Endlich! Dank „Vera“ hat im Pankower Flora-Kiez wieder ein neues Restaurant eröffnet. Der Weg in den Berliner Norden lohnt sich, denn die Location überrascht durch ausgeklügelte und unerwartete Köstlichkeiten.

Im Norden Berlins gibt es einen Stadtteil, der unter anderem dafür berüchtigt ist, einst beliebter Wohnort für hochrangige SED-Parteifunktionäre gewesen zu sein. 1983 ließ es sich Udo Lindenberg nicht nehmen, dem Ost-Berliner Ortsteil ein Lied zu widmen und dabei auch DDR-Staatschef Erich Honecker aufs Korn zu nehmen. Das Lied „Sonderzug nach Pankow“ wurde zum Hit.
Nach der Wende war die Gegend beschaulich. Sehr beschaulich, um nicht zu sagen altbacken und langweilig. Ich kann das sagen, weil ich um die Jahrtausendwende direkt an jene Straße mit dem blumigen Namen gezogen war und dort ein Jahrzehnt lang wohnte. Zeitgleich mit meinem Wegzug blühte der Kiez plötzlich auf. In dem einst beschaulichen Wohnquartier zwischen Garbatyplatz und S-Bahnhof Wollankstraße eröffneten auf einmal Cafés und Buchläden. Junge Familien aus anderen Stadtteilen zogen her. Die geschichtliche Substanz des alten Pankow oszillierte immer mehr zum neuen Berliner Zeitgeist. Nur gastronomisch hinkte der Stadtteil dem benachbarten Prenzlauer Berg immer hinterher.
Da machte auch der bunter gewordene Flora-Kiez keine Ausnahme. Hier und da ein paar Dönerbuden, zwei Kneipen, irgendwo ein Eisladen, zwei Italiener – mehr hatte die über einen Kilometer lange Florastraße kulinarisch nicht zu bieten. Bis ich vor kurzem von einem neu eröffneten Restaurant hörte, das sich Casual Fine Dining auf die Fahnen geschrieben hat. Und das direkt an der Florastraße, Ecke Heynstraße. Man höre und staune. Gemeinsam mit einer Pankower Freundin mache ich einen kleinen Stadtteilspaziergang und wir flanieren durch meinen alten Kiez. Etwa auf der Mitte der langen Straße kommen wir im „Vera“ an.

Das Ambiente in dem Gründerzeithaus wirkt stil- und zugleich stimmungsvoll. Bodentiefe Fenster und kleine, schwarze Tischlampen auf den Holztischen spenden Licht an diesem novembergrauen Nachmittag. An den auberginefarbenen Wänden hängen großflächige Kunstwerke. Sämtliche Ölgemälde stammen aus der Hand der Pankower Künstlerin Siguna Wiehr, wie wir später erfahren. Für Atmosphäre sorgt auch der kleine, alte Kaminofen neben unserem Tisch, dessen Feuer wohlige Wärme verbreitet.
Klassisches Abendrestaurant

Herzstück in der Mitte der Location ist eine Bar-Theke, auf der das eingerahmte Porträt der Namensgeberin des Restaurants steht: Vera. Dabei handelt es sich um die verstorbene Großmutter des Küchenchefs und Mitbegründers Joey Passarella. Der New Yorker mit italienischen Wurzeln kann sich noch gut an sie erinnern. „Sie hat oft und gerne für alle gekocht und die ganze Familie zusammengehalten. Manchmal waren wir an die 40 Personen, die zusammenkamen und stundenlang gegessen haben.“
Mit dem Tod der geliebten Großmutter verstreute sich Joey Passarellas Familie. Ein Teil zog nach Florida, und er selbst ging kurz vor der Jahrtausendwende nach Berlin – der Liebe wegen.

Noch in den USA hatte er das French Culinary Institute in Manhattan besucht und arbeitete dort in den verschiedenen Restaurants. Später in Berlin kochte er unter anderem eine Zeit lang im „Grill Royal“ und im „Beef Grill Club“ des „Titanic Hotel“ am Gendarmenmarkt und war als Küchenchef im „Mogg & Melzer“ und im „Louis Pretty“ tätig. Vor sechs Jahren zog der Wahl-Berliner schließlich nach Pankow.
In der Küche lernte Joey Passarella auch den Berliner Koch Julien Walter kennen. Aus Kollegen wurden Freunde, und einige Jahre später taten sich die beiden Männer als Gründer zusammen. Irgendwann entstand die Idee, ein eigenes Lokal in Pankow zu eröffnen. Vorletzten Sommer war es dann soweit. Die beiden Gastronomen übernahmen das ehemalige „Café Genüsslich“ an der Florastraße/Ecke Heynstraße samt seiner Außenterrasse. Dabei veränderten die beiden Entrepreneure zunächst gar nicht so viel in dem ehemaligen Kaffeehaus. Das Mobiliar etwa blieb gleich, an die Wände wurden die bereits erwähnten Kunstwerke gehängt, und zunächst blieben auch die Öffnungszeiten gleich.

„Die Pankower brauchten dann auch eine ganze Weile, um zu realisieren, dass hier jetzt ein Restaurant drin ist“, erzählt Julien Walter im Gespräch. Monate nach der behutsamen Einführung änderte das Gastronomie-Duo schließlich die Öffnungszeiten. Seitdem ist das „Vera“ ein klassisches Abend-Restaurant, das ab 17 Uhr geöffnet hat. Ziel der beiden Köche war es, ein „Kiez-Wohnzimmer mit leckerem Essen“ zu etablieren, wie uns der Berliner berichtet. Dabei hat das Duo eine klare Arbeitsteilung vorgenommen: Während Julien Walter für den Service verantwortlich ist, werkelt Joey Passarella im Hintergrund als Koch.
Speisekarte entspannend übersichtlich

Die Speisekarte im „Vera“ ist entspannend übersichtlich: drei Vorspeisen, drei Hauptgänge, zwei Desserts. Im Mittelpunkt stehen dabei regionale Lebensmittel, die von der italienischen, der französischen und der asiatischen Küche inspiriert sind, wie wir erfahren. Wir beginnen bei unserem Besuch gleich mit allen drei Vorspeisen und einem Glas Ress Grauburgunder aus dem Jahr 2023 als Pairing, den die Berliner Sommelière Helen Mol den beiden Gastronomen als Hauswein empfohlen hat. Eine überaus gute Wahl, finden meine Begleiterin und ich einstimmig. Der bio-zertifizierte, rheinhessische Weiße ist bei einer moderaten Säure fruchtig, knackig und ausgewogen. Ich bin wahrlich kein Weißwein-Fan, doch diesen edlen Tropfen würde ich gern öfter genießen.

Die Vorspeisen halten geschmacklich, was ihre ästhetische Gestaltung auf den Tellern verspricht. Alle drei sind eine wahre Augenweide: Der Tafelspitz aus Kalbfleisch an Feldsalat, flambierten Apfel-Würfelchen und über Nacht eingelegten Radieschen besticht in den Farben Grün und Rosa. Noch farbintensiver gestaltet sich die Ziegenkäse-Praline an ofengerösteter Roter und Gelber Beete, karamellisierten Feigen und ein paar Krümeln von geröstetem Honigbrot. Dazu ein paar Kleckse Petersilienöl und Rote-Beete-Gel – und fertig ist das Farbspektakel. „Es könnte auch ein Dessert sein“, sagt meine Begleiterin begeistert über die Komposition aus süß, bitter und würzig.

In mystisches Violett kleidet sich Nummer drei: Vor uns steht ein Türmchen aus gebeiztem Lachs, marinierten Rotkohlstücken und lilafarbenen Tapioka-Crackern. Dazu kommen ein paar leuchtend rote Kleckse Cranberry-Gel und etwas Shiso-Öl. Meine Begleiterin und ich sind hingerissen – sowohl von dem überraschenden Gaumenfeuerwerk als auch von den unterschiedlichen Texturen aus zartem Fisch, knackigem Gemüse und den crunchigen Chips.
Vielschichtige Aromen bei den Desserts
Auch die beiden Hauptgänge bestechen uns durch ihre kreative Zubereitung, ihren Geschmack und ihre vielschichtige Textur. Das zarte Kabeljaufleisch und das samtige Petersilienpüree bilden ein passendes Pendant zu dem knusprig gepoppten Wildreis. Dazu gibt es noch ein paar Häppchen Blumenkohl, teils geröstet, teil roh mariniert. Eine fabelhafte Komposition! Auch der herbstlich angehauchte, vegetarische Hauptgang mit Butternut-Kürbis an gerösteten Buchweizenkügelchen, einer Maronen-Espuma und geriebener Belper Knolle begeistert uns vollends. Dabei erfahren wir nebenbei, dass die Belper Knolle kein Gemüse, sondern ein Schweizer Rohmilchkäse ist, der zurecht auch als „Käsetrüffel“ bezeichnet wird.
Vielschichtige Aromen finden sich zu guter Letzt auch bei unseren Desserts wieder: Wir können uns einfach nicht entscheiden, was köstlicher ist. Ist es die Schokoladen-Praline an einem Himbeersorbet oder ist es die pochierte Birne an karamellisierten Honigwaben, Minz-Crumbles und einer Tonkabohnen-Mousse? Egal, wir müssen uns heute nicht entscheiden. Stattdessen löffeln wir uns an beiden Varianten einfach glücklich. Etwas Besseres kann uns in Pankow nicht passieren.