewöhnlich, großartig, einmalig. Kurz: Der Husarenritt des Red Bull-Superstars durch die Wasserfontänen auf der hügeligen Strecke war eine Machtdemonstration von Weltklasse. Im Regenchaos erteilte der Bulle dem gesamten Fahrerfeld eine Lehrstunde. Und das von Startplatz 17! Der setzte sich zusammen als Zwölfter in der Qualifikation und der Strafversetzung wegen eines neuen Motors um fünf Plätze nach hinten. Und ganz vorne: Titel-Rivale Lando Norris. Nur noch 47 WM-Punkte Vorsprung hatte Verstappen vor diesem São Paulo-Rennen auf den McLaren-Fahrer (362:315). Zuvor im GP Mexiko (Sieger Sainz/Ferrari vor Norris und Leclerc/Ferrari) verlor Verstappen zehn WM-Punkte auf Norris. Nach rabiaten, aggressiven und rüden Abdrängungsmanövern im Duell mit Norris wurden Rennrüpel Verstappen zwei Zehn-Sekunden-Strafen aufgebrummt, und er wurde nur Sechster. Sky-Experte Ralf Schumacher: „Max fährt wie ein Straßenköter.“ Der Vollständigkeit halber noch nachzutragen: In Austin/Texas gelang Ferrari ein Doppelsieg (Leclerc vor Sainz). Bei diesem US-GP erhielt Norris wegen Verlassens der Strecke bei einem Überholmanöver gegen Verstappen nachträglich eine Fünf-Sekunden-Strafe und wurde Vierter hinter dem Niederländer. Für den Hinterkopf: Nach dem Ungarn-GP Ende Juli betrug Verstappens Vorsprung auf Norris schon 76 WM-Punkte (265:189). Doch dieser Brasilien-GP war für Verstappen ein Befreiungsschlag mit dem er seine Kritiker bestrafte. Das Verstappen-Rennen im Stenogrammstil: Mit einem Raketenstart schnappte sich Verstappen schon in der ersten Runde nach beeindruckender Aufholjagd sechs Gegner und rückte auf Position elf vor. Auch danach fuhr sich der Angreifer besonnen aggressiv durch das ganze Feld. In Runde 42 holte er sich die Führung, behielt sie bis ins Ziel. Dabei ließ er von Runde zu Runde die Gegner bei schwierigsten (Wetter-)Bedingungen im Rückspiegel immer kleiner werden. Er trickste sie alle aus und erlaubte sich bei seinen zwölf Überholmanövern keinen einzigen Fehler. Um ihn herum: Unfälle, Dreher und Ausrutscher zuhauf. In diesem allgemeinen Durcheinander und Getümmel fuhr der „fliegende Holländer“ seinen Kontrahenten noch mit 17 schnellsten Runden einfach davon (für die schnellste Runde gibt’s einen WM-Zusatzpunkt). Phasenweise fuhr er wie entfesselt – und brannte dabei wahres Feuerwerk ab. Am Ende kreuzte Verstappen mit einem Vorsprung von 19,5 Sekunden die Ziellinie vor Esteban Ocon und Pierre Gasly (beide Frankreich).
Beeindruckende Aufholjagd

Der Alpine-Rennstall und sein Fahrer-Duo Ocon/Gasly waren mit dem unerwarteten Doppel-Podium die Überraschung der Saison. In der Konstrukteurs-WM sprang das französische Team von Rang neun auf Platz sechs und vorbei an Williams, Racing Bulls und Haas. Titel-Rivale Lando Norris, Sieger im Samstag-Sprint und Erster in der Quali (Polesetter) für das Hauptrennen, wurde von Mercedes-Star George Russell (zweiter Startplatz) schon in der ersten Kurve abgekocht. Norris landete nach Strategiefehlern nur auf Platz sechs– hinter Russell (4.) und Charles Leclerc (5./ Ferrari).
Mit seinem achten Saisonsieg und seinem 62. GP-Erfolg insgesamt bescherte Verstappen seinem Bullen-Rennstall dessen 121. Triumph, der sechste in Brasilien. Für Verstappen war es sein dritter Triumph in São Paulo nach 2019 und 2023 und sein erster Sieg seit Spanien Ende Juni 2024 nach zehn erfolgslosen Rennen oder nach 133 ernüchternden Tagen. Ganz nebenbei knackte Verstappen einen F1-Rekord von Michael Schumacher. Am Montag nach seiner „Fahrt erster Klasse“ führt der 27-jährige Niederländer die WM-Wertung seit 897 Tagen an, Schumi stand zwischen den Jahren 2000 und 2003 insgesamt 896 Tage an der Spitze.
Nach seiner fulminanten Triumphfahrt bekannte Verstappen beim Siegerinterview: „Ich bin sprachlos. Meine Emotionen waren wie eine Achterbahnfahrt. Wir haben uns aus allem Ärger herausgehalten und die richtigen strategischen Entscheidungen getroffen. Ich bin im Auto förmlich geflogen. Ich hoffe, die Fans hatten ihren Spaß.“ Sein stolzer Vater Jos (52) sagt über die Leistung der Extraklasse des Sohnemannes: „Max hat heute gezeigt, wer der Beste ist. Er war nach seinen Kritikern super motiviert. Max hat der ganzen Welt gezeigt, wer der Allerbeste ist.“
Bullen-Teamchef Christian Horner (50) schwärmte: „Dieser Brasilien-Sieg von Max ist für mich eines seiner besten Rennen überhaupt. Seine Fahrt von Platz 17 auf eins unter schwierigsten Bedingungen war ein historischer Moment.“ Der letzte Pilot, der von Startplatz 17 aus gewann, war Kimi Räikkönen im McLaren (GP Japan 2005). Motorsport-Boss Helmut Marko (81) sagt über seinen Ziehsohn: „Max war in einer eigenen Welt, er ist geflogen, als er freie Fahrt hatte. Seine Überholmanöver, sensationell! Er hat eine unglaubliche Kontrolle über sein Auto.“ Der Grazer Jurist kommt zu der Erkenntnis: „Der vierte WM-Titel ist für Max in greifbarer Nähe.“ Ex-F1-Fahrer Christian Danner (66) gegenüber Motorsport-Magazin.com: „Verstappen hat das ganze Feld abgewatscht. Da war kein Verbremser, kein Rutscher, kein Fehler. Jedes Überholmanöver hat gesessen. All das musst du erst mal zusammenbringen, was der Max da gefahren ist.“ Fazit: Die (Motorsport-) Welt verneigt sich vor Max Verstappen.

Dieser GP Brasilien hatte aber auch seinen eigenen Klamauk. Lieferant der Situationskomik war Lance Stroll mit seinem Beitrag in Form einer Slapstick-Einlage allererster Güte. Schon im Qualifying krachte der Aston-Martin-Pilot in die Streckenbegrenzung und verursachte einen Abbruch. Sein fast völlig demoliertes Gefährt wurde noch rechtzeitig rennfähig auf die Räder gestellt. Zum Start dann der eigentliche Spaß: Die mühevolle Arbeit seiner Mechaniker „belohnte“ der „Klamauk“-Kanadier noch in der Einführungsrunde (Formation Lap) mit einem Abflug. Auf dem Asphalt am Rande des Granulatbettes kam er zum Stehen, hätte aber eigentlich weiterfahren können. Zwei asphaltierte Routen führten zurück auf die Strecke. Warum er sich dann allerdings entschied, durch das nasse Granulatbett zu fahren, bleibt sein Geheimnis. Und es kam, wie es kommen musste: Stroll vergrub seinen Boliden im Kiesbett. Seine groteske Aktion bedeutete das endgültige Aus – und sorgte für Unverständnis und Kopfschütteln bei Fans und im gesamten Fahrerlager wie bei Christian Danner: „Für mich war die Stroll-Nummer eine Mischung aus Unüberlegtheit, Doofheit und Gleichgültigkeit, das war eine Lachnummer.“ Der Milliardärs-Sohn von Teambesitzer Lawrence Stroll nannte hinsichtlich seines Abflugs die Bremsen als Grund für das Aus. Seine Erklärung: „Sobald ich auf die Bremsen ging, haben die Räder hinten blockiert, und ich war nur noch ein Passagier.“
Eine gewisse Situationskomik
Ein „schwarzes“ Wochenende erlebte auch Nico Hülkenberg. Im Sprintrennen ist der Haas-Pilot mit Getriebeschaden ausgefallen, in seinem 224. Grand Prix kreiselte der erfahrene F1-Veteran (37) von der Strecke. „Das Auto saß mit dem Unterboden auf, ich kam nicht weiter. Also haben mich die Streckenposten angeschoben, was nicht erlaubt ist“, gesteht der Niederrheinländer aus Emmerich. Wegen Inanspruchnahme fremder Hilfe sah „Hulk“ schwarz. Die schwarze Flagge bedeutet „Disqualifikation eines Fahrers“. Hülkenberg wird auch in der Saison 2025 der einzige deutsche F1-Fahrer sein, dann allerdings als Sauber-Pilot. Der Traum von Mick Schumacher, das einzige noch freie Vollzeit-Cockpit bei Sauber zu ergattern und Teamkollege von Hülkenberg zu werden, ist geplatzt, die Hoffnung nach zwei Jahren in einem Stammcockpit zu sitzen, gestorben. Drei Tage nach São Paulo verkündete der Schweizer Rennstall, der ab 2026 zum Audi-Werksteam wird, in einer Pressemitteilung: „Gabriel Bortoleto komplettiert unser Fahrer-Duo.“ Gleichzeitig verabschiedet sich das Team von Bottas und Zhou. Der 20-jährige Brasilianer Bortoleto kommt aus der McLaren-Nachwuchsakademie und ist Reservefahrer. Sein Teamchef Andrea Stella: „Wir geben ihn frei (gegen Bezahlung, Anm. d. Red.), wenn er die Chance auf einen Stammplatz hat.“ Experte Danner: „Damit ist die F1-Karriere von Mick Schumacher vorbei.“ Und die von Max Verstappen sehr wahrscheinlich um einen WM-Titel reicher. Liegt der „Regenkönig von Brasilien“ am Sonntag nach seinem ersten Matchball nach dem Las Vegas-GP, den er 2023 gewonnen hatte, mindestens 60 Punkte vor Rivale Norris, ist ihm WM-Triumph Nummer vier in Folge sicher. Für Sky-Experte Timo Glock (42) steht im WM-Kampf der Schwergewichte bereits fest: „Für Lando Norris ist der WM-Zug abgefahren.“