Ein Besuch an der Kantstraße in Charlottenburg. Dort hat mit dem „Comedor“ ein farbenfrohes, authentisch mexikanisches Restaurant mit saisonalen Einflüssen eröffnet – fernab von gängigen Klischees aus der Tex-Mex-Küche.

Keine Ahnung, ob ich in einem möglichen früheren Leben schon einmal in Mexiko war. Mein Leben vor und nach der Jahrtausendwende hat mich jedenfalls bisher nicht an die südliche Seite des Rio Grande geführt. Zumindest noch nicht. Trotzdem habe ich ein Bild des ehemaligen Aztekenreiches im Kopf – bestehend aus Mosaiksteinchen aus Büchern, Filmen, einer Kindheitserinnerung an die Zeichentrickmaus Speedy Gonzales und den Bildern von Frida Kahlo.
Die 1954 verstorbene Malerin kommt mir auch sofort in den Sinn, als wir das „Comedor“ aufsuchen. Für unser Testessen und das dazugehörige Fotoshooting haben der begleitende Fotograf und ich uns im hinteren Gastraum niedergelassen. Die Decken über unseren Köpfen sind in intensivem Kobaltblau gestrichen – so wie die Fassade von „La Casa Azul“ in Mexiko-Stadt, jenem blauen Haus, in dem die weltbekannte Malerin geboren wurde und aufwuchs. Heute befindet sich dort das Frida-Kahlo-Museum.

Auch der Inhaber des vor wenigen Monaten eröffneten „Comedor“ wurde in der mexikanischen Kapitale geboren. In seinem Heimatland studierte Raúl Oliver Arriaga zunächst Chemie und arbeitete nebenbei als TV-Redakteur. Schließlich entschied sich der heutige Endvierziger, seiner Passion für gutes Essen nachzugehen. Er absolvierte eine gastronomische Ausbildung am „Centro Culinario Ambrosia“, bis es ihn später nach Berlin verschlug.
Fan von Architektur und Design
Dort eröffnete er vor 13 Jahren gemeinsam mit seiner Frau Julia Schmiedehausen die Taqueria „Chaparro“ in Berlin-Kreuzberg. „Mit dem Chaparro haben wir bewiesen, dass Tacos hierzulande unterschätzt werden“, sagt der Wahl-Berliner. „Im ‚Comedor‘ möchte ich nun einen Schritt weitergehen, um zu zeigen, was mexikanisches Essen alles ausmacht.“
Es ist nicht nur unser kleines, kobaltblaues Refugium mit den besagten FridaKahlo-Assoziationen, das meine Gedanken weit weg an den Golf von Mexiko führt. Auch das restliche Ambiente entpuppt sich als Wohlfühlort fernab vom Berliner Wintergrau. Dort trifft helles Holz auf rostrote Wände, was dem Raum eine warme, naturnahe Atmosphäre voller Leichtigkeit verleiht. Blickfang ist ein großer Wandteppich mit abstrakter Grafik. Er und andere Textilien wurden unter der Leitung von Raúl Oliver Arriagas Bruder Luis Oliver, einem Textildesigner aus Chiapas, gefertigt. Er ließ die schmucken Stücke aus organischen Materialien mit traditionellen Techniken von indigenen Kunsthandwerkern herstellen. Dabei stand der Mexikaner im engen Austausch mit Karolin Reichardt. Die Künstlerin ist die Cousine von Raúl Oliver Arriagas Frau und hat ebenfalls farbenfrohe Werke aus recycelten Textilien beigesteuert.

Das Konzept für das Interieur hat der Gastronom zusammen mit dem Berliner Innenarchitekten Carsten Scheibe vom Atelier Raumfragen entwickelt. „Ich bin ein Fan von Architektur und Design, sie sind mir genauso wichtig wie das Essen, das ich zubereite“, sagt Raúl Oliver Arriaga. Inspiriert ist die Raumgestaltung von den Werken des berühmten mexikanischen Architekten Luis Barragán, der traditionelle mexikanische Stilelemente mit europäischer Moderne verband.
„‚Comedor‘ heißt übersetzt Esszimmer; und es ist eben ein Esszimmer, in dem Menschen zusammenkommen, um gemeinsam zu speisen und sich anschließend lange zu unterhalten“, erklärt der Koch und Gastronom die Wahl des Namens für sein Lokal. Dort kombinieren er und sein Küchenteam Rezepte aus seiner Kindheit in Mexiko-Stadt mit modernen Ideen. „Wir binden saisonale und regionale Zutaten in die traditionelle mexikanische Küche mit ein und verfolgen dabei einen spielerischen Ansatz, der das Ganze fantasievoller macht“, erläutert uns im Gespräch Arriagas Koch Sergio Cuevas, der aus dem mexikanischen Bundesstaat Michoacán an der Pazifikküste stammt.
Bekanntes und Unbekanntes

Auf der Karte findet sich Bekanntes und eher Unbekanntes. Dazu zählen beispielsweise eine Aguachile Ceviche mit frischem Fang, aber auch handgemachte Maistortillas, was mitunter all diejenigen erfreuen dürfte, die unter einer Glutenunverträglichkeit leiden. Natürlich darf auch eine hausgemachte Mole nicht fehlen, jene Soße, die in Mexiko als Nationalheiligtum gilt. Für ihre Herstellung sind eine oder mehrere Chilisorten und unzählige weitere Ingredienzien erforderlich. Oft finden sich auch Schokolade oder zerstoßene Kakaobohnen in der hochkomplexen Salsa, um ihre Schärfe abzumildern. Wer allerdings auf Schüsselchen Chili con Carne gehofft hat, wird an der Kantstraße 74 enttäuscht werden. Das populäre Bohnengericht ist nämlich gar kein mexikanisches, sondern ein texanisches Gericht aus der Tex-Mex-Küche.

Wie auch immer, unser kulinarischer Auftakt beginnt gleichwohl scharf wie hocharomatisch in Form von zweierlei Dips, in die wir knusprige Mais-Chips tunken. Dazu zaubert uns Bartenderin Esta jeweils einen fruchtigen Hibiscus Margarita und einen Mezcalita, der mich schon beim ersten Schluck in den siebten Cocktailhimmel befördert. „Brava“, lobt auch mein italienischer Begleiter den grünen Verführer aus Mezcal, Koriander, Jalapeño, Ananas und Zuckersirup. Ich habe noch nie einen Cocktail getrunken, der sowohl scharf als auch leicht rauchig und ein wenig süß schmeckt. Was für eine ungewöhnliche und gut gelungene Komposition!
Wie erhofft entfachen auch die Vor-und Hauptspeisen kleine Feuerwerke auf unseren Gaumen. Unser Aguachile Ceviche kommt heute in Form von frisch gefangenem Thunfisch auf unserem Tisch. Gegart wurde das Meerestier in Limettensaft, Koriander, Kombu-Algen, Gurke und Chili – sehr lecker! Für Überraschung bei dem begleitenden Fotografen sorgt eine Labneh-Creme mit gerösteter Roter Bete. „Sie schmeckt überhaupt nicht erdig“, meint er.

Auch ich bin begeistert von dem cremig-aromatischen Gaumenkitzel mit den violetten Gemüsestückchen. Für das Labneh hat Sergio Cuevas einen Requesón-Käse verwendet, den er uns als eine südamerikanische Ricotta-Variante vorstellt. Der mexikanische Touch der Kreation aber ist vor allem eine hausgemachte Salsa Matcha, jener Würzmischung aus getrockneten Chilis, Öl, Knoblauch und Salz.
Süße Leckereien zum Abschluss

Nicht weniger schmackhaft sind auch unsere Hauptspeisen wie etwa der Fischtaco als Wolfsbarsch in einer weichen Maistortilla. Übrigens: Auch wenn Mais meist mit der Farbe Gelb assoziiert wird, gibt es verschiedene Sorten des Getreides, die von Natur aus je nach Art verschiedene Farben hervorbringen wie rot, violett, weiß, gelb oder blauschwarz. „Wir hatten hier schon einmal einen Gastronomie-Kritiker, der geschrieben hatte, dass unsere Maistortilla verbrannt sei, dabei hatte es sich um eine dunkle Maissorte gehandelt“, berichtet uns Restaurantleiter Matthias Golde, während er uns eine Quesadilla im aparten Farbton von Zartbitterschokolade serviert. Gefüllt ist die Quesa Birria mit in verschiedenen Gewürzen geschmortem Neuland-Rind, Zwiebeln, Koriander und Mozzarella. Das Fleisch ist superzart und überzeugt uns schon auf den ersten Biss. Während sich mein Begleiter genüsslich noch ein Stückchen Brandenburger Ente an einer hausgemachten Mole abschneidet, schiele ich bereits auf die Dessertkarte.
Sie verlockt mit drei süßen Leckereien, die meine Gedanken beim Lesen zuerst auf die Iberische Halbinsel und dann weiter an den Golf von Mexiko führen. Mit dabei sind Churros, eine Schokoladen-Mousse an Vanilleeis und Chili-Karamell sowie eine Dulce de Calabaza. Letztere Nachspeise ist ein traditioneller mexikanischer Kürbiskompott, den das Küchenteam im „Comedor“ mit etwas Mezcal gepimpt hat. Klingt spannend, finde ich.
Weil ich aber schon recht satt bin, entscheide ich mich für die Churros, die mir als weniger mächtig empfohlen werden. Ich beiße in das spanische Gebäck und löffele etwas von der beiliegenden Schokoladen- und Vanillecreme. Auch lecker, finde ich. Dennoch fehlt mir hier ein bisschen der besondere Twist. Bei meinem nächsten Besuch im „Comedor“ werde ich mich wohl auch beim Nachtisch für die etwas peppigere Variante entscheiden. Hauptsache, es ist Chili mit dabei!