Talentsucher empfahlen einst ihren Eltern, sie auf eine Schule mit Schwerpunkt klassischem Gesang zu schicken. Heute schreibt die Berliner Sängerin Ricarda Ulm eigene Songs, hat als Vocal Coach mit Yvonne Catterfeld gearbeitet und ein Lehrbuch herausgebracht.

Das hätten die Veranstalter besser organisieren können: der Auftritt der Berliner Sängerin und Solokünstlerin Ricarda Ulm unter der Kuppel des ehemaligen Sony Centers am Potsdamer Platz ist nicht sichtbar angekündigt. Selbst der Weihnachtsmann irrt orientierungslos durch ein Grüppchen Neugieriger. Irgendwas soll vermutlich geboten werden vor einer überdimensionalen Christbaumkugel, da steht ein verwaistes Mikrofon, aber die Betreuerin der Sängerin wirkt ziemlich überfordert. Nein, wärmende Sachen zum Anziehen an diesem kühlen Ort gibt es nicht, von Catering wisse sie auch nichts. Und schon ist sie wieder weg.
Ricarda Ulm ist Profi, lässt sich nichts anmerken und konzentriert sich auf ihren Einsatz, begleitet von zwei Musikern an Synthesizer und Gitarre. Als es dann losgeht, füllt schon nach wenigen Augenblicken ihre warme Stimme den Raum vor und neben der kleinen Bühne. Jetzt verstummen die Zuschauer und hören angenehm überrascht zu, denn Ricarda ist nicht nur eine attraktive Frau, sondern sie kann vor allem auch richtig gut singen. Und sie verzichtet sogar auf den sattsam bekannten Sentimentalkitsch vorweihnachtlicher Glockenfeierlichkeit. Den braucht sie gar nicht, denn was sie vorträgt, kommt aus der Seele, es klingt auch nach Soul, dunkel, kräftig und auf ungewohnte Weise authentisch. Mehr Leute bleiben nun stehen und es fühlt sich an, als würde es wärmer im zugigen Rund.
Als Kind wollte sie Verkäuferin werden
An ihren ersten Berufswunsch als Kind erinnert sich Ricarda ganz genau: Intershop-Verkäuferin wollte sie werden. Diese zumeist an Grenzübergangsstellen bestehenden Läden waren zur Devisenbeschaffung der DDR eingerichtet worden. Ab 1974 konnten dort auch DDR-Bürger gegen Westgeld einkaufen; zumeist Konsumgüter, die es im Arbeiter- und Bauernstaat nicht gab oder die nur auf Umwegen zu beschaffen waren. Drei Jahre zuvor wurde Ricarda Ulm im Bezirk Lichtenberg geboren, ein Berliner Gewächs, zweite Tochter eines Bauingenieurs und einer Sekretärin, die später in das Geschäft ihres Mannes einstieg. Musik war ihr in diesem Zuhause nicht in die Wiege gelegt. An ihre Kindheit erinnert sie sich eher ungern und schwammig, denn die gestresste Mutter gab sie nach der Geburt zur Oma, die sie überfütterte. Sie sei ein dickes Baby gewesen, man könne das auf den früheren Fotos sehen, sagt Ricarda. Zu Hause fühlte sie sich nicht wohl und unverstanden, fügt sie knapp hinzu. Denn eigentlich wollte ihre Mutter, die sich für ausgesprochen talentiert hielt, Kunst und Malerei studieren, aber das galt als windiger Broterwerb, der sich für ein Kind der Arbeiterklasse nicht gehörte. Und so sollten auch die Töchter auf jeden Fall etwas Anständiges lernen. Zwar gab Ricarda diesem Druck der Eltern später vorerst nach, aber die Weichen in Richtung einer musikalischen Karriere stellten sich dennoch unverhofft früh. Wie viele andere Mädchen sang auch Ricarda viel und gern – und sie war tatsächlich begabt. Denn als Einzige fiel sie in der dritten Klasse offiziellen Talentsuchern auf, die ihr nun dringend eine Schule mit dem Schwerpunkt klassische Gesangsausbildung empfahlen. Und an diesem Punkt mussten die Eltern schließlich nachgeben, auch wenn sie sich den Vorwurf, dieser ganze Sing-Sang sei nichts wirklich Seriöses, niemals verkneifen konnten.

Doch in der neuen Schule fremdelt die junge Ricarda. Umgeben von – auch in anderen Fächern wie Mathematik – sehr leistungsstarken Schülern kann sie mit Klassik und strammen Arbeiterliedern im Chor des Pionierpalastes nicht viel anfangen, sie beginnt lieber Westradio wie „Rias 2“ und amerikanische und englische Soldatensender zu hören. Da dröhnen Gitarren statt Klavier, es singt Joan Baez statt Mozarts Königin der Nacht, The Cure und die Simple Minds beeindrucken sie mehr als Ernst Busch. Mit elf bringt sie sich langsam das Gitarrenspiel bei, mit zwölf zieht sie sich die Schuhe ihrer Mutter an, um sich in einen Club zu schmuggeln, sie hat ihren ersten Freund, ihre Jugend soll wild sein. Sie kommt nachts nicht nach Hause, der Vater sucht sie, ein klarer Fall: Im Gegensatz zu ihrer braven Schwester, mit der sie sich nicht versteht, ist sie nach Meinung der Eltern irgendwie aus der Art geschlagen. Und als ob sie gerade das unterstreichen wollte, schließt sich Ricarda einer Musikerclique an.
Dies ist wohl ihre erste Sturm-und-Drang-Zeit, denn sie festigt ihren Entschluss, selbst Musik zu machen, zu singen und zwar nur das, was sie für sich entdeckt und was sie mit Leidenschaft erfüllt. Die Schule mit der Fixierung auf klassische Gesangsausbildung ist es jedenfalls nicht mehr, sie hat ein gutes Fundament geschaffen, aber Ricarda will ihren eigenen Weg einschlagen. Mit der zehnten Klasse geht sie ab, zieht mit 16 von zu Hause aus in die Wohnung ihrer Schwester, die zum Studium nach Jena gegangen ist. Von irgendetwas muss sie aber leben, auch Ricarda braucht eine Ausbildung, und so besucht sie die Hochschule für Ökonomie. Sie schließt erfolgreich als „Facharbeiterin für Schreibtechnik“ ab. So hieß das dort damals.
Vom Background- zum Sologesang

Mit der Zeit vor und nach der politischen Wende und dem Zusammenbruch der DDR durchlebt sie wieder wilde Jahre, der Westen leuchtet, die Ereignisse überschlagen sich. Als hochqualifizierte Sekretärin arbeitet sie nun bei der BfA, konzentriert sich aber mehr und mehr auf die Musik. Mit Ausnahme von Ina Deter („Neue Männer braucht das Land“) geht es ihr um englischsprachigen Pop, Jethro Tull, Fleetwood Mac und Suzanne Vega sind ihre Helden. Und als die Mauer gefallen ist, kauft sie sich Musikkassetten, bemalt sie mit roten Sternchen, um alle mitgeschnittenen Songs aus dem Radio mit- und nachzusingen. Irgendwann hört sie von ihrem Schwager, dass die Band Sonar eine Backgroundsängerin sucht, in einer Wohnung wird geprobt und abends treten sie auf Garten- und Studentenpartys auf. Ihre Musik kommt an, bald schon singt Ricarda als Frontfrau, es bildet sich eine kleine Fangemeinde.
Alles scheint möglich und vieles ist es tatsächlich. Ricarda hatte gehört, dass man nun auch ohne Abitur an der Hanns-Eisler-Schule Musik studieren kann. Sie kündigt bei der BfA, nichts kann sie jetzt mehr aufhalten. Diszipliniert und zielstrebig bereitet sie sich auf die Aufnahmeprüfung vor, sie frischt ihren Gesangsunterricht auf und nun kommt ihr vieles aus früheren Jahren zugute. Ihre Intonation ist durch die klassische Gesangsausbildung tadellos, sie hört jeden schiefen Ton. Und längst hat sie sich ein großes Repertoire an Songs aus Rock, Pop und Soul zu eigen gemacht. Sie belegt den Studiengang Pop und Jazzgesang (Worldmusic), ihre Vorbilder heißen Count Basie und Ella Fitzgerald, deren Improvisationskraft sie bewundert, sie lernt und begleitet sich am Klavier und tritt schon während des Studiums vor allem an den Wochenenden als Sängerin auf und verdient Geld. Ihre Tochter tauft sie Ella. Im Jahr 2000 beendet sie ihr Doppel-Studium und kann sich ganz offiziell als Diplom-Gesangssolistin und Diplom-Gesangspädagogin bezeichnen.
Neben ihren herausragenden Qualitäten als Sängerin beeindruckt die Vielfältigkeit ihres Könnens, das mit den Jahren immer ausgefeilter wird. Ricarda Ulm hat nicht nur 15 Jahre an der Musikschule Neukölln unterrichtet, Songs geschrieben, war mit eigener Band unterwegs und trat mit Tanz- und Soulmusik auf Galas auf. Sie hat auch Yvonne Catterfeld und andere Künstler als Vocal Coach unterrichtet, sie auf ihre Plattenaufnahmen und Auftritte vorbereitet und all ihr Wissen 2005 in dem Lehrbuch „Singen mit Ricarda“ veröffentlicht.
Im Radio wird gespielt, was die Masse kennt
Und fast nebenbei präsentiert sie sich noch in Double-Shows wie zum Beispiel als Marilyn Monroe, Marlene Dietrich und andere. Und für Hochzeiten kann man sie buchen, wo sie als Traurednerin auftritt, mit oder ohne Gesang. 2024 erfüllte sie sich endlich einen Traum: Sie veröffentlicht das Album „All the Colours“ (The Ricatones) mit ausschließlich selbst komponierten und gesungenen Titeln, unterstützt von einer Brass Band und zwei Background-Sängerinnen, finanziert aus eigener Tasche.

Und was ist mit dem großen Durchbruch, dem Aufstieg in die Top Ten, der Ausstrahlung ihrer Songs in den populären Radiostationen und TV-Sendern? Ricarda hat auch dafür keine Kosten und Mühen gescheut, zwischenzeitlich eine Agentur eingeschaltet, aber ein nennenswertes Echo blieb bislang aus. Sie macht sich keine Illusionen. Mit Musik ist viel Geld zu verdienen, und so setzen die umsatzstarken Label und Veranstalter ebenso wie die Medien auf ein einfallsloses Konzept: Das Erfolgreiche wird wiederholt, die ewig gleichen und umsatzstarken Künstler werden ins Rampenlicht gestellt, die Radiosender sind streng formatiert und scheuen das Risiko. Gespielt wird, was die Masse kennt. Newcomer haben kaum eine Chance und Nachwuchs wird entsprechend maßgeschneidert. Gibt’s heute noch so jemand wie Nina Hagen?
Zudem scheint der rapide wachsende Einsatz von KI natürliches Talent und lang erlernte Kunst zunehmend überflüssig zu machen. Jede Stimme, jeder Sound, jede Instrumentierung lässt sich immer ausgefallener programmieren und mit abgespeicherten menschlichen Quellen kombinieren. Kreativität und Originalität werden geraubt und es gibt genügend, die sich als „Künstler“ dafür hergeben. Schlechte Zeiten für Ricarda Ulm?
Sie ist zäh und gibt nicht auf. Als Nächstes plant sie eine Art Ganovensongs mit deutschen, frechen Texten mit einer kleinen, handverlesenen Band. Alles andere wird sie weiterhin anbieten. Und so bleibt eigentlich nur ein Wunsch: als Solokünstlerin ernsthaft anerkannt zu werden.