Die Bedeutung von Granit Xhaka kann man in zwei Sätzen festmachen: Er ist genau der Spieler, der Bayer Leverkusen gefehlt hat. Und er ist genau der Spieler, der Clubs wie Borussia Dortmund fehlt.
In einem in fast allen Stadien bekannten Fan-Gesang wird lautstark gegrölt, wie die betreffenden Clubs groß wurden. „So hart wie Granit. So wie einst Real Madrid.“ Auch wenn Granit Xhaka anders ausgesprochen wird als das resistente Gestein – nämlich mit Betonung auf dem a statt auf dem i – würde er durch diesen Song ungewöhnlich gut getroffen.

Denn der Kapitän von Bayer Leverkusen ist Lukas Hradecky. Der Unterschiedsspieler ist Florian Wirtz. Aber das Herz der Mannschaft ist Granit Xhaka. Der Transfer des Schweizers mit kosovarischen Wurzeln im Sommer 2023 gilt unter Experten als das entscheidende Puzzleteil nach Wirtz oder Trainer Xabi Alonso, das aus „Vizekusen“ den Double-Sieger Bayer Leverkusen machte. Seit Xhaka da ist, gab es in 52 Bundesligaspielen nur eine Niederlage, in 19 Europacup-Partien nur drei Niederlagen bei zwölf Siegen und in neun Pokal-Partien ausschließlich Siege. Und während Alonso nach Möglichkeit gern durchrotieren lässt, bleibt Xhaka möglichst immer auf dem Feld. 84 Spiele absolvierte Bayer seit der defensive Mittelfeldspieler hinzukam. Nur dreimal fehlte er. Einmal wegen einer Gelbsperre und zweimal, als Leverkusen in der Gruppenphase der Europa League schon weiter war und auch theoretisch nichts mehr anbrennen konnte. Ansonsten gilt: Xhaka spielt immer. Und das hochkarätige Trio aus dem deutschen Nationalspieler Robert Andrich, dem spanischen Internationalen Aleix Garcia und dem argentinischen Weltmeister Exequiel Palacios, das neben ihm fürs defensive Mittelfeld vorgesehen ist, kämpft in der Regel um den einen Platz an seiner Seite.
Ehrgeiz und Selbstreflexion
Erreicht hat er diesen Status durch seinen Ehrgeiz und seine Selbstreflexion. In der Jugend sei er „nur ein Mitläufer“ gewesen, sagte er mal. Und nach einem Kreuzbandriss mit 15 dachte er schon: „Das wird nichts.“
Wurde es aber doch. Und wie. Endgültig wurde die Erkenntnis, wer in diesem insgesamt so breit gut aufgestellten Leverkusener Kader unersetzlich ist, an einem nasskalten Abend im vergangenen März im Kaukasus. Im Achtelfinale der Europa League bei Qarabag Agdam hatte Alonso achtmal rotiert und dabei auch Wirtz und Xhaka auf der Bank gelassen. Zur Pause gegen die frisch aufspielenden, aber keineswegs übermächtigen Aserbaidschaner stand es 0:2. Es war die bis dahin mit Abstand schlechteste Leverkusener Halbzeit der Saison. „Wir haben keine Struktur in unser Spiel gekriegt“, sagte Sportchef Simon Rolfes. Und Alonso erklärte: „Die erste Halbzeit war nicht gut, das war mein Fehler – ich weiß, warum.“ Nach 57 Minuten, es stand immer noch 0:2, brachte der frühere Welt- und Europameister Wirtz und Xhaka. Von da an übernahm Leverkusen mehr und mehr die Kontrolle. Das Spiel endete dennoch 2:2.
Warum Wirtz so unersetzlich ist, wird jedem klar, der ein Spiel des Offensivstars sieht. Wie er dribbelt, wie viele Tore er schießt und vorbereitet und welche – da ist die Extraklasse augenscheinlich. Bei Xhaka liegt sie für oberflächliche Beobachter manchmal im Verborgenen. Denn sogar aus Statistiken ist sie nicht immer ablesbar. In den ersten 31 Pflichtspielen dieser Saison hat er zwei Treffer erzielt. Mit einem Top-Speed von 31,11 km/h ist er in der Bundesliga der langsamste aller eingesetzten Leverkusener Spieler. Seine Zweikampfquote von 60,71 Prozent ist gut, aber 25 Bundesliga-Spieler haben eine bessere.
Weit vorne liegt Xhaka bei der Laufleistung, wo er mit 223 Kilometern ligaweit Platz drei hinter Bayerns Joshua Kimmich und St. Paulis Jackson Irvine belegt. Und das liefert zumindest einen ersten Hinweis auf seine Extraklasse. Xhaka ist bienenfleißig. Er läuft viel, vor allem aber läuft er die richtigen Wege. Er läuft Räume zu und Bälle ab. Bietet sich an und ist anspielbar. Er geht dann mit nach vorne, wenn es das Spiel erlaubt. Und nur dann. Sein Stellungsspiel ist überragend und wird vielleicht nur noch von seiner Präsenz übertroffen. Diese in Verbindung mit seinen Führungsqualitäten ist es letztlich, die Xhaka so einzigartig macht. Er kann ein Spiel lesen, den Rhythmus bestimmen, seiner Mannschaft die Kontrolle über das Spiel geben. Platz eins ligaweit belegt er tatsächlich bei der Passeffizienz, einer selten öffentlichen, aber sehr wichtigen Statistik, die aussagt, wie viele Bälle eines Spielers in der gefährlichen Zone ankommen.
„Er hat die Spielintelligenz zu entscheiden, welches Spieltempo wir brauchen. Wann müssen wir aggressiv sein, wann geduldig“, schwärmte Alonso, einst selbst ein absoluter Weltklasse-Stratege, in der betreffenden Nacht in Baku von Xhaka: „Die Verbindung mit Verteidigern und Stürmern ist gut. Mit ihm gibt es immer einen Pass zwischen den Linien. Er ist ein Topspieler.“
Nebenbei ist er tatsächlich auch eisenhart, gegen ihn will niemand in den Zweikampf. Doch im Gegensatz zu wilden Anfangsjahren seiner Karriere hat sich der gebürtige Baseler fast immer im Griff. Er macht keine sinnlosen Aktionen, geht nicht wild und gesundheitsgefährdend in Zweikämpfe, wird für seine Position sehr selten verwarnt und wandelt selten am Rande eines Platzverweises. Auch das macht ihn zum Vorbild. Immer am Limit, aber nie darüber sein, das ist die große Kunst im Fußball. Das beschert ihm die totale Akzeptanz seiner Mitspieler. Die er durchaus mal auf und neben dem Platz wachrüttelt. Aber nie mit überzogenen Aktionen, sondern immer um die Sache bemüht. Als der elf Jahre jüngere Kollege Wirtz kürzlich von Leipzigs Willi Orban heftig attackiert wurde, die Nerven behielt und dann mit Wut im Bauch fußballerisch groß aufdrehte, ging Xhaka das Herz auf. So ist er heute, so lebt er es vor, so wäre er vielleicht gern auch schon mit 21 gewesen. Denn in jungen Jahren bei Borussia Mönchengladbach, wo er in einer Saison dreimal vom Platz flog, und auch in der Anfangszeit seiner sieben Jahre beim FC Arsenal war er oft aufbrausend. Aus Fehlern wie diesen habe er zum Glück schnell gelernt, sagte er später. Und kann sich heute gut in andere hineinversetzen. Heute habe er „ein ganz gutes Gespür dafür, wenn es einem Spieler mal nicht so gut geht und kann auf Spieler zugehen“, sagte er: „Das sind Dinge, die zu so einer Rolle dazugehören – und die man mit Anfang 20 noch nicht mitbringt; ich damals auch nicht.“
Die Rolle des Leaders

Doch in die Rolle des natürlichen Leaders wuchs er mehr und mehr hinein. Arsenal führte er nach und nach zu alter Stärke, vor allem in den letzten Jahren unter Trainer Mikel Arteta. In der Schweiz ist er längst Rekordnationalspieler. Doch er wurde lange kritisch gesehen. Mal wegen seiner Unbeherrschtheit auf dem Platz oder in Interviews, mal wegen seines ehrlich geäußerten Plans, zum Verband des Kosovo wechseln zu wollen. Von diesen Bildern konnten sich viele lange nicht lösen. Doch bei der EM 2024 in Deutschland, als die Schweizer im Achtelfinale Titelverteidiger Italien bezwangen und im Viertelfinale erst im Elfmeterschießen an England scheiterten, schrieb der „Tagesanzeiger“: „Keiner ist wichtiger für diese Schweizer Nationalmannschaft als er: Granit Xhaka. Hirn und Herz. Charmeur und Provokateur. Breite Brust, Kinn vorgereckt. Sicher nicht in Richtung des geringsten Widerstands unterwegs – aber dafür mit Vollgas.“ Oft habe man in der Schweiz „nicht verstanden, was da gerade wieder in ihm vorgeht. Warum er tut, was er halt so tut. Aber heute macht alles plötzlich Sinn. Weil das alles zum besten Granit Xhaka geführt hat, der je auf einem Fußballfeld gestanden hat“.
Nach Leverkusen ging er schon nur, weil man ihm die Chefrolle versprach. „Es wurde vorher klar gesagt, welche Rolle ich einnehmen soll“, stellte er klar: „Das entspricht auch meinen Qualitäten und Stärken. Wenn es einen anderen Plan gegeben hätte, hätte man mich hier nicht gesehen.“ Glück für Bayer, dass er kam. So wurde das Team nicht einfach nur erstmals Deutscher Meister, sondern mit einer Saison ohne Niederlage und dem Pokalsieg obendrauf auch noch ein historischer. Und es wurde jedem Experten bewusst: Granit Xhaka war der Spieler, der den immer oben mitspielenden Leverkusenern gefehlt hat, um endlich Titel zu holen. Und es ist der Spieler, der launischen Mannschaften wie der von Borussia Dortmund fehlt.
Die Rückkehr nach Deutschland war aber auch das Glück Granit Xhakas, der bei seiner zweiten Station hierzulande noch mal einen großen Reifeschritt zu einem absoluten Weltklasse-Spieler gemacht hat. Auch wenn das nicht jede Statistik auf den ersten Blick verrät.