Mit seinem historisch-bahnbrechenden Urteil vom 9. April hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erstmals den Schutz des Individuums vor den Auswirkungen des Klimawandels als festen Bestandteil der Menschenrechte verankert. Ein Präzedenzfall mit Signalwirkung und womöglich weitreichenden Konsequenzen.
Selbst erfahrene europäische Juristen waren angesichts der am 9. April 2024 mit einem Votum von 16 zu 1 Richterstimmen gefassten Entscheidung des in Straßburg ansässigen und 1959 etablierten Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) völlig überrascht worden. Kaum jemand hatte damit gerechnet, dass der oberste Hüter der 1950 verabschiedeten „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ einen solch historischen Meilenstein zugunsten des Schutzes des Individuums vor den schädlichen Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels treffen würde. Mit seinem Urteil hatte der EGMR nichts Geringeres als einen persönlichen Anspruch jedes Bürgers der Staaten des Europarats auf ausreichende Klimaschutzmaßnahmen festgeschrieben und gleichzeitig einen wirksamen Klimaschutz zu einem festen Bestandteil der Menschenrechte im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention deklariert.
Zusammenschluss von 2.500 Rentnerinnen
Der konkrete Hintergrund für die EGMR-Entscheidung, gegen die keine Rechtsmittel eingelegt werden können, waren gleich drei Klima-Klagen, die von einem Verein, einer Gruppe und einer Einzelperson eingereicht worden waren. Bei der Zulässigkeit der Klagen war der EGMR teilweise über seinen eigenen Schatten gesprungen. Eigentlich durften bislang nur Individualbeschwerden eingereicht werden. Sogenannte Popularklagen waren ausgeschlossen geblieben, weil eine persönliche Betroffenheit des Klägers verlangt wurde. Da der Klimawandel aber eine wissenschaftlich so komplexe Angelegenheit ist, die das erforderliche Wissen und die Ressourcen einer Einzelperson in der Regel weit überschreiten dürfte, machte der EGMR bei diesem Thema eine Ausnahme und sprach sich dafür aus, auch Verbände als klagebefugt anzusehen. „Bisher konnten nur einzelne Personen klagen“, sagte Jura-Professor Gerd Winter von der Universität Bremen in der ARD. „Aber das Gericht hat akzeptiert: Klimaschutz ist etwas anderes, Klimawandel betrifft sehr viele, und da sollte man die Interessen bündeln. Aber nur in der Form von Verbänden.“
Zwei der drei Klagen wurden vom EGMR allein schon aus formalen Gründen zurückgewiesen. Sechs portugiesische Jugendliche im Alter zwischen elf und 24 Jahren hatten gleich 32 europäische Staaten wegen der verheerenden und ihre Gesundheit vermeintlich nachhaltig beeinträchtigenden Waldbrände im Jahr 2017 in Portugal an den Pranger stellen wollen. Da sie ihr Anliegen allerdings nicht vorab wie vorgeschrieben bei heimischen Gerichten vorgebracht hatten, sondern sich direkt an den EGMR gewandt hatten, wurde ihre Klage als unzulässig deklariert. Ein ehemaliger Bürgermeister der nordfranzösischen Küstenstadt Grande-Synthe wollte den französischen Staat verklagen, weil dieser aus seiner Sicht keine ausreichenden Maßnahmen gegen den Klimawandel getroffen hatte, um damit Überflutungen in seiner Heimat wirksam vorbeugen zu können. Da der Mann aber inzwischen Mitglied des EU-Parlaments ist, konnte der EGMR keine persönliche Betroffenheit des Klägers akzeptieren und daher dessen Beschwerde nicht zulassen.

Die dritte Klage, die vom „Verein KlimaSeniorinnen Schweiz“ eingereicht worden war, brachte allerdings den sensationellen Durchbruch. Der Zusammenschluss von rund 2.500 rüstigen eidgenössischen Seniorinnen war mit Unterstützung durch Greenpeace initiiert worden und hatte danach über sämtliche gerichtliche Instanzen in der Schweiz letztlich vergeblich versucht, seine Forderungen an die Bundesregierung nach einem wirksameren Klimaschutz, vor allem was die Reduzierung von Treibhausgas-Emissionen betraf, durchzusetzen. Die Seniorinnen hatten argumentiert, dass die Schweiz viel zu wenig unternommen habe, um die klimaschädlichen Emissionen einzudämmen, und dass speziell ältere Frauen von den immer häufigeren Hitzewellen aufgrund des Klimawandels besonders stark betroffen seien.
Bei ihrer Klage vor dem EGMR monierten sie Verstöße der Schweizer Behörden gegen drei Paragrafen der Europäischen Menschenrechtskonvention, wobei ihre Berufung auf Artikel 2, dem Recht auf Leben, vom EGMR nicht akzeptiert wurde. Wohl aber die Missachtungen von Artikel 6, dem Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, und vor allem von Artikel 8, dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, besonders bezüglich des Schutzes der Gesundheit.
Der EGMR verurteilte die Schweiz wegen mangelndem Klimaschutz, wodurch die verbrieften Menschenrechte der klagenden Seniorinnen verletzt worden seien. Laut EGMR habe es die Schweiz insbesondere versäumt, nationale Emissionsbegrenzungen beispielsweise in Gestalt eines Kohlenstoffbudgets zu erlassen. Zudem habe das Land in der jüngsten Vergangenheit seine selbst gesetzten Ziele zur Verringerung des Treibhausgas-Ausstoßes verfehlt. Damit hatte der EGMR bei seiner ersten Klimaklage-Anhörung der Geschichte gleich erstmals ein europäisches Land wegen nicht ausreichendem Klimaschutz verurteilt. Und damit zugleich ein Menschenrecht auf Klimaschutz anerkannt.
Weltweit mehr als 2.000 Klagen anhängig
„Das ist ein maximaler Sieg“, sagte die Co-Vorsitzende der Klima-Seniorinnen Rosmarie Wydler-Wälti. „Jetzt haben wir nach Artikel 2 und 8 ein Recht auf Gesundheit und ein gutes Leben.“ Ihr Land habe Fehler gemacht und müsse daher künftig den Kurs seiner Klimapolitik grundlegend ändern. Ob und inwieweit das geschehen wird, bleibt abzuwarten. Die Richter des EGMR müssen sich stets darauf verlassen, dass die jeweiligen Regierungen ihre eigentlich strikt verbindlichen Urteile in der nationalen Gesetzgebung umsetzen. Bei Untätigkeit kann der EGMR Geldstrafen verhängen, die staatlicherseits an die Geschädigten gezahlt werden müssten.
Das Urteil wird allgemein als Präzedenzfall und Grundsatzentscheidung mit Signalwirkung eingestuft. „Die Entscheidung bindet Regierungen in ganz Europa, nicht nur in der Schweiz, wissenschaftlich fundierte Klimaschutz-Ziele zu setzen, die die Erwärmung unter 1,5 Grad halten können. Das Urteil kann jetzt direkt bei Prozessen auf nationaler Ebene als Referenz herangezogen werden“, sagte Gerry Liston, Rechtsanwalt beim gemeinnützigen globalen Juristen-Netzwerk GLAN, gegenüber der Deutschen Welle. „Deutsche Gerichte werden künftig Klimaschutz-Klagen wohl kaum mehr so leicht abblocken können. Die Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen beim Klimaschutz könnte laut Straßburger Rechtsexperten eine erhebliche Klageflut nicht nur vor dem EGMR, sondern auch vor unzähligen nationalen Instanzen zur Folge haben. Vor dem EGMR sind aktuell schon sechs weitere Klimaklagen anhängig.
Nach Angaben des UN-Umweltprogramms UNEP sind weltweit mehr als 2.000 Klagen wegen klimaschädlichen Verhaltens vor allem vor nationalen Gerichten in Bearbeitung, die Mehrzahl davon in den USA. In Deutschland wird zu überprüfen sein, inwieweit das aktuelle Klimaschutzgesetz den durch das EGMR-Urteil neu gesetzten Vorgaben entsprechen kann. Schon im April 2021 war vom Bundesverfassungsgericht das damals gültige Bundes-Klimaschutzgesetz als teilweise verfassungswidrig eingestuft worden, weil dieses klimapolitische Lasten zu stark auf künftige Generationen abgewälzt hatte.