Florian Frerichs hat Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ neu verfilmt und den Ort der abgründigen Handlung von Wien nach Berlin verlegt.

Nachtigall hat Bedenken und einen guten Rat: „Pass auf Dich auf!“ Dann gibt er Jakob das Kennwort, das ihm Zutritt gewährt zu seinen eigenen Abgründen, die er findet in einem für die meisten Menschen verborgenen Teil Berlins. Einem Berlin, das eine Stadt der Träume und Albträume gleichermaßen ist, wie es diejenigen formulieren, die die Geschichte von Nachtigall, Jakob und all den anderen erzählen. Hinter den Fassaden dieses Berlins verbergen sich menschliche Höhen und Abgründe. „Die Straßen sind die Nervenstränge eines postindustriellen Molochs, sind die Blutbahnen einer urbanen Welt – vordergründig von betörender Schönheit, doch mit dunkler Rückseite“, beschreiben sie diesen magischen Ort.
100 Jahre alte Literatur neu in Szene gesetzt
In dieser Stadt lebt der Arzt Jakob mit seiner Familie. Die Ehe mit seiner Frau Amelia krankt seit längerem an unerfüllten Sehnsüchten, verborgenen Begierden und unausgesprochenen Missverständnissen. Es ist Liebe zwischen ihnen, doch wissen sie nicht mehr, warum. Die letzte Klammer, die sie zusammenhält, ist ihr Kind Henny. Doch empfindet Amelia eine Leere, die ihr langsam den Lebensatem auspresst. Ausbrechend in die Nacht versucht Jakob, auf seinem Weg durch die Stadt selbst Lebensluft zu schöpfen, doch verschlagen ihm Krankheit und Gewalt den Atem. In einer Art taumelndem Tanz, begleitet und durchdrungen von Traum-Visionen, treibt es ihn durchs Leben. Die Tochter eines gerade verstorbenen Patienten wirft sich ihm an den Hals. Eine flüchtige Begegnung auf der Straße lockt ihn in ein Bordell – und ein verlorener Freund – Nachtigall – eröffnet ihm widerstrebend Einblick und Eintritt in eine unbekannte Schattengesellschaft.
Ein seltsamer Händler versorgt Jakob in seinem an ein Labyrinth erinnernden Laden der Eitelkeiten mit der nötigen Maske. Hinter den Fassaden einer herrschaftlichen Villa gerät er – begierig und doch gehemmt – auf einen Maskenball der Lust mit grausamen Regeln und gnadenlosen Konsequenzen, vor denen ihn nur die Selbstopferung einer geheimnisvollen Schönen rettet. Erschöpft kehrt er von seiner alptraumhaften Reise heim– doch seine Frau Amelia eröffnet ihm jetzt die bisher uneingestandenen Träume, die ihn nun so verletzen, dass er den grimmigen Versuch unternimmt, seine Reise durch die Nacht am Tage zu wiederholen, um diesmal all die Angebote auszuleben, die er sich vorher versagt hat.
Doch wohin er auch kommt, alle Türen sind nun verschlossen, die Tochter des toten Patienten abgereist, der Freund verschwunden, die Hure fort, der Laden verschlossen, die Villa leer, die geheimnisvolle Schöne der Nacht verloren, womöglich ermordet – durch seine Schuld. Entsetzt über sich selbst kehrt er erneut zurück nach Hause, wo er seiner Frau die Geschehnisse der Nacht offenbart.
Das klingt nach „Eyes Wide Shut“, wird der eine oder die andere nun denken – dem Film, in dem Stanley Kubrick 1999 Tom Cruise in der Rolle des Arztes Bill Harford auf eine Reise weg von seiner Frau Alice, verkörpert von Nicole Kidman, in eben diese Abgründe geschickt hat. Als Ort der Handlung hat Kubrick New York gewählt. Die Geschichte, die Florian Frerichs nun in Berlin erzählt, ist allerdings kein Remake von Stanley Kubricks Meisterwerk. Der deutsche Regisseur hat sich lediglich aus derselben Quelle bedient wie der US-amerikanische: Er hat Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ verfilmt und nennt sein Werk auch so.
Schnitzlers „Traumnovelle“ ist hundert Jahre alt und spielt in Wien. Veröffentlicht wurde sie allerdings 1925 als Fortsetzungsgeschichte in der Berliner Modezeitschrift „Die Dame“.
Eine Reise durch menschliche Abgründe
Florian Frerichs’ „Traumnovelle“ ist, so schätzt er sein Werk selbst ein, ein Genremix aus Komödie, Erotik, Horror und Thriller. Ein „sexuell aufgeladener Neo-Noir-Thriller“, der das Publikum mit einer Mischung aus „einer Welt voller Träume und Fantasien“ fesseln, aber auch „zur kritischen Reflexion über moralische Abgründe“ anregen will. Frerichs bleibt nahe am Text von Schnitzler, schafft aber durch die Übertragung der Handlung ins Hier und Jetzt „den Anschein einer parallelen Realität, die teilweise an einen Science-Fiction-Film erinnert“, wie er sagt.
Etwas parallelweltartig wirken lässt den Film auch die Sprache, die an einigen Stellen unwirklich scheint. Das liegt daran, dass der Film zwar in Berlin, Potsdam, Beelitz und Heiligendamm gedreht wurde – allerdings auf Englisch. Die Fassung, die nun in den deutschen Kinos läuft, wurde nachträglich synchronisiert.
Berlin sei „der ideale Schauplatz“ für diese moderne „Traumnovelle“. „Die Stadt bietet mit ihren Kontrasten zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Glanz und Schmutz zahlreiche filmische Möglichkeiten. Die skurrilen Figuren im fiebrigen Technobeat der Stadt sind der ideale Ausgangspunkt für die Reise der Hauptfigur Jakob. Die Altbauten seiner kleinen Welt im gutbürgerlichen Charlottenburg kontrastieren mit den undurchsichtigen Hochhäusern der neuen City und spiegeln die Zerrissenheit seines Charakters wider“, beschreibt Frerichs seine Kulisse.

In ihr bewegt sich Nikolai Kinski, der Sohn von Klaus Kinski, als Jakob auf seiner Reise durch menschliche und urbane Abgründe. Die Reise führt ihn am Ende dorthin zurück, wo er begonnen hat – dorthin, wo Stanley Kubrick Dr. Bill Harford und Arthur Schnitzler selbst den Wiener Poliklinik-Arzt Fridolin führt: zur eigenen Frau. Die wird in Florian Frerichs „Traumnovelle“ von Laurine Price gespielt. Nachtigall, der Jakob das Tor zu diesem Abenteuer aufstößt, wird von Bruno Eyron verkörpert.
„Das Erschaffen von Welten steht im Mittelpunkt meiner Arbeit. Bildende Kunst soll das Publikum in unbekannte Welten entführen, um eine Verbindung zwischen Werk und Betrachter herzustellen. Ein Film wird daher nur dann ein kommerzieller und künstlerischer Erfolg, wenn er aktiv mit seinem Publikum kommuniziert und es in seinen Bann zieht“, erklärt Florian Frerichs seinen Ansatz. Dies müsse auf allen Ebenen geschehen– durch Dramaturgie, Charaktere, Visualisierung und Musik. „Form und Inhalt müssen immer zusammenspielen. Lange Kamerafahrten und wechselnde Farbpaletten sind Beispiele für Mittel, die ich einsetze, um Charakterentwicklungen und emotionale Zustände zu vermitteln. Dieses Prinzip haben mein Team und ich in unserer Interpretation von Schnitzlers Traumnovelle auf die Spitze getrieben“, sagt der Regisseur zu seinem Film.