Es ist die Zeit der markigen Sprüche und einer Umfragen-Inflation. Der 23. Februar soll der Tag einer Richtungsentscheidung werden, zumindest darüber sind sich alle einig. Ansonsten hält sich die allgemeine Begeisterung für den Wahlkampf noch in überschaubaren Grenzen.
Statt eine Torte ins Gesicht zu bekommen, wird Christian Lindner mit einer gehörigen Portion Seife überzogen, in München lässt sich Robert Habeck als „Bündniskanzler“ auf das Siegestor projizieren, Olaf Scholz entdeckt in den Äußerungen von Friederich Merz viel „Tünkram“, und auf „X“ erklärt kurzerhand mal Alice Weidel Herrn Musk ihre Sicht der deutschen Geschichte und Hitler zum Kommunisten. Und das war erst der Anfang eines außergewöhnlichen Wahlkampfes, in dem vermutlich noch einiges zu erwarten ist.

Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hält diese Bundestagswahl für fast schon so wichtig wie die allererste der damals jungen Bundesrepublik 1949. Jedenfalls sind sich alle Wahlkämpfenden zumindest in dem Punkt einig, dass es um eine Richtungsentscheidung gehen soll.
Das ist angesichts der äußeren und inneren Umstände, unter denen diese Wahl stattfindet, nicht von der Hand zu weisen. Die Versuche, diese Wahl auch von außen zu beeinflussen, belegen, dass das auch andere so sehen. Und nach Einschätzung von Politik-Analytikern könnte sich dieser Wahlkampf nach dem 20. Januar, dem Tag der Vereidigung von Donald Trump, noch einmal deutlich verändern. Dann nämlich, wenn Trump nicht mehr nur als „President elect“ seine Botschaften in die Welt sendet, sondern als Präsident auch Fakten schafft.
Kandidaten mäßig überzeugend
Wer sich dann als Kanzler damit auseinandersetzen muss, scheint vielen in den ersten Tagen des neuen Jahres klar. Der Umfragevorsprung der Union scheint so stabil und die Fortschritte der SPD bei der Aufholjagd scheinen so bescheiden, dass die Sache für viele sicher ist. So sehr, dass man heftig darüber streitet, wer neben der Union am Regierungstisch Platz nehmen darf. Das Problem ist nur: Eine deutliche Mehrheit ist von keinem der vielen Kanzler- oder Spitzenkandidaten wirklich überzeugt. Günstigenfalls sind zuletzt in Umfragen Werte von an die 30 Prozent Zustimmung erreicht worden (Merz, Habeck), wobei sich gleichzeitig günstigenfalls 60 Prozent bei Merz und deutlich mehr bei allen anderen unzufrieden mit dem Personalangebot geäußert haben.

Ein ganz ähnliches Bild ergibt sich schon seit längerem bei der Frage, welcher Koalition die Menschen am ehesten zutrauen würden, die aktuellen Herausforderungen des Landes zu bewältigen.
Was die Parteien an inhaltlichen Angeboten machen, hat sich erst nach und nach herausgeschält. Offiziell wurde vieles erst an zwei großen Parteitagswochenenden zum Jahresauftakt. Da wurden dann auch Gegensätze und Kontroversen klar. Nur in einem herrscht ziemlich unisonso Einigkeit: Es wird eine „Richtungswahl“. Das wurde zwar auch schon in früheren Wahlen immer wieder betont, aber diesmal ist das Wort angesichts der Konstellation, Positionen und Personen durchaus gerechtfertigt. Die prägnanteste Formulierung dafür lieferte Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig beim SPD-Parteitag in Berlin. Es gehe schlicht um die Alternative zwischen dem „Brückenbauer“ Olaf Scholz und dem „Spalter“ Friedrich Merz.
„Brückenbauer“ gegen „Spalter“
Schon in den Wochen zuvor hat sich abgezeichnet, dass sowohl SPD als auch Union ihre traditionellen Profile schärfen und damit in die Wahlkampfauseinandersetzungen gehen wollen. Die SPD als Partei der sozial Schwächeren und der arbeitenden Bevölkerung („ganz normale Leute mit Herz und gesundem Menschenverstand“; Olaf Scholz) mit Themen wie Mindestlohn, bezahlbarer Wohnraum und sichere Rente – und die Union, bei der immer wieder das Motto „Leistung muss sich wieder lohnen“ auftaucht, wie Markus Söder betont: „pro Leistung und gegen Bürgergeld“.

Es ist eine Richtungswahl auch in der politischen Farbenlehre. Die Entwicklung in Österreich, wo ein Bündnis von Parteien der Mitte am Unvermögen zum politischen Kompromiss gescheitert war, steht nun eine Regierung unter Führung der rechtspopulistischen FPÖ im Raum. Das hat auch im deutschen Wahlkampf die „Brandmauer“-Diskussion neu beflügelt. Friedrich Merz hatte ebenso wie der Chef der Schwesterpartei CSU, Markus Söder, zwar immer wieder betont, dass die „Brandmauer“ zur AfD stehe. Das aber hatte auch die österreichische konservative ÖVP im Wahlkampf immer betont – und verhandelt nun doch mit der FPÖ.
Für Bundeskanzler Olaf Scholz Grund zur Warnung: „Wenn wir in Deutschland am 23. Februar falsch abbiegen, dann werden wir am Morgen danach in einem anderen Land aufwachen. Das darf nicht passieren.“
Die Union ihrerseits demonstriert nach außen Geschlossenheit, auch wenn bei der Traditionsklausur der CSU im Kloster Seeon die ebenso traditionsreiche unterschwellige Spannung zwischen den Schwesternparteien deutlich spürbar war. Einigkeit zwischen beiden herrscht in ihrem gemeinsamen Wahlkampf-Hauptthema: Wirtschaft. Die Union kann sich darauf stützen, dass ihr in diesem Bereich ebenfalls traditionell höhere Kompetenzwerte zugemessen werden. Die CDU benannte schon gleich zum Jahresbeginn ihre Parteizentrale sichtbar zum „Haus der Wirtschaftswende“ um. Kernpunkte sind unter anderem, dass Unternehmen „nicht mehr als 25 Prozent Steuern“ auf Gewinne zahlen und der Solidaritätszuschlag abgeschafft wird.
Ob nun die SPD den Sozialbereich stärken und Menschen entlasten oder die CDU Steuererleichterungen und eine Entlastung der Wirtschaft will, oder auch andere Parteien ähnliche Forderungen erheben, sind sich Wissenschaftler unterschiedlichster Institute in der Einschätzung ziemlich einig: So, wie die Forderungen im Wahlkampf erhoben werden, sind sie schlicht nicht bezahlbar. Die vorgeschlagenen Einsparungen reichen dazu nicht aus. Und die Hoffnungen auf wieder sprudelnde Steuereinnahmen sind angesichts
der Konjunkturerwartungen nicht sonderlich belastbar.

Das zweite große Thema dieses Wahlkampfes neben der Wirtschaft, nämlich Migration, ist durch Äußerungen von Friedrich Merz beflügelt worden. Wobei bereits vorher deutlich war, dass die Union nicht nur beim Bürgergeld, sondern auch bei der Migration sparen will. Die Union hat nun auch die Aberkennung der doppelten Staatsbürgerschaft für Straftäter gefordert, was auf teilweise heftigen Widerspruch gestoßen ist.
Der schärfere Ton in der Migrationsdebatte ist durch die AfD nun noch weiter zugespitzt worden. Das Wort von der „Remigration“ steht jetzt auch ganz offen in deren Wahlprogramm.
Vor einem Jahr hatten Enthüllungen von „Correctiv“, bei denen das Wort eine zentrale Rolle gespielt hat, noch für zahlreiche Großdemonstrationen gegen eine solche Politik überall in der Republik gesorgt, AfD-Politiker hatten versucht, zu beschwichtigen. Nun verkündet Kanzlerkandidatin Alice Weidel: „Und wenn das dann Remigration heißt, dann heißt das eben Remigration!“ In entsprechenden Kreisen ist damit nicht nur die massenhafte Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern, sondern auch von Deutschen mit Migrationshintergrund gemeint. Im Wahlprogramm wird dann vieldeutig von Menschen, die „ausländische Konflikte auf deutschem Boden“ austragen, gesprochen.
Während die AfD in diesem Punkt also ihre Positionen zuspitzt, wie übrigens auch in der Europapolitik oder zu Gender-Studien („Schaffen wir ab und schmeißen diese Professoren raus“), hat es auf dem Wahlparteitag in Riesa in einem Punkt eine Wende gegeben. Waren die Grünen früher auserkorener Hauptgegner, richteten sich nun die Angriffe gegen die Union („Betrüger-Partei“).

Die Grünen wiederum führen geschlossen einen Wahlkampf für ihren Kanzlerkandidaten Robert Habeck. Während auch der neue Vorsitzende Felix Banaszak eine „Richtungswahl“ ausgerufen hat, ist Habeck darum bemüht, sich als Kandidat einer Partei mit „Verantwortung und Seriosität“ zu präsentieren, der den Menschen zuhört. Das sollte auch sein Auftaktvideo signalisieren, in dem er Gespräche mit den Menschen an ihrem Küchentisch angeboten hat.
Das hält ihn nicht davon ab, mit markigen Worten aufzutreten, wenn er in Richtung CSU von „dummen Sprüchen“ redet oder das CDU-Wahlprogramm als „einzige Flunkerkanone“ einordnet, weil deren Wahlversprechen nicht zu finanzieren seien. Die Grünen wollen mit ihrer Politik einen „Dreiklang“: Privathaushalte gerade im unteren Bereich entlasten, Klima und Lebensgrundlagen schützen und die Wirtschaft mit Zukunftstechnologien ankurbeln.
FDP wirbt für Schwarz-Gelb
Parteichef Banaszak ordnete dazu aus grüner Sicht ein: „Friedrich Merz ist extrem gut darin, Probleme zu beschreiben“, und Kanzler Olaf Scholz (SPD) sei jemand, „der die Probleme in aller Ruhe bestaunt“. Robert Habeck stehe für Lösungen. Trotz der Wahlkampfspitzen zeigt der sich besorgt um den Zustand der Republik und nennt, das Beispiel Österreichs vor Augen, diese Wahl auch eine Richtungsentscheidung „über die politische Kultur in diesem Land“.
Die FDP muss nach dem provozierten Bruch der Ampel-Koalition einmal mehr um den Wiedereinzug in den Bundestag kämpfen. Ihr Wahlkampf ist komplett auf Parteichef Christian Lindner zugeschnitten. Weil der befürchtet, dass das geänderte Wahlrecht für die FDP ein zusätzliches Problem werden könnte, hat er schon mal dringlich an die CDU appelliert: „Wenn Union und FDP gemeinsam sagen würden, wir sind bereit, für eine Mehrheit zu kämpfen, wählt nicht AfD und BSW, sondern gebt uns ein Mandat, damit wir ohne SPD und Grüne regieren können, würde das die politische Landschaft umwälzen“, sagte Lindner gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Eine Forderung, die er ähnlich wiederholte, auch vor dem Hintergrund, dass innerhalb der Union zwischen CDU und CSU eine heftige Debatte über eine mögliche Koalition mit den Grünen (oder eine GroKo mit der SPD) ausgebrochen war. In früheren Zeiten hat es auch schon mal eine „Zweitstimmenkampagne“ für die FDP gegeben. Nach dem neuen Wahlrecht, das der Zweitstimme (der Stimme für die Partei) ein größeres Gewicht bei der Sitzverteilung gibt, macht das aber keinen Sinn mehr.

Für die FDP wäre eine konservativ-liberale Koalition die einzige Option zu einer neuerlichen Regierungsbeteiligung, eine Zusammenarbeit mit den bisherigen Ampel-Partnern dürfte ziemlich ausgeschlossen sein. Dafür müssten die Liberalen aber erst einmal die Fünf-Prozent-Hürde nehmen. Kurz nach dem Ampel-Aus meinten zwei Drittel der Bundesbürger, sie würden es nicht bedauern, wenn die FDP nicht mehr im Bundestag wäre, ein Drittel aber schon. Ob die FDP dieses Drittel mit dem Wahlkampfslogan „Alles lässt sich ändern“ überzeugen kann, müssen die nächsten Wochen zeigen. Für die FDP ist es auch ein Existenzkampf, weil die Partei in den letzten Jahren ganz auf Christian Lindner zugeschnitten war.
Es bleibt vieles möglich
Völlig anders die Ausgangslage für das BSW. Ein Jahr nach Gründung steht das Bündnis Sahra Wagenknecht in seinem ersten Bundestagswahlkampf. Dessen Abschneiden könnte die Möglichkeiten zur anschließenden Regierungsbildung deutlich beeinflussen, was sowohl einen möglichen Einzug ins Parlament betrifft als auch ein mögliches knappes Scheitern, das sich auf die übrige Sitzverteilung auswirken würde.
Politisch ist das BSW auch nach der Verabschiedung eines Wahlprogramms nur schwer in dem klassischen Raster zu verorten. „Das ist nicht rechts, das ist einfach nur vernünftig“, meint Gründerin Wagenknecht beispielsweise zur Migrationspolitik des BSW, die einen harten Kurs unter anderem mit der Forderung nach Asylverfahren außerhalb der EU vertritt. Außerdem verlangt das BSW ein Ende der Sanktionen gegen Russland, weil das ein „Killerprogramm“ für deutsche und europäische sowie gleichzeitig ein Konjunkturprogramm für amerikanische Unternehmen sei.

Gleichzeitig zeigt das BSW ein ausgesprochen sozialpolitisches Profil, fordert etwa einen bundesweiten Mietendeckel, will einen höheren Mindestlohn und Großvermögen besteuern. Zugleich hat Sahra Wagenknecht für nach der Bundestagswahl auch schon mal ein „Kompetenz-Kabinett“, also eine Experten-Regierung ins Gespräch gebracht.
Die Linke hat es nach der Spaltung (und der Gründung des BSW) schwer, die Fünf-Prozent-Hürde zu knacken. Für sie gibt es auch nach dem neuen Wahlrecht dank Urteil des Bundesverfassungsgerichts weiter die Möglichkeit, über drei gewonnene Direktmandate (Grundmandate) in den Bundestag einzuziehen. Dazu haben drei pfiffige alte Herren, die sich teilweise eigentlich schon auf den Ruhestand eingerichtet hatten, die „Mission Silberlocke“ mit Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch gestartet. Falls es bei einem mit einem Direktmandat nicht klappt, ist da noch der Leipziger Sören Pellmann, mit 47 der Youngster. Sie alle stehen für bekannte linke Positionen.
Die Umfragen geben, wie erwähnt, zwar bis Anfang Januar ein einigermaßen konstantes Bild. Dennoch bleibt vieles im Endspurt in diesem ungewöhnlichen Wahlkampf möglich. Ein Bundestag mit lediglich vier Parteien ist ebenso möglich wie einer mit sieben.