Trotz Sanktionen: Europa macht nach wie vor Gasgeschäfte mit Russland
Seit mehr als zwei Jahren zirkuliert in der Europäischen Union ein eisernes Mantra: „Wir helfen der Ukraine so lange wie nötig.“ Die Gemeinschaft verhängte nach Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine eine Vielzahl von Sanktionen gegen Moskau. Der frischgebackene EU-Ratspräsident António Costa und die neue EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas versprachen bei ihrem Besuch in Kiew Anfang Dezember die „uneingeschränkte Unterstützung“ des Brüsseler Staaten-Clubs.
Doch das ist nur die eine Seite. Im Schatten der politischen Treueschwüre an die Ukraine machen europäische Länder nach wie vor Energiegeschäfte mit Russland und spülen somit Milliarden Euro in die Kriegskasse des Kremls. Hintergrund: Die EU-Sanktionen gelten nicht für die Einfuhren von russischem Gas. Seit Kriegsbeginn importierte die Gemeinschaft Gas für rund 97 Milliarden Euro aus Russland. Das hat die finnische Forschungsorganisation Center for Research on Energy and Clean Air (CREA) errechnet, die Schiffsrouten und Pipeline-Durchflüsse auswertet.
Einzelne Länder verzeichnen trotz des Krieges eine unverändert hohe Energie-Abhängigkeit von Moskau. So bezog Österreich im vergangenen Oktober 89 Prozent seines Gases aus Russland. Vorübergehend hatte Moskau die Lieferungen infolge eines Rechtsstreits gestoppt. Ungarn bekommt 80 Prozent seines Gases vom östlichen Nachbarn, die Slowakei 70 Prozent. Die Regierungen beider Länder gelten als russlandfreundlich.
Zwei Drittel des russischen Gases gelangen über zwei Pipelines in die EU. Ein Drittel kommt über Flüssiggas-(LNG-)Terminals, vor allem in Spanien, Frankreich und Belgien. Insgesamt stammen rund 15 Prozent der EU-Gasimporte aus Russland. Deutschland bezieht zwar seit dem 31. August 2022 kein Gas mehr direkt von der Rohstoff-Großmacht im Osten. Aber indirekt fließt russisches Gas über EU-Drittstaaten nach Deutschland. Auch deutsches Geld landet somit im russischen Staatshaushalt.
Nach Angaben von CREA hat die EU seit Kriegsbeginn Gas für rund 35 Milliarden Euro aus Russland importiert. Die größten Einkäufer zwischen dem 1. Januar 2023 und dem 6. Dezember 2024 sind Ungarn (5,03 Milliarden Euro), Belgien (4,46 Milliarden Euro), Spanien (4,45 Milliarden Euro) und Frankreich (4,29 Milliarden Euro). Es darf vermutet werden, dass Moskau mit günstigen Preisen lockt.
Aktuell wird Deutschland hauptsächlich aus Norwegen, Belgien und den Niederlanden versorgt. Der tückische Punkt: Führt Deutschland zum Beispiel eine bestimmte Menge Gas aus Belgien oder den Niederlanden ein, könnte sich auch ein Anteil an russischem Gas darunter befinden.
„Laut unseren Berechnungen kommen knapp fünf Prozent der deutschen Gasimporte indirekt aus Russland – und zwar über Lieferungen aus EU-Drittstaaten“, sagt Georg Zachmann, Energie-Experte der Brüsseler Denkfabrik Bruegel. „Man muss sich das so vorstellen: Jedes Nachbarland ist ein großer Swimmingpool, in den die Gasmoleküle hineinkommen. Die Menge wird kräftig durchgemischt, dann werden die Moleküle weitergeleitet.“ Die Bundesnetzagentur, eine Behörde unter dem Dach des Wirtschaftsministeriums, erhebt keine Importdaten aus den Nachbarstaaten.
Gelangt russisches Gas vor allem infolge der Intransparenz des Marktes nach Deutschland, geht es auf europäischer Ebene oft darum, Schadenersatzzahlungen zu vermeiden. Die meisten Lieferverträge wurden bereits 2018 geschlossen – lange vor der Energiekrise 2022.
Erstaunlicherweise fließt trotz des Krieges weiterhin russisches Gas durch die Ukraine Richtung Westen. Die Regierung in Kiew erhält für den Pipeline-Transit rund eine Milliarde Dollar pro Jahr aus Moskau. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat zwar angekündigt, den zum Jahresende auslaufenden Vertrag mit dem russischen Gaskonzern Gazprom nicht zu verlängern. „Es könnte aber auch sein, dass die Ukraine den Weiterbetrieb der Pipeline als politischen Hebel einsetzen will. Etwa, um von Ungarn oder der Slowakei Zugeständnisse zu bekommen“, betont der Bruegel-Forscher Zachmann.
Ein Ende der russischen Gaslieferungen nach Europa ist nicht in Sicht. Ein EU-weites Einfuhrverbot, wie es etwa der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen fordert, ist wegen des Einstimmigkeitsprinzips in der Gemeinschaft unrealistisch. Ungarn und die Slowakei würden dies torpedieren.