Der Rundfunkchor Berlin hat eine bewegte Vergangenheit. Als „Funkchor“ wurde er 1925 gegründet und ist damit eines der beiden ältesten Ensembles dieser Art in Deutschland. Nun feiert er seinen 100. Geburtstag mit einigen Konzerten.
Die Bandbreite ist schon beeindruckend: von durchsichtigen Renaissance-Motetten über die romantische Wucht bei Brahms oder Bruckner bis hin zu komplizierten zeitgenössischen Werken und experimentellen Vokaltechniken. All das haben die 64 Sängerinnen und Sänger des Rundfunkchors Berlin drauf – wobei sie jederzeit in der Lage sind, blitzschnell zwischen verschiedenen stilistischen und stimmtechnischen Welten zu wechseln.
Den Schwerpunkt des Repertoires machen jedoch die großen chorsinfonischen Werke des 19. Jahrhunderts aus. So kommt man sich auch nicht mit dem Rias Kammerchor ins Gehege, der ebenfalls zur Berliner Trägergesellschaft der Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH (ROC) gehört. Die Kollegen widmen sich vorrangig der Alten Musik und A-cappella-Programmen. Dieses Jahr feiert der Rundfunkchor sein 100-jähriges Bestehen.
1923 ging in Berlin der erste Radiosender Deutschlands an den Start. Zwei Jahre später gründete sich der „Berliner Funkchor“, fast gleichzeitig mit dem Vorläufer des heutigen MDR-Rundfunkchors in Leipzig – es handelt sich um die beiden ältesten derartigen Ensembles in Deutschland. Der Berliner Funkchor war nicht zuletzt ein Resultat der Wirtschaftskrise, der die Große Volksoper im Theater des Westens zum Opfer fiel. 20 Chormitglieder und ihr Leiter traten geschlossen zum Rundfunk über, wo sie feste Anstellungen erhielten. 1931 zog der Rundfunkchor in das neu errichtete Rundfunkgebäude an der Masurenallee. Ab 1933 sang man unter dem Namen „Chor des Reichssenders“, bis zehn Jahre später sämtliche deutschen Rundfunkchöre aufgelöst wurden, da die Nationalsozialisten von einem monumentalen, in Linz ansässigen Reichs-Bruckner-Chor träumten. An seine lange und wechselvolle Geschichte erinnert der Rundfunkchor im Jubiläumskonzert, das am 15. Februar im Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks stattfindet – dort, wo das Ensemble schon in den 30er Jahren probte und arbeitete.
Nach Kriegsende nahm der Chor seine Arbeit im sowjetischen Sektor Berlins wieder auf. Dirigent Helmut Koch fuhr mit dem Fahrrad durch die zerbombte Stadt, um die versprengten Sänger einzusammeln und neue Mitstreiter zu finden. 1948 entstand der „Große Chor des Berliner Rundfunks“ mit 80 Planstellen. Geprobt wurde im neuen Funkhaus an der Nalepastraße in Schöneweide. Den Namen „Rundfunkchor Berlin“ trägt das Ensemble seit 1972.
Die Chormitglieder beteiligten sich nun an großen kulturellen Ereignissen: 1955 an der Wiedereröffnung der Staatsoper Unter den Linden, 1984 an der Eröffnung des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt. 1989 kam Leonard Bernstein in die gerade wiedervereinigte Stadt, um mit dem Rundfunkchor und anderen Vokalensembles Beethovens „Ode an die Freude“ aufzuführen.
Auf Tourneen durch Westeuropa hatte sich der Rundfunkchor schon zu DDR-Zeiten einen internationalen Ruf erworben. Das rettete ihm das Leben, als mit der Abwicklung des DDR-Rundfunks auch sein Chor infrage stand. Sicherheit bot schließlich die 1994 gegründete Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH, unter deren Dach der Rundfunkchor eine Heimat fand.

Von 2001 bis 2015 prägte der Brite Simon Halsey als Chefdirigent das Ensemble. Ein Höhepunkt seiner Zeit beim Rundfunkchor war die szenische Aufführung des „Deutschen Requiems“ von Johannes Brahms. Für die gemeinsame CD mit den Berliner Philharmonikern gab es 2008 einen Grammy für die „Beste Choreinspielung“ und einen Platz auf der Jahresbestenliste der „New York Times“. Noch immer tourt der Rundfunkchor mit dieser Inszenierung durch alle Welt.
Bekannt geworden durch BVG-Kampagne
Das ergreifende Requiem von Brahms, das zu den bedeutendsten Werken der Chorliteratur zählt, wird in diesem Jahr bei dem legendären, von Simon Halsey eingeführten Mitsingkonzert erklingen. Am 6. Juli stimmen 1.300 Besucher der Philharmonie in die Brahms-Gesänge ein. Dem gehen zwei Proben mit Simon Halsey voraus, der dem Ensemble nach wie vor als Ehren- und Gastdirigent verbunden ist. „Jeder Mensch kann singen“, ist Halsey überzeugt.
Seit 2015 leitet der Niederländer Gijs Leenaars den Rundfunkchor; sein Vertrag wurde gerade bis Sommer 2027 verlängert. Leenaars erweiterte das Repertoire des Chors um zeitgenössische Werke und interdisziplinäre Projekte. Der Rundfunkchor zog mit Rossinis „Kleiner Messe“ in eine riesige Fabrikhalle, brachte Bach-Motetten zusammen mit dem Theaterregisseur Robert Wilson zu Gehör und besang in Zusammenarbeit mit Gegenwartskomponisten die Schönheit des Polarlichts.
Chorsinfonische Musik, also groß besetzte Werke für Chor und Orchester, führt der Rundfunkchor gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern, dem Rundfunk-Sinfonieorchester und dem Deutschen Symphonie Orchester auf. Gijs Leenaars studiert mit den Sängern den Chorpart ein, arbeitet an technischer Genauigkeit und Wohlklang. Bei fremdsprachigen Werken sitzt stets ein Sprachcoach mit in den Proben. Anschließend übergibt Leenaars an den jeweiligen Orchesterdirigenten, der den Feinschliff der Interpretation übernimmt und die Aufführung leitet.
Gijs Leenaars bemüht sich intensiv um ein Publikum, das sonst nur wenig Berührung mit klassischer Musik hat. Auf dem Programm stehen zahlreiche Jugend- und Education-Programme sowie Kombinationen mit Tanz, Film und Literatur. Die Gesangs-Videoclips der Werbekampagne #weilwirdichlieben der Berliner Verkehrsbetriebe machten den Rundfunkchor stadtweit bekannt. Ein weiteres Markenzeichen des Ensembles wurde die Rundfunkchor-Lounge im Heimathafen Neukölln, wo gesellschaftlich relevante Themen nicht nur musikalisch, sondern auch im Gespräch mit Gästen erkundet werden.
Für die Feiern zum 100-jährigen Bestehen läuft sich der Rundfunkchor schon seit Saisonbeginn warm. Zwei von vier großen Jubiläumskonzerten haben bereits stattgefunden. Die dritte Jubiläumsveranstaltung „Flying Mozart“ geht am 28. und 29. März im Theater am Potsdamer Platz über die Bühne. Der Rundfunkchor arbeitet hier mit der Berliner Compagnie Flying Steps zusammen, die Akrobatik und Breakdance verbindet. Chorsänger und Tänzer vereinen sich für eine szenische Produktion von Mozarts Requiem.
Im vierten Jubiläumskonzert am 31. Mai wird ein Stück von Isabel Mundry uraufgeführt. Außerdem erklingen beliebte Chorstücke, zum Beispiel von Giuseppe Verdi. Getrübt wird die Feierstimmung allerdings durch die Sparmaßnahmen im Berliner Kultursektor. Auch der Rundfunkchor beteiligte sich an den Protesten gegen den Sparkurs der Landesregierung. Sogar mit Erfolg: Die Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH bleibt von der zunächst geplanten 750.000-Euro-Kürzung nun doch verschont.