Stimmen aus der Wirtschaft diagnostizieren in letzter Zeit häufig Deutschlands schlechten Zustand. Dabei sind die Schlüsse, die aus so mancher Statistik gezogen werden, nicht immer korrekt. Dennoch kommen auf die kommende Regierung schwierige Aufgaben zu.
Immer höherer Krankenstand, geringe Wettbewerbsfähigkeit und Politiker, die mehr Leistungsbereitschaft einfordern: An Warnrufen und düsteren Diagnosen für die deutsche Wirtschaft mangelt es derzeit nicht. Ein genauer Blick auf Hintergründe offenbart jedoch, dass diese Zustandsbeschreibungen häufig auf falschen Schlüssen beruhen – und damit auseinanderfallen.
1,3 Milliarden Überstunden
Oliver Bäte, Chef der Allianz-Versicherung, oder Daimler-CEO Ola Kaellenius gehören zu den prominenten Vertretern, die in der jüngsten Vergangenheit den hohen Krankenstand in Deutschland bemängelt haben. Ein Blick auf die nackten Zahlen beweist: Ja, das stimmt. Forscher des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung zeigen in einer auf fünf Jahre angelegten wissenschaftlichen Untersuchung erste entsprechende Ergebnisse. Sie merken jedoch auch an, dass die Datenbasis seitens der Krankenkassen für die Gründe von Fehlzeiten bestenfalls lückenhaft war. Erste Anhaltspunkte deuten nun stark darauf hin, dass sich dies geändert hat. Nicht die seit den CEO-Statements viel diskutierte hundertprozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder die einfache Krankmeldung per Telefon sei für die stark ansteigenden Fehlzeiten verantwortlich. Es gäbe „starke Anhaltspunkte“, dass ein besser werdendes Meldungssystem vor allem für Atemwegserkrankungen nach der Covid-Pandemie für die Zahlen verantwortlich sei. Sprich, die erwähnte Datenbasis wird dichter, zeigt mehr Fälle an, die vorher nicht erfasst wurden. Folglich tauchen in den Statistiken viel mehr Fälle als vorher auf. Dies bestätigt auch eine Untersuchung der DAK-Krankenkasse. Dort heißt es: „Ein Grund für die Steigerung ist ein neues elektronisches Meldeverfahren, wodurch seitdem Arzt-Atteste zur Arbeitsunfähigkeit automatisch bei den Krankenkassen eingehen. Laut DAK-Studie beträgt der Meldeeffekt – je nach Diagnose – rund 60 Prozent und mehr. Ein Drittel der zusätzlichen Fehltage ergibt sich seit 2022 zudem durch verstärkte Erkältungswellen und Corona-Infektionen. Laut der Studie führt die neue Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung nicht zu vermehrten Fehltagen. Auch das sogenannte Blaumachen betreiben nach eigenen Angaben nur wenige Beschäftigte.“

Auch der von Bäte behauptete Fleiß der Griechen im Vergleich mit den deutschen Angestellten ist nicht widerspruchsfrei belegbar. Im Gegenteil. Wiederum stützen die Zahlen zunächst, ohne Kontext, die Aussage des Versicherungsvorstandes. Eurostat weist beispielsweise bei der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit 35,3 Stunden für die Deutschen aus, für die Griechen jedoch 41 Stunden. „Schlechter“ sind nur die Niederlande mit 33,2 Wochenstunden. Sind die Deutschen also fauler als die Griechen, die Niederländer fauler als die Deutschen? Nein, denn ein genauer Blick hinter die Statistikkulisse offenbart, dass in Deutschland erheblich mehr gearbeitet wird – und zwar deutlich mehr Teilzeit als in Griechenland, was die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit nach Wochenstunden folglich nach unten korrigiert. Die Teilzeitquote in Griechenland beträgt laut Eurostat etwa sieben Prozent, während sie in Deutschland 28,5 Prozent beträgt. In den Niederlanden, mit einer noch niedrigeren durchschnittlichen Wochenarbeitszeit, ist die Teilzeitquote mit 38 Prozent noch höher als in Deutschland. Im Grunde messen diese Zahlen also nicht den Fleiß, sondern die Teilzeitquote in den jeweiligen Ländern. Zudem sind Vergleiche zwischen Griechenland und Deutschland nun noch schwieriger geworden: Seit 2024 gilt in Griechenland die Erlaubnis für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, jeweils eine Sechs-Tage-Woche einfordern zu dürfen, die Antwort der konservativen griechischen Regierung auf den nationalen Fachkräftemangel und Überstunden in der Industrie, die gern mal schwarz geleistet werden.
Hohe Teilzeitquoten in Deutschland
Auch die vielfach kritisierte, weil mangelnde Leistungsbereitschaft wird zum heißen Wahlkampfthema. Doch wird nicht weniger gearbeitet, sondern immer mehr. Das DIW hatte bereits im April vergangenen Jahres eine Untersuchung veröffentlicht, wonach in Deutschland deutlich mehr gearbeitet wird als in den 90er-Jahren. 55 Milliarden Stunden arbeiteten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland insgesamt im Jahr 2023, vor 25 Jahren waren es 51 Milliarden Stunden. Dafür verantwortlich sind vor allem immer mehr arbeitende Frauen, die jedoch häufig selbst mehr als nur in Teilzeit arbeiten wollen, wie die DIW-Forscher feststellten. Weil sich die familiären Verhältnisse seit damals jedoch nur wenig verändert hätten, blieben Frauen oft in Teilzeitjobs verhaftet statt auf Vollzeitjobs aufstocken zu können – wegen der Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen beispielsweise. „Ein Blick auf die verschiedenen Altersgruppen zeigt, dass Männer vor allem zu Beginn ihrer Erwerbstätigkeit weniger arbeiten, als sie möchten. Bei Frauen steigt die Unterbeschäftigung, wenn sie Kinder haben“, so die DIW-Forscher. 1,3 Milliarden Überstunden haben deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 2023 geleistet, die Hälfte davon unbezahlt. Für ein Fünftel der Beschäftigten sind 15 Wochenstunden Mehrarbeit die Regel. Die meisten Überstunden, jeweils etwa 17 Prozent, werden laut Destatis in der Finanz- und Versicherungsbranche sowie in der Energieversorgung geleistet, die wenigsten, etwa sechs Prozent, im Gastgewerbe.
Ein möglicher Ansatzpunkt also für eine künftige Regierung: Unterbeschäftigung abbauen, bessere Betreuung ermöglichen, sodass mehr Frauen in eine Vollzeitbeschäftigung wechseln können. Angesichts eines Fachkräftemangels in vielen Bereichen eine drängende Aufgabe.
Die saarländische Industrie- und Handelskammer hat zur anstehenden Bundestagswahl noch mal eine eigene Befragung durchgeführt. Die Dauerbrenner hier sind nicht Krankenstände und mangelnder Fleiß, sondern vor allem Überregulierung, Energiepreise, schnellere Genehmigungen und bessere Digitalisierung der Verwaltung. Die medienwirksamen Schnellschüsse mancher CEOs rücken die Debatte in ein anderes, ein falsches Licht. Und falsche Schlüsse aus den Zahlen führen zu falschen Gewichtungen in den Debatten.