Ein Stück Torte zum Mittagessen, ein Kinobesuch am Abend. Kleine Belohnungen sollen unseren Alltag aufhellen. Doch wie belohnen wir uns richtig? Ein Interview mit Therapeutin Lea Vogel.
Frau Vogel, was löst die Aussicht auf eine Belohnung in uns aus?
Belohnungen nähren das Prinzip Hoffnung. Sie geben uns eine Aussicht, ein Ziel, etwas, auf das wir uns freuen können. Menschen können das Nichtwissen schwer aushalten, deshalb bleiben sie oft lieber im Alten, obwohl sie unglücklich sind, statt das Neue zu wählen. Eine Belohnung, die wir uns selbst festlegen und auf die wir hinarbeiten, gibt uns ein Ziel und motiviert uns. Allein die Vorstellung weckt eine gewisse Vorfreude in uns. Da kommt etwas Schönes auf uns zu, das den Alltag bricht. Das beflügelt die Menschen.

Und motiviert sie, bei der Arbeit alles zu geben.
Eine gute Belohnung soll nicht auf das Durchhalten ausgerichtet sein. Oder darauf, noch mehr Leistung geben zu müssen, noch produktiver zu sein oder irgendwie durch den Tag zu kommen.
Wieso nicht?
Wenn ich mich selbst den ganzen Tag ständig übergehe, nicht auf meine Bedürfnisse achte, keine Mittagspause mache, nur um mich am Abend zu belohnen, ist das nicht der richtige Weg. Bei einigen Menschen ist das Leben allerdings so aus dem Gleichgewicht geraten, dass sie gar nicht mehr an die eigenen Bedürfnisse rankommen. Sie sind am Abend so erschöpft und erschlagen, dass sie es nur noch als Belohnung empfinden, sich faul auf das Sofa zu legen und Netflix zu gucken. Aber das ist kein besonders gutes Belohnungssystem, weil die Menschen eigentlich unzufrieden damit sind und was anderes machen wollen. Die Belohnung löst zwar temporäre Glücksgefühle aus, macht aber nicht langfristig glücklich, weil sie nicht mit den Werten der Menschen übereinstimmt.
Wie lässt sich das ändern?
Nur Menschen, die mit sich im Reinen sind, wissen, was sie brauchen und was nicht. Dafür müssen sie sich selbst fragen: Wonach ist mir? Was brauche ich? Was kann ich in meinem alltäglichen Leben ändern, damit ich abends nicht mehr so erschöpft bin, dass nur noch Netflix eine Belohnung ist? Vielleicht merken sie dann, dass sie insgesamt mehr Pausen brauchen oder in ihrem Alltag etwas verändern müssen. Sobald sie ihr Leben nach ihren Bedürfnissen ausrichten, haben sie auch wieder mehr Kapazitäten frei und können in Sachen Belohnung differenzierter denken. Eine Belohnung sollte aber in jedem Fall immer den eigenen Bedürfnissen entsprechen.

Und wie konkret sollte die Belohnung sein?
Das ist individuell. Mir hilft es total, wenn ich im Vorfeld weiß, in welches Restaurant ich gehe oder wohin ich in den Urlaub fahre. Pauschal lässt sich sagen, je ausgeschmückter das Bild ist, umso mehr können wir uns in die Situation reindenken und sie fühlen. Eine Belohnung muss aber auch nicht immer materieller Natur sein. Wenn ich mir abends eine super teure Massage gönne, aber dabei die ganze Zeit an das anstehende Meeting am nächsten Tag denke oder ich während der Massage mit mir selbst schlecht rede, hat die tollste und teuerste Massage keinen Wert, weil sich der Mensch danach noch schlechter fühlt.
Es hilft also nicht, dem ersten Impuls nachzugeben?
Nein. Wer beispielsweise Lust hat, eine ganze Torte zu essen, wird kurzfristig Befriedigung empfinden, sich langfristig aber wahrscheinlich eher schlecht fühlen, weil er Bauchschmerzen bekommt oder sich träge fühlt. In solchen Situationen sollten sich Menschen fragen, welches Bedürfnis dahinter steckt. Haben Sie vielleicht den Wunsch nach etwas Süßem im Leben oder das Bedürfnis, nicht nachdenken oder mal nicht alles kontrollieren zu müssen? Die Frage sollte sein, wie kann man es schaffen, das Leben mehr den eigenen Bedürfnissen anzupassen, sodass wir gar nicht so ein starkes Belohnungssystem brauchen. Denn gerade auf krasse Belohnungen – wie einen Sommerurlaub – freuen sich viele sehr und sind dann zu Tode betrübt, wenn er vorbei ist.

Gibt es noch mehr Fehler, die Menschen bei der Wahl ihrer Belohnung machen können?
Glückliche Belohnungen sollten immer mit den tiefen inneren Werten verwoben sein. Statt in ein „fancy“ Restaurant zu gehen, weil andere Menschen mich dafür beneiden, sollte die eigentliche Belohnung sein: Ich gehe in ein schönes Restaurant, weil mich dort ein gutes Gespräch mit einer Freundin erwartet und ich zugleich noch leckeres Essen bekomme. Wenn wir uns nur aus dem Grund mit Dingen belohnen, weil wir denken, dass sie uns aufwerten und uns vor anderen Menschen besser dastehen lassen, macht uns das auf lange Sicht nicht glücklich.
Warum nicht?
Weil die Anerkennung nur temporär ist und die Menschen schnell in einen Teufelskreis geraten. Sie wollen die Anerkennung der anderen schließlich nicht wieder verlieren. Also fragen sie sich, was sie tun müssen, damit das nicht passiert. Am Ende machen sie es nicht mehr für sich selbst, sondern für andere. Das ist einer der Gründe, warum Menschen, denen es eigentlich gut geht, nicht glücklich sind. Weil sie ständig in der Angst leben, das Erreichte zu verlieren.
Reicht manchmal auch ein Eigenlob als Belohnung aus?
Absolut. Aber viele Menschen hängen dafür zu oft in täglichen Automatismen fest. Sie freuen sich zwar kurz über die erledigte Aufgabe oder das abgeschlossene Projekt, gehen danach aber direkt wieder zur Tagesordnung über. Sie räumen die Spülmaschine aus und widmen sich gleich wieder dem nächsten Projekt, statt sich eine kleine „Me-Time“ zu gönnen. So verflüchtigt sich die Freude über eine abgeschlossene Aufgabe schnell wieder.

Und wenn ich mehrmals am Tag den Wunsch nach einer Belohnung verspüre, soll ich dem nachgeben oder die Belohnungen lieber sparsam einsetzen?
Belohnungen können stattfinden, wenn sie stattfinden sollen. Ich wüsste nicht, was das schaden sollte. Fraglich ist, ob man täglich viel Geld für sich ausgeben muss. Wichtiger ist, dass Menschen jeden Tag respektvoll mit sich selbst umgehen. Eine Belohnung könnte beispielsweise auch ein in Ruhe zubereitetes Abendessen sein, ein schön gedeckter Tisch statt einem schnellen Snack im Stehen. So wird jeder Tag ein bisschen lebenswerter.
Dürfen sich auch Menschen, die ihr Tagespensum nicht geschafft haben, was Gutes gönnen?
Aus meiner Sicht schon. Es geht nicht darum, immer zu sagen: Gönn dir! Ich verstehe schon, dass wir nicht nur hedonistisch sein können, sondern manchmal auch Sachen geschafft werden müssen. Aber ich würde die Belohnung nicht an Leistung koppeln, sondern an den Versuch, das zu schaffen, was ich mir vorgenommen habe. Natürlich kann man sich fragen: Was stand mir im Weg? Waren es externe Umstände oder war ich – Hand aufs Herz – abgelenkt, weil ich ständig auf Social Media rumhänge? Und wenn ja, warum mache ich das? Finde ich meinen Job vielleicht langweilig oder bin ich ein bisschen süchtig und müsste mal eine Social-Media-Pause machen?

Diese harte Hand, die alle, die etwas Falsches tun, bestraft und die Guten belohnt, stammt noch aus der Nachkriegszeit. Aus Angst vor Bestrafung lernen wir aber nicht wirklich. Wir müssen Mitgefühl und Verständnis mit uns selbst haben – und dürfen uns auch belohnen, wenn mal nicht alles geklappt hat.
Und womit belohnen Sie sich?
Die große Kunst ist es, sich nicht an dem zu orientieren, was klassischerweise als Belohnung gilt, sondern daran, was man selbst als Belohnung empfindet. Und das darf sich auch ständig ändern. An Tagen, an denen ich viel Kraft habe, sind schöne Gespräche mit meinem Freund die größte Belohnung. Wenn wir uns Zeit nehmen als Paar. An anderen Tagen wäre es eher eine Qual für mich. Da bin ich sehr voll, weil die Arbeit anstrengend war, meine kleine Tochter mich gefordert hat. Dann ist es die größte Belohnung für mich – wenn ich ehrlich sein darf –, dass ich nicht mehr reden muss, nicht so tun muss als ob, sondern mich zurückziehen kann. Dass man sich das erlaubt, ohne Schuldgefühle dabei zu haben, seine Bedürfnisse ernst nimmt und für sie einsteht, ist die vielleicht beste Belohnung.