Die neue EU-Kommission hat ihre Arbeit aufgenommen. Für sie geht es um nicht weniger als darum, Europa zu behaupten. Im Wirtschaftswettbewerb ebenso wie politisch angesichts globaler Verwerfungen und Neuorientierungen.
Es ist eine große Inszenierung im Pressezentrum der EU-Kommission in Brüssel Anfang Dezember. Es ist das erste der üblichen „Midday-Briefings“ unter der neuen Kommission.
Paula Pinho, Chief Spokesperson, also Chefsprecherin der EU-Kommission, stellt die Kolleginnen und Kollegen in betont lockerer und launiger Atmosphäre vor. Es wirkt wie ein Kontrast zu dem, was in den Tagen zuvor bis zur endgültigen Entscheidung über die Besetzung der Kommission in Brüssel abgegangen ist. Und ein bisschen wie ein Signal: Es kann jetzt losgehen.
Große Sorge vor einem Rechtsruck
Nur wenige Schritte weiter, im Parlament, war zuvor heftig gestritten worden über die Personalvorschläge der Mitgliedsstaaten, insbesondere den aus Italien, den Rechtsaußen-Politiker Raffaele Fitto einzusetzen. Im Parlament ist der Rauch über den Streit noch nicht wirklich verflogen. Die Sorge vor einem Rechtsruck bestimmt weiter viele Gespräche unter den Abgeordneten. Aus gutem Grund.
Die Atmosphäre im EU-Parlament hat sich verändert seit der Europawahl, und das nicht zum Besseren, berichten Abgeordnete. Parteien am rechten Rand sind stärker geworden, und deren Auftreten bei den Plenarsitzungen wird immer radikaler. An den mühseligen Arbeiten in den Ausschüssen, wo zu zahlreichen Sachthemen um Lösungen gerungen wird, sind sie weniger interessiert. Ihr Augenmerk gilt eher den öffentlichen Auftritten. Abzulesen ist das auch an der Struktur ihrer Mitarbeiterstäbe. Während sich sonst etwa vier von fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Abgeordneten um die inhaltliche Arbeit kümmern – also Recherchen betreiben, Ausschusssitzungen vorbereiten – und sich einer darum kümmert, dass die Öffentlichkeit etwas von der Arbeit erfährt, ist das Verhältnis bei den Rechtsaußen- Parteien eher umgekehrt. Social-Media-Präsenz steht im Vordergrund.
Eine weitere Herausforderung für die Arbeit im Parlament: Desinformation.
Bislang standen gezielte Desinformationskampagnen von außen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das Europaparlament hat unterschiedliche Strategien entwickelt, um dem zu begegnen. Was aber, wenn gezielte Desinformation direkt aus dem Parlament heraus, von Abgeordneten und ihren Stäben, verbreitet wird? Bei der Frage nach einer wirklichen Gegenstrategie ist eine gewisse Ratlosigkeit unverkennbar.
In beiden Fällen spiegelt sich im Europaparlament, was auch im Bundestag und in Länderparlamenten bei AfD-Fraktionen zu beobachten ist: Wenig Interesse an Sacharbeit in Ausschüssen, dagegen großes Interesse an öffentlichkeitswirksamen Auftritten und medialer Präsenz zur Verbreitung der eigenen Narrative.
Im Europaparlament könnte sich das noch dadurch verschärfen, dass dort die unterschiedlichsten nationalen Rechtsaußenparteien vertreten sind, die sich in drei Fraktionen zusammengeschlossen haben. In den „Patrioten für Europa“ sind rechtspopulistische Parteien wie Rassemblement National, FPÖ, Lega oder Fidesz vertreten. Fraktionschef ist Jordan Bardella, ein politischer Ziehsohn von Marine Le Pen. Bei den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) sind Parteien wie die polnische PiS oder die italienische Fratelli d’Italia von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni vertreten. Und dann gibt es noch die Fraktion „Europa Souveräner Nationen“, der unter anderem die AfD und die französische Reconquête angehört. Dass diese zersplitterten Fraktionen untereinander um Aufmerksamkeit und Einfluss kämpfen, dürfte die Entwicklungen eher verschärfen.
Die neue Kommission steht im Grunde vor den alten Herausforderungen. In einigen Punkten sind bereits neue Antworten sichtbar.
So wird es erstmals einen Kommissar für Verteidigung und Raumfahrt geben. Die Aufgabe übernimmt der ehemalige litauische Ministerpräsident Andrius Kubilius. Bereits in ihrer ersten Amtszeit hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Generaldirektion für Verteidigung eingerichtet mit dem Hauptaugenmerk darauf, die europäische Verteidigungsindustrie voranzubringen. Die Generaldirektion war beim Kommissar für den Binnenmarkt, Thierry Breton, angesiedelt und sollte sich vor allem um gemeinsame Beschaffung von Waffen und Produktionskapazitäten zur Erweiterung der Rüstungsindustrie des Kontinents kümmern. Für Kubilius geht es nun weiter, er soll auch eine Verteidigungsunion voranbringen.
Dass Kaja Kallas die „Hohe Vertreterin“ der EU für Außen- und Sicherheitspolitik werden würde, stand schon lange fest und war unumstritten. Umstritten ist allerdings insgesamt die neue Konstruktion der Kommission.
Bisher hatten die Kommissare ähnlich wie Minister ziemlich klare Ressortzuständigkeiten. Das ist nun – mit einzelnen Ausnahmen – in weiten Teilen aufgelöst. „Wir haben die engen und starren Zuständigkeitskorridore abgeschafft“, erklärte die Kommissionspräsidentin, und begründet das damit: „Das gesamte College ist der Wettbewerbsfähigkeit verpflichtet.“
Damit hat von der Leyen klare Prioritäten gesetzt und unterstreicht auch eine Zeitenwende auf europäischer Ebene. War es zu Beginn der ersten Amtszeit der „Green Deal“ (Europa bis 2050 als erster klimaneutraler Kontinent), ist es nun neben der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Wettbewerbsfähigkeit. Das heißt nicht, dass der „Green Deal“ damit passé wäre. Aber die Akzente verschieben sich als Lehre aus der Pandemiezeit (Stichwort unterbrochene Lieferketten), aber auch als Konsequenz aus dem russischen Überfall auf die Ukraine. Industrial Green Deal ist ein Baustein, letztlich geht es aber auch darum, Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität ebenso zu steigern wie den Anteil strategisch notwendiger Produktion innerhalb der EU, um Abhängigkeiten zu reduzieren.
Zentral bleiben die globalen Herausforderungen. Der bevorstehende Präsidentenwechsel in den USA gehört ebenso dazu wie die Entwicklungen unmittelbar vor der Haustür: Ukraine, Georgien, Rumänien, Israel, Syrien sind Stationen, die aktuell in den Schlagzeilen sind. Es sind aber nicht die einzigen. Ein Thema ist auch Afrika, der Kontinent vor der Haustür, zu dem Europa durchaus zwiespältige Beziehungen hat. Überhaupt geht es darum, welche Rolle Europa in einer Zeit spielt, in der sich die globalen Verhältnisse insgesamt neu sortieren.
Lähmende Prinzipien besser überdenken
Dass als einer der ersten großen Akte der neuen Kommission das jahrzehntelang verhandelte Mercosur-Abkommen (Freihandelsabkommen mit den wichtigsten Staaten Südamerikas) unterzeichnet wurde, trotz nach wie vor erheblicher Widerstände, ist ein Ausdruck davon.
Für Handelsfragen ist die EU zuständig. In anderen Fragen muss sie schlagkräftiger werden, etwa in der Außenpolitik, bei der eine Reform des oftmals lähmenden Einstimmigkeitsprinzips zwingend erforderlich ist.
Und dabei wird sich Europa auch über seine grundlegenden Positionen mehr Klarheit verschaffen. Was bedeutet es, wenn ein Vertreter der Kommission feststellt, man habe in Europa inzwischen das Gefühl, die einzigen zu sein, die sich noch an die Regeln halten (die sich die Weltgemeinschaft einmal selbst erarbeitet und gegeben hat)? Der frühere Hohe Beauftragte, Josep Borrell, hat gefordert: „Wir müssen die Sprache der Macht lernen.“ Aber was heißt das? Eine Herausforderung für seine Nachfolgerin Kaja Kallas. Die Prioritäten angesichts der Entwicklungen sind recht klar, der Katalog der Aufgaben ist damit aber nur an den wichtigsten Punkten aufgeschlagen. Angesichts der enormen Herausforderungen gilt letztlich, wie man in Brüssel zu sagen pflegt: „Wir haben keine Zeit – für nichts.“