„The Outrun“ ist ein Drama um eine junge Alkoholikerin. Zum Symbol für den schwierigen Weg zur Heilung wird ein fast ausgestorbener Vogel. Saoirse Ronan brilliert in ihrer Rolle.

Alkoholismus ist eine schwere Krankheit, die für das Kino nur selten aufgegriffen wird. Es scheint, als scheue es die Filmbranche, sich mit den sehr komplexen Auswirkungen des Trinkens zu beschäftigen. Hin und wieder gelingt es doch, die Erlebnisse von Alkoholkranken erfolgreich zu verfilmen. Für „Leaving Las Vegas“ (1995) hat Nicolas Cage einen Oscar bekommen, in „28 Tage“ (2000) spielt Sandra Bullock die Hauptrolle und in „A Star Is Born“ (2018) glänzen Bradley Cooper und Lady Gaga. Die Regisseurin Nora Fingscheidt präsentiert mit ihrem Film „The Outrun“ ein Drama, das von den Zuschauern und Zuschauerinnen einiges an Aufmerksamkeit verlangt.
Rückzug in die Abgeschiedenheit
Die 29-jährige Rona trinkt gern und reichlich Alkohol und feiert in ihrer Wahlheimat London viele Partys. Immer häufiger geraten diese Abende außer Kontrolle, und Rona muss sich eingestehen, dass sie Alkoholikerin ist. Um diese Sucht in den Griff zu bekommen, verlässt sie London und zieht so weit weg, wie es in Großbritannien nur geht: auf die Orkney-Inseln, ganz oben im kalten und stürmischen Norden von Schottland. Dort, in ihrer alten Heimat, leben auch noch Ronas Eltern, die aber keine Hilfe sind bei Ronas Kampf gegen das Trinken. Die streng religiöse Mutter glaubt, mit viel Beten helfen zu können. Der Vater hat eine bipolare Störung und haust in einem kleinen Wohnwagen auf seiner Schaffarm. Rona bezieht eine kleine Hütte auf einem abgelegenen Küstenacker (dem „Outrun“). Sie schließt sich einer Umweltschutzorganisation an und soll Ausschau halten nach dem Wachtelkönig, einem fast ausgestorbenen Vogel.

Die Regisseurin Nora Fingscheidt hat Erfahrung damit, schwierige weibliche Hauptfiguren in ihren Filmen auf interessante Weise zu porträtieren. In ihrem ersten Langfilm „Systemsprenger“ durchläuft ein Mädchen einen Leidensweg zwischen wechselnden Pflegefamilien und erfolglosen Anti-Aggressions-Trainings. Ihr Hollywood-Debüt gab Fingscheidt mit „The Unforgivable“, in dem Sandra Bullock eine verurteilte Mörderin spielt.
Mit „The Outrun“ führt Fingscheidt den Weg fort, Frauen im Kampf mit ihren inneren Dämonen zu porträtieren. Der Film widersetzt sich den Gesetzen der Filmbranche. „The Outrun“ besteht aus vielen Szenen, die auf den ersten Blick keiner Einheit folgen und vom Zuschauenden zusammengesetzt werden sollen, um ein ganzes Bild zu ergeben. Der Film wechselt von der Gegenwart zu Ronas Kindheit und in ihr wildes Partyleben, dann zurück in die Kälte der Nordsee und in Ronas verschwimmende Welt des Suffs. Erst nach und nach ist die Logik zu erkennen, als ob ein zerbrochener Teller durch das Zusammensetzen der Scherben wieder seine runde Form bekommt. Ein wenig dient Ronas Haarfarbe als Orientierung. Mal sind die Strähnen rosa, mal blau, mal orange, aber am Ende des Filmes sind die Tönungen fast herausgewachsen – ein Zeichen, dass Rona tatsächlich auf dem Weg der Besserung ist.
Eine innerlich zerrissene Frau

Für dieses Trinker-Drama hat Nora Fingscheidt die passende Hauptdarstellerin gefunden. Die irisch-amerikanische Schauspielerin Saoirse Ronan charakterisiert diese innerlich zerrissene Frau, die im betrunkenen Zustand nicht zu ertragen ist. Sie wankt spätnachts durch die Bars und trinkt die herumstehenden Flaschen leer, sie ist ätzend-gemein zu ihrem Freund und übergibt sich unkontrolliert auf sich selbst. Als Identifikationsfigur eignet sich Rona nur schwer.
„The Outrun“ ist in Schnitt, Schauspiel und Kulisse so sperrig, dass andere Trinkerfilme wie „A Star Is Born“ oder „Leaving Las Vegas“ als seichter Kitsch erscheinen. Für Rona scheint die winterliche Nordsee der richtige Ort zu sein, um wieder zu sich zu finden. Sie braucht die Freundlichkeit der Menschen, die wenig reden und dennoch eine stabile Gemeinschaft bilden, weil es ohne ein Miteinander an der windigen Küste nicht geht. Als Teil dieser sozialen Gruppe lernt sie, die Natur und ihre Tiere zu erleben. Rona hilft bei der Geburt von Lämmern und ist fasziniert von den zahlreichen Robben, die sie vom Meer aus misstrauisch beobachten. Und dann ist da noch der Wachtelkönig, den sie trotz langer Nachmittage des Wartens nicht aufspüren kann. In seinem Nichtvorhandensein wird er zum Symbol ihrer Heilung und es ist bis zur letzten Szene offen, ob sie das scheue Tier wirklich findet.