Das finnische Quintett Nightwish um Songschreiber und Keyboarder Tuomas Holopainen ist mit 1,5 Milliarden Streams eine der erfolgreichsten europäischen Metalbands. Wir erfuhren von Holopainen, warum ihn die Vergangenheit inspiriert und was es ihm bedeutet, ein Nachfahr von Martin Luther zu sein.
Herr Holopainen, welche musikalische Vision hatten Sie in Ihrem Kopf, als Sie an ein neues Album dachten?
Ich versuche immer, nicht zu viel im Voraus zu denken. Ich lasse einfach die Magie in mein Gehirn und in meine Finger fließen. Ich denke nie zu viel darüber nach, wie ein Album klingen soll, ob es härter oder folkiger werden soll. Nichts von diesem Unsinn ist mein Ding. Da ist etwas Magisches im Gange, ja.

Sind die Worte genauso wichtig wie die Musik?
Die Geschichte steht immer an erster Stelle. Ich möchte, dass die Welt sie hört. Ich frage mich immer, was ist das bestmögliche Medium, um sie so lebendig wie möglich zu machen. Und dann muss ich mir überlegen, welche Art von Melodien ich verwenden will, welche Songstruktur und welche Instrumente. Vielleicht füge ich noch ein Orchester und einen Chor hinzu. Es ist ein riesiges Puzzle. Irgendwann merkt man, dass man jetzt alle Teile hat und es wirklich funktioniert. Musik ist ein Rätsel. Warum klingt das so wunderbar? Warum erzählt diese Melodie auf diesen Akkorden diese besondere Geschichte? Darauf habe ich keine Antwort. Deshalb liebe ich die Musik so sehr.
In Ihren Texten observieren Sie gern die Welt und Ihre Umgebung. Haben Sie jetzt die bemerkenswertesten Beobachtungen in Songs gegossen?
Die Welt ist ein so inspirierender Ort, ein Fass ohne Boden. All die verschiedenen Menschen, die man trifft, die Geschichte, die Vergangenheit, die persönlichen Erfahrungen und Gefühle. Du verarbeitest all deinen Herzschmerz in den Liedern. Manchmal ist es weitaus weniger persönlich, wie wenn man durch eine wissenschaftliche Beobachtung oder eine wahre Lebensgeschichte inspiriert wird. Alles, was dir ein Kribbeln im Nacken verursacht, könnte theoretisch zu einem Song werden.
In dem Album und im Booklet beschwören Sie die Geister der Vergangenheit. Welche Botschaft haben die?
Die Vergangenheit war die Basis für alles, was auf diesem Album passiert. Ich habe mich von alten Schwarz-Weiß-Fotos und Filmschnipseln aus dem England des späten 19. Jahrhunderts inspirieren lassen. Diese Menschen haben vor etwa 150 Jahren existiert und es fühlt sich immer noch wie eine andere Welt an. Aber wenn man diese Bilder in Farbe sieht, werden sie lebendig, als wären sie gestern aufgenommen worden. In dem Moment passiert in meinem Kopf etwas Magisches. Ich nenne das „Yesterwynde“.
Sie haben in die historischen Fotos die einzelnen Bandmitglieder hineinmontiert. Wollen Sie auf diese Weise in einen imaginären Dialog mit Ihren Vorfahren treten?
Ja, so könnte man es ausdrücken. Diese Bilder stammen aus den 1880er- und 1890er-Jahren. Wir wollen die Welt von heute mit unserer Metalband mit der Welt dieser Personen aus der gar nicht so fernen Vergangenheit verbinden. Mir gefällt die Vorstellung, dass die Menschen auf den Fotos wissen, was wir mit ihnen im Jahr 2024 getan haben.
Die Menschen auf den Fotos wirken wie Geister oder Gestalten, die in einer Seance heraufbeschworen wurden.
Ja, sie sind jetzt Geister, physisch existieren sie nicht mehr. Aber ihre Atome existieren noch, sie sind über das ganze Universum verstreut. Sie haben uns auch zu der Musik auf diesem Album inspiriert. Die Hauptthemen auf „Yesterwynde“ sind Zeit, Erinnerungen, Menschlichkeit und Sterblichkeit. Die Kernaussage lautet, dass es eigentlich unglaublich ist, dass wir hier in diesem Moment leben. Wir sollten wirklich jede einzelne Sekunde wertschätzen.

Finden Sie es herausfordernder, Musik für ein Orchester zu schreiben, als für eine Rockband?
Es ist eine ähnliche Sache. Wenn wir bei Nightwish die Orchesterarrangements anfertigen, denke ich einfach, dass das Orchester so spielen würde, wie ich mit meinen Keyboards spielen würde – als hätte ich 20 Hände und die bestmöglichen Samples der Welt. Es ist sehr wichtig, dass sich das Orchester in die Musik integriert und nicht nur zum Spaß dabei ist. Es ist da, weil es cool ist. Es muss uns helfen, eine Geschichte zu erzählen.
Die Orchesterparts und der Kinderchor wurden in den berühmten Abbey Road Studios aufgenommen. Am Pult stand Stardirigent James Shearman Er hat Soundtracks für „Harry-Potter“-Filme eingespielt.
Ich kenne James schon seit mehr als 20 Jahren. Ursprünglich wollten wir dieses Mal einen anderen Orchesterarrangeur haben, Pete Williams, aber er war nicht verfügbar. Also dachten wir, James wäre der perfekte Ersatz, denn er hat alles dirigiert, was wir bis heute mit dem London Orchestra gemacht haben. Er kennt den Sound von Nightwish.
Warum ausgerechnet in den Abbey Road Studios?
Weil es der perfekte Ort für Orchesteraufnahmen ist. Ich kann nicht wirklich Noten lesen, also habe ich alle Teile für das Orchester und den Chor so gespielt, wie ich sie in meinem Kopf höre. Ich spielte die Stimmen der Oboe, der Flöte und der Bratsche mit meinem Keyboard ein und schickte die Dateien an James Shearman. Er arrangierte sie dann für das Orchester. Dieser Prozess dauerte sechs Monate und wir haben täglich telefoniert.
In Abbey Road haben Sie auch das Stück „The Children of ’Ata“ aufgenommen – mit Sängern aus Tonga. Wie war diese Begegnung?
Das Lied erzählt eine wahre Geschichte von tonganischen Schiffbrüchigen im Jahr 1965. Da es um Kinder geht, habe ich Einheimische das Lied singen lassen. Ich wollte die Hörer in den Südpazifik versetzen. Dirigent James fand diese Sängerinnen in London. Sie schrieben dann sogar Textpassagen in ihrer Muttersprache. Es ist ein altes Gebet. Für mich persönlich einer der Höhepunkte des Albums.
Inspiration für den Song „The Antikythera Mechanism“ war eine griechische astronomische Rechenmaschine aus dem ersten Jahrhundert vor Christus. Was können wir von den alten Griechen lernen?
Die Kernaussage dieses Liedes ist, dass die Menschheit vor 2.100 Jahren weitaus fortschrittlicher war als vermutet. Diese besondere Maschine gilt heute als der erste analoge Computer. 100 Jahre vor Christus, wie unglaublich ist das! Danach fiel die Menschheit ins finsterste Mittelalter und kehrte erst im Zeitalter der Aufklärung zurück, dem 16. Jahrhundert. Es ist sehr inspirierend, dass bereits die alten Griechen in der Lage waren, diese Art von Maschine zu bauen.
Lesen Sie viel über Geschichte?
Ich bin großer Fan von populärer Wissenschaft und Geschichte. Ich habe alles gelesen von prominenten Wissenschaftlern wie Richard Dawkins oder Neil deGrasse Tyson. Ich versuche, mich über wissenschaftliche Innovationen und Geschichte auf dem Laufenden zu halten.
Was dachten Sie, als Sie den letzten Indiana-Jones-Film sahen? Es geht da ja tatsächlich um den „Antikythera-Mechanismus“.
Ja, und ich konnte es nicht glauben! Den Song habe ich etwa ein Jahr vor dem Film geschrieben. Als ich ihn sah, dachte ich: „Das gibt’s doch nicht, was für ein Zufall!“
Gab es unter Ihren Vorfahren Musiker oder andere Künstler?
Nicht, dass ich wüsste, aber mütterlicherseits ist Martin Luther in direkter Linie ein Vorfahr von mir. Ahnenforscher haben herausgefunden, dass meine Mutter eine Nachfahrin von Luthers jüngster Tochter ist. Ich war wirklich überrascht, als ich von meinen deutschen Genen hörte. Ich muss jedoch zugeben, dass ich Martin Luthers Schriften nie gelesen habe. Ich bin auch kein großer Fan der Bibel.
Haben Sie als Kind in der Kirche gesungen?
Ja. Der Vater und der Großvater meines Großvaters mütterlicherseits waren Priester. Ich bin zwar als Kind in die Kirche gegangen und hatte meine Konfirmation, aber ich war nie wirklich religiös.

Fühlen Sie sich in Deutschland ein bisschen zu Hause?
Ich bin so finnisch, dass ich in Finnland sein muss, um mich zu Hause zu fühlen.
In Finnland leben nur fünfeinhalb Millionen Menschen, aber es ist das Heavy-Metal-Land par excellence – mit über 53 Metal-Bands auf 100.000 Einwohner, also mehr als jede andere Nation auf der Welt. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Bei uns ist es die meiste Zeit des Jahres verdammt dunkel und kalt. Da bleibt finnischen Musikern nichts anderes übrig, als ihre Melancholie in Musik zu gießen. Auch ich war in meinen Teenagerjahren ein sehr melancholischer Mensch, ich stand total auf düstere Musik, Dunkelheit und hatte sogar Depressionen. Ich bin froh, dass ich das alles früh genug überwunden habe.
Ihr Heimatland will seine lange Grenze mit Russland mit einem über drei Meter hohen Zaun schützen. Wie fühlt es sich an, in diesen Zeiten in Finnland zu leben?
Ich wohne nur zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernt, aber ich bleibe optimistisch und habe überhaupt keine Angst. Die Ära, in der wir leben, ist für die Menschheit ja nichts Neues, es hat schon immer seltsame und gefährliche Zeiten gegeben. Es ist nur so, dass uns immer mehr Informationen zur Verfügung stehen. Deshalb haben wir das Gefühl, dass die Welt ihrem Ende entgegengeht. Ich möchte jeden ermutigen, trotz der schrecklichen Ereignisse der Gegenwart Optimismus und Altruismus zu zeigen, Mitmenschen zu helfen und die Welt zu einem friedlicheren Ort zu machen.
In „The Day of …“ beschäftigen Sie sich mit Verschwörungstheorien. Die gibt es ja auch in der Musikwelt. So soll Paul McCartney 1969 bei einem Autounfall gestorben und ersetzt worden sein. Und welche Verschwörungstheorien existieren über Ihre eigene Band?
Oh, ich bin kein großer Fan von Verschwörungstheorien. Das Stück, das Sie da erwähnen, ist ganz anders als alles, was wir je zuvor geschrieben haben. Für uns ein Song, der einfach gemacht werden musste in Zeiten der Angstmacherei und der Weltuntergangsszenarien. Er spiegelt eines der Hauptthemen des Albums wider – Altruismus und Optimismus. Ich glaube, dass es uns Menschen trotz all der schrecklichen Dinge, die in der Welt passieren, viel besser geht. Wir sollten uns auch an das Positive erinnern.
Warum gehen Sie mit dem Album eigentlich nicht auf Tournee?
Die Gründe dafür sind sehr persönlich. Dieses riesige Schiff namens Nightwish fährt nun schon seit fast 28 Jahren ohne wirkliche Pausen. Also muss es auch einmal in die Werft, um gewartet zu werden.