Mit ihrem Buch über Begegnungen entlang der Saar ist Christian Malessa und Michel von Boch ein unaufgeregtes, authentisches Werk gelungen. Wir haben den Autor und den Fotografen bei einer Lesung getroffen, die sie selbst vielleicht überrascht hat.

Am Ende ist der Saal so voll, dass noch Stühle gebracht werden müssen. Das Publikum rückt zusammen. „Eigentlich bin ich eher hier, um die Bilder zu sehen“, sagt eine Frau zu ihrer Sitznachbarin. Sie wohnt in Saarbrücken, liebt aber die Gegend auf der französischen Seite der Grenze. Die Frau neben ihr wiederum ist von genau dort zur Lesung nach Saarbrücken gekommen, weil das grenzübergreifende Thema des Abends sie interessiert. Sie spricht Deutsch mit französischem Akzent, damit gehört sie zu den Menschen, die an der Grenze noch beide Sprachen beherrschen. Das Gespräch der beiden Frauen ist ein lebendiges Beispiel dafür, was Michel von Boch und Christian Malessa in ihrem Buch auch zeigen: Nämlich, dass Grenzen keine Barrieren sein müssen, dass es nicht die eine oder die andere Seite gibt, sondern vieles, was verbindet. Die Geschichten, die an diesem Abend in deutscher und französischer Sprache erzählt werden, haben ein solches verbindendes Element: den Fluss, die Saar. Und sie berühren das Publikum auf einer sehr persönlichen Ebene, das wird schnell klar.
Geschichten verschiedener Menschen

„Am stillen Fluss“ ist als Buch ebenfalls in beiden Sprachen erschienen. „Au fil de l’eau“ heißt es im Französischen, am Wasser entlang. In ihrem Werk zeigen Journalist Christian Malessa und Fotograf Michel von Boch Menschen, die an der Saar leben oder arbeiten. Von der Quelle bis zur Mündung haben sie den Fluss auf mehreren Etappen mit dem Fahrrad bereist, sie haben Menschen getroffen, Momente gesammelt, Kontakte hergestellt und auch mal etwas mehr Überzeugungsarbeit leisten müssen, damit sich der ein oder andere wirklich öffnet. Auf Schwarzweißbildern – von Natur, Industrie, von Wohnhäusern oder von Personen – und in Textform haben sie diese authentischen Begegnungen nun, drei Jahre später, zu Papier gebracht. Es sind Momentaufnahmen aus den unterschiedlichsten Leben. Eingebettet in die Landschaft, Wirtschaft und Kultur, die die Saar seit vielen Jahrhunderten prägen.

Eine der Geschichten im Buch ist etwa die von Hugo, der Manager bei Disney in Straßburg war und nun am Fuß des Donons in einem Dorf mit elf Einwohnern lebt. „Die bunte Welt hat er eingetauscht gegen das dunkle Grün im Tal der Weißen Saar“, schreibt Christian Malessa. Hugo hat sich dort niedergelassen, wo die Saar kaum mehr als ein Bach ist, der hinter seinem Haus entlangfließt, wo es keine Menschenmengen gibt, keinen Stadtlärm, keine Hektik. Seine Geschichte ist eine der ersten kleinen Biographien im Buch. Auf ihrer Reise sind die beiden Männer vielen Menschen mehr oder weniger zufällig begegnet, sie sind ins Gespräch gekommen, haben sich ausgetauscht, waren bei ihnen zu Hause, haben sich für weitere Treffen verabredet, haben ihnen auch mal hinterhertelefoniert, weil die Uhren an manchen Orten einfach anders ticken. Und sie haben Freundschaften geschlossen. Von Imbissbetreibern über Kulturschaffende, von Schiffern und Arbeitern bis zur Malerin, vom Alphornbläser an der Saarschleife bis zu einem jungen Winzerpaar kurz vor der Mündung der Saar in die Mosel. Es ist eine Zusammenstellung, die in ihrer Zufälligkeit authentisch ist und die an der ein oder anderen Stelle auch etwas Wehmut verbreiten mag, etwa wenn bei Beschreibungen wie „Die letzte Mühle an der Saar“ oder „Die letzte Werft“ die Vergänglichkeit von Kultur oder Traditionen bewusst wird. Auf der anderen Seite zeigen Bilder und Texte einen so vielfältigen Ist-Zustand, dass sich Melancholie und Lebendigkeit die Waage halten.
Von Vergänglichkeit und lebendiger Gegenwart

Die Saar, soviel steht fest, gehört zu beiden Ländern, sie hat ihre Geschichten in Deutschland und in Frankreich. 235 Kilometer lang ist sie, 121 davon fließen durch Frankreich. Schiffbar wird sie derweil erst kurz vor der deutschen Grenze. Dass die zunächst kleine Saar, die sich durch die französischen Dörfer und Wälder ihren Weg bahnt, irgendwann als durchaus respektabler Fluss weiterfließt, gehört nicht zur Lebensrealität der Bewohner im Quellgebiet. „Es ist unbekannt, wie vielfältig die Saar ist. Für die Franzosen dort hört die Saar irgendwo auf“, sagt Fotograf Michel von Boch. Christian Malessa ergänzt: „Zeigt man ihnen Fotos der Industrielandschaft, sind sie erstaunt.“ Bei den Deutschen sei es übrigens genauso. Die Saarländer wissen wenig über den Ursprung des Flusses, der ihrer Heimat den Namen gibt.
Ein Sprichwort lautet passend: „Wer denkt mitten im Strom noch an die Quelle?“ Michel von Boch und Christian Malessa haben daran gedacht, und sie haben bewusst entschieden, sich zum Ursprung zu begeben. Back to the roots, und das nicht nur im wörtlichen Sinn, sondern auch im übertragenen. Sie haben die Saar von der Quelle bis zur Mündung bereist und sich dafür aus dem Alltag ausgeklinkt, sich viel Zeit genommen und dabei einiges dem Zufall überlassen. Dass sie das tun konnten, bezeichnen beide als Privileg. „Völlig zweckfrei zu schreiben, ist ein Luxus. Man kann sich auf den Menschen konzentrieren“, sagt Christian Malessa.

Er ist am linken Niederrhein in ländlicher Gegend aufgewachsen. Seine Heimat zwischen Rhein und Maas sieht er, ähnlich wie das Saarland, als eher ruhige Region, die neben dem betriebsamen Ruhrgebiet oft übersehen wird. Das Schreiben sei schon früh seine Leidenschaft gewesen, sagt er, weshalb er es nach kurzer Überlegung nach dem Abitur zu seinem Beruf machte. Sein Leben als Journalist begann er damals in Bonn, als die Stadt noch Regierungssitz und er selbst im Studium war – als „der wohl einzige Student mit Faxgerät“, wie er sagt. Denn als emsiger Korrespondent versorgte er von Bonn aus Zeitungen in der ganzen Republik mit Neuigkeiten aus der Hauptstadt. So fasste er Fuß im Journalismus, bis er nach mehreren Stationen irgendwann „auf die andere Seite wechselte“ und nun als Kommunikationsberater tätig ist. Die Liebe zum Schreiben, zu Reportagen und den damit verbundenen Geschichten hat er nicht verloren.
Erst beruflicher Kontakt, dann Freundschaft
Michel von Boch hatte die Saar schon immer mehr oder weniger vor der Haustür. Der Fluss ist mit dem Namen seiner Familie – mit den von Bochs – ohnehin untrennbar verbunden. Der eindrucksvolle Firmensitz von Villeroy & Boch in Mettlach blickt seit mehr als 200 Jahren auf die Saar. Wohin es ihn beruflich führen sollte, das war ihm als jungem Mann allerdings nicht auf Anhieb klar. Die Fotografie und ihre Möglichkeiten haben ihn sein Leben lang begleitet, sagt er, auch wenn er sie letztendlich nicht zu seinem Beruf machte. Nach dem Schulabschluss studierte er Wirtschaft und Marketing in den USA – um erst einmal möglichst weit weg von Deutschland zu sein. Nach Stationen in vielen Bereichen, vom Immobilienwesen über die Tätigkeit im Familienbeirat bei Villeroy & Boch bis zur Forstwirtschaft, bezeichnet er sich heute als Generalist, der den Dingen gerne auf den Grund geht. Vor einigen Jahren allerdings wollte er mehr Lebensqualität und zog – sich selbst und seiner eigenen Familie zuliebe – die Handbremse. Heute verwaltet er mit seiner Ehefrau das Hofgut St. Gangolf mit Hofladen und Refugium, den Forstbetrieb und die Ländereien. Von einer kleinen Anhöhe aus blicken die Gebäude seines Hofs ebenfalls auf die Saar, kurz bevor diese abbiegt und zur Saarschleife wird.

Kennengelernt haben Malessa und von Boch sich vor einigen Jahren. „Lange arbeiteten wir ausschließlich beruflich zusammen“, erinnert sich Michel von Boch. Das Interesse an gestalterischen Fragen habe sie letztendlich auch auf freundschaftlicher Ebene zusammengebracht. So haben die beiden Männer – einer spricht fließend Französisch, der andere so gut wie gar nicht, einer hatte die Saar schon immer vor der Haustür, der andere ist zugezogen – zusammengefunden. Nun sitzen sie gemeinsam vor einem Publikum, das nur für sie gekommen ist, und erzählen von ihrem Flussprojekt.
Wirklich geplant war von alledem nichts, dementsprechend ungläubig sind die beiden immer noch von Zeit zu Zeit. Zunächst begann das Projekt als Radtour der beiden Freunde entlang der Saar, die allerdings fast nicht stattgefunden hätte. Denn Michel von Boch fehlte das passende Fortbewegungsmittel. „Ich hatte lange kein Fahrrad, das dem seinen ebenbürtig war“, sagt er lachend in Richtung von Christian Malessa. Dass– mit einem neu angeschafften Rad – letztendlich alles so stattgefunden hat, sei dann aber wirklich lebensverändernd gewesen, sagt von Boch nun etwas ernster. Und Malessa fügt hinzu: „Hätte uns jemand gesagt, dass uns das jetzt drei Jahre lang intensiv beschäftigt, hätte ich es nicht geglaubt.“
Die Identität einer ganzen Region
Die konkrete Idee, ein ganzes Buch mit kleinen Reportagen und Fotos zu veröffentlichen, entstand erst nach und nach. Einen genauen Plan, wie Text und Bild wie zusammengesetzt werden, hatten die beiden auch während ihrer Reise-Etappen nicht. Am Ende haben Bilder und Text gepasst, auch wenn nicht jedes Bild genau das abbildet, was im Text beschrieben ist. „Man kann im Buch einfach nur die Bilder schauen, man kann aber auch nur die Texte lesen“, sagt Christian Malessa. Obwohl alles stimmig ist, funktionieren die beiden Darstellungsformen auch unabhängig voneinander.

Die Lesung nimmt an diesem Abend schnell Fahrt auf und wird zu einer deutsch-französischen Gesprächsrunde. Auch die beiden Übersetzer, zwei Luxemburger, kommen zu Wort und berichten von den Herausforderungen einer gelungenen Übersetzung ins Französische, dabei spielt auch ihr eigener Zugang zum Buch und zur Region eine Rolle. Es ist ein Thema, das auf eine fast schon ergreifende Weise jeden bewegt, der damit zu tun hat. Denn es geht um die Identität einer ganzen Region und auch um sehr persönliche Erfahrungen des Publikums. Der offizielle Teil hat kaum begonnen, da werden die ersten Fragen gestellt und auch eigene Geschichten erzählt. Jonas Hock, Leiter des Institut d’Études Françaises, das den Abend ausrichtet, kommt als Moderator mit seinen vorbereiteten Fragen gar nicht hinterher. Das muss er auch nicht, denn das Interesse des Publikums ist groß.
„Wir wissen gar nicht, ob überhaupt jemand kommt. Oder ob die Leute Fragen stellen werden“, hatte Christian Malessa einige Stunden vor der Lesung die Erwartungen noch etwas gedämpft. Am Ende ist der Abend ein voller Erfolg. Ob das Publikum für die Reportagen gekommen ist, für die Fotos oder vielleicht auch ein wenig, um von sich selbst zu erzählen, ist eigentlich egal. Fest steht: Der stille Fluss erzeugt eine ganz eigene Resonanz.