Bei Wahlen geht es zwar um politische Linien und Personen, dahinter stehen aber auch Kulturkämpfe. Dass Rechtspopulismus erfolgreich ist, liegt auch an einem „Überdruss“ an Themen, die „woke“ sind, analysiert der Philosoph Julian Nida-Rümelin. Dabei sieht er Parallelen zu den USA.
Herr Nida-Rümelin, Sie haben mit „Ähren im Wind“ eine „politische Orientierung“ vorgelegt. Müsste es jetzt, auch nach der neuerlichen Amtsübernahme von Donald Trump und Entwicklungen in Europa, nicht eher heißen: „... im Sturm“?

Ich gehörte nicht zu denen, die sich 2016 ganz sicher waren, dass Hillary Clinton die Wahl gewinnen würde. Es war so etwas wie eine Selbstsuggestion, die da dahinter steht. Dass Trump für große Teile der Bevölkerung spricht, zumindest was kulturelle Fragen angeht, war dabei nicht unwichtig. Und diesmal war nach meinem Eindruck sowieso klar, dass Trump nicht zu stoppen sein wird mit der Vorgeschichte von Biden, und dann Kamala Harris, die als Vizepräsidentin nicht so beliebt war, aber einen fulminanten Start hingelegt hatte. Claus Kleber, der große Amerikakenner, der ja auch in den USA lebt, war sich sechs Monate vorher ganz sicher, dass Trump die Wahl nicht gewinnt. Auf die Frage, wie es zu dieser Fehleinschätzung kam, hat er, glaube ich, die richtige Antwort gegeben: Er hat die Wirkung der kulturellen Auseinandersetzung unterschätzt. In meinem Buch ist ein ganzes Kapitel den Kulturkämpfen gewidmet. Da bringe ich das Beispiel der 68er-Bewegung. Das war einerseits natürlich politisch eine Links-Rechts-Auseinandersetzung. Aber dann ging es auch um Kulturkämpfe. Und das war die Schwäche der Linken. Sprüche wie: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ oder dass man gar keinen richtigen Beruf mehr braucht. Vieles war mehrheitsfähig – aber das nicht. Und die Arroganz, mit der Kinder vor allem aus bildungsbürgerlichem Milieu andere behandelten, die aus anderen Milieus waren, ist mir damals schon aufgefallen.
Sie machen also Parallelen dazu heute aus?
Es wiederholt sich jetzt in einer fast schon unheimlichen Weise, nur dass diesmal nicht etwas den Ausschlag gibt wie ein Helmut Kohl aus der Provinz, der sozusagen das Volk wieder näher zu seinen ursprünglichen Überzeugungen bringt. Da ging es um anständiges Leben, wirtschaftlichen Wohlstand, die „geistig-moralische Wende“. Jetzt haben wir die radikalere Variante, die sich auch gegen Staatlichkeit richtet, die sich mit Elon Musk einen Staatszerstörer an die Seite holt und mit den Tech-Konzernen aus dem Silicon Valley eine ganze Agenda der Deregulierung und der libertären Transformation mitbringt. Ich bin etwas skeptisch, ob das wirklich Trumps Agenda ist. Meine Vermutung ist, dass diese Harmonie, die da gegenwärtig zu bestehen scheint, nicht lange hält. Ich bin mir sicher, Trump wird Musk bald abschütteln, weil er neben sich keinen zweiten Egomanen duldet. Außerdem vertritt Elon Musk eine andere Politik als die MAGA-Bewegung. Der Kern der MAGA-Bewegung ist nationalistisch, patriotistisch, regionalistisch und kulturkonservativ, während Musk libertär und globalistisch ist. Das kann auf Dauer eigentlich nicht gut gehen.
Stehen wir in Europa, in Deutschland im selben Kulturkampf? Die jüngste Shell-Jugend-Studie zeigt, dass Jugendliche gar nicht so fortschrittlich-progressiv sind, wie man unterstellt hatte etwa nach Aufkommen der „Fridays for Future“-Bewegung.
Das hat sich in wenigen Jahren massiv verändert: Klimaschutz ist auf den siebten Rang in der Prioritätenliste abgerutscht. Mein Eindruck ist, und das nicht erst jetzt durch den Präsidentschaftswahlkampf in den USA, dass es auch in Europa einen „peak woke“ gibt (meint, dass der Höhepunkt der Bewegung erreicht ist und jetzt abflaut). Es ist kein ganz plötzlicher Bruch, aber die Spitze ist erreicht. Es wird sich abflachen. Weil in den Redaktionen und an den Universitäten dieses Milieu fest verankert ist, wird es sich auch noch eine Zeit lang halten. Aber ich glaube, der Höhepunkt ist überschritten, und zwar nicht so sehr, weil Rechtslibertäre einen Aufschwung haben überall in Europa, in Österreich jetzt vielleicht sogar in der Regierungsleitung mit Kickl als Kanzler, in Italien mit Meloni, in Ungarn sowieso, in Polen, kann man sagen, ist es nochmal gut gegangen, wobei dort die PiS eine besondere Variante des Rechtspopulismus ist, in Frankreich, wo Le Pen praktisch vor den Toren steht. Aber nicht nur deshalb, sondern vor allem, weil sich auch in jüngeren Bevölkerungsgruppen ein Überdruss breitgemacht hat an Diskursen, die man als „woke“ oder linksliberal bezeichnen würde. Als Philosoph sage ich aber: Die sind eigentlich nicht liberal, weil sie nicht universalistisch sind, sondern – in meinen Augen – ein entgleister Kommunitarismus sind. Kommunitarismus sagt: Die Zugehörigkeit zu Communitys ist nicht nur zentral, sondern macht die moralische Persönlichkeit, die Identität aus. Ich glaube, was wir jetzt sehen, ist eine ideologische Radikalisierung dieses Ansatzes.
Liegt diese Entwicklung mit daran, dass wir in der Vergangenheit eine Dominanz bestimmter Themen hatten, anderen Themen aber keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben und es jetzt eine Gegenbewegung, vielleicht sogar eine Trotzreaktion gibt?
Das ist eine interessante Frage. Was ist eigentlich kulturell in Gang gekommen in den letzten Jahren? Ich glaube, man kann das ganz gut mit einem psychologischen Begriff charakterisieren, nämlich als Übersprungshandlung. Die linke Bewegung ist ja darauf abgestellt, es den schlechter Gestellten besser gehen zu lassen, mit der Gewerkschaftsbewegung und manchmal auch mit radikalen Ideen wie einer fundamentalen Umgestaltung des Wirtschaftssystems. Auch im ökologischen Bereich: Wir tun was, wir verändern was. Und das war nicht so wahnsinnig erfolgreich. Die sozialen Kämpfe waren nicht erfolgreich: Wir haben immer mehr Ungleichheit und global extreme Vermögenskonzentration in wenigen Händen. Und jetzt Übersprungshandlung: Was machen Aktivisten – ohne dass ihnen das bewusst ist? Sie weichen aus auf Felder, in denen eher Erfolge zu erreichen sind. Man kann das zum Beispiel bei „Deplattforming Strategien“ verfolgen: Wie kann ich Leute, die ich für skandalös halte, aus den Plattformen drängen? Polemisch formuliert: Man sitzt zu Hause mit dem Laptop auf den Knien und kann Kulturkämpfe führen. Damit gerät aber was anderes aus dem Blick: Was machen wir in den Stadtvierteln, was machen wir mit Mieten, was machen wir mit Arbeitsplätzen? Also die großen Auseinandersetzungen kommen aus dem Blick. Das Interessante ist jetzt, dass die Gegenbewegung nicht auf diese Brot-und-Butter-Themen setzt. Was Erfolg hat, ist eine Gegenkulturbewegung.
Was macht diese „Gegenkultur“ aus?
Ein Beispiel: Tradwives. Junge Frauen, die sagen, der Mann ist berufstätig, Hausfrau ist gar nicht schlecht, und was habt ihr dauernd mit Gleichstellung? Schadet uns doch mehr, als es uns nutzt. Das kommt auch bei Jüngeren offensichtlich unglaublich an. Genauso ist das mit dem Thema Antirassismus. Das ist einigen zu weit gegangen, Leute sagen jetzt: Ich bin kein Rassist und werde jetzt als Rassist diskreditiert. Und sie wehren sich natürlich dagegen. Und das erklärt auch, warum viele Afroamerikaner Trump gewählt haben. Das gibt es auch bei uns. Bei uns ist ein Großteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund gegen zu viel Einwanderung. Auf dem Feld des Kulturkampfes ist die Rechte erfolgreicher. Themen, die oft von links mit guten Motiven besetzt wurden, übernehmen die Rechten, und das oft viel wirksamer. Ein Beispiel: Florida sagt, wir machen das Land zur woke-freien Zone. Und dann gehen Eltern in die Schule, sehen, wer dort unterrichtet, und dann werden Bibliotheken gesäubert – und zwar von rechts. Man darf sich keinen Illusionen hingeben: Die Intoleranz trifft rechts auf sehr fruchtbaren Boden und setzt sich meist brutaler durch als man sich das vorstellen konnte.
Ich hatte eben den wenig philosophischen Ausdruck „Trotzreaktion“ gebraucht ...
Da ist schon was Wahres dran. Schon 2016 gab es den irritierenden Befund der Wahlforscher, dass 54 Prozent aller weißen Frauen einen Kandidaten gewählt haben, der frauenverachtende Äußerungen am laufenden Band von sich gegeben hat. Das liegt vielleicht an einer gewissen Lebensform, die es in den USA in kleinen Vororten häufig gibt mit den „soccer mom’s“, die sich um die Fußballkarriere ihrer Söhne – und zunehmend auch Töchter kümmern – und die sagen: Es ist in Ordnung so, wie ich lebe.
Welche Rolle spielen Medien in diesen Kulturkämpfen?
Es gibt dazu einiges an Forschung, wobei Befunde zum Teil umstritten sind, etwa die „Blasen-Theorie“, die besagt, dass wir alle nur in Blasen leben. Es sind viele Dinge auch noch nicht hinreichend erforscht, aber eins ist völlig unumstritten: Die Möglichkeiten, ein großes Publikum zu finden, war in der Vergangenheit sehr stark daran gebunden, dass etwas eine bestimmte Form der Selektion übersteht, etwa in Redaktionen oder in Verlagen, die Bücher mit großem Blödsinn eben nicht publizierten. Das birgt aber auch immer die Gefahr einer einseitigen Ausrichtung der Kommunikation, von Machtpositionen und Konzentration. Wenn große Verlegerfamilien ganze Teile des Verlagsgeschehens kontrollieren, liegt auf der Hand, dass sie die mit ihrer politischen Agenda auch beeinflussen. Mit Social Media brechen alle diese Systeme weg. Die Folge ist: Wer erreicht sein Publikum? Die, die sich besonders zugespitzt, besonders emotionalisierend, besonders polarisierend äußern. Denn das führt zu Reaktionen, zu Likes, zu Kommentaren, und das erklärt die zunehmende Polemik, Aggression, auch Menschenverachtung, vor allem auf X, aber auch anderen Kanälen. Die politische Meinungsbildung ist gewissermaßen vergiftet durch Polemik und Diffamierung. Ich rede von der Erosion der Zivilkultur.
Demokratie ist angewiesen auf eine zivile Art des Umgangs mit Meinungsverschiedenheiten.
Die Europäische Union versucht, dem entgegenzuwirken mit dem Digital Services Act, was aber nur mäßig gelingt. Auch Zuckerberg sagt jetzt: Wir wollen zurück zu den Ursprüngen, wir wollen kein Faktenchecking mehr. Und wenn man genauer hinschaut, ist auch der Faktencheck ambivalent und keineswegs jeder Kritik enthoben, aber wir haben da noch keine Lösung gefunden.

Das Problem scheint also, dass Menschen zunehmend weniger wissen, was wahr ist oder falsch, was sie noch glauben können. Mit welchen Folgen?
Es gibt von Hanna Arendt sinngemäß den Satz: Wenn eine Person lügt, ist das nicht schön, aber immerhin hat sie noch einen Begriff von Wahrheit. Sie weiß, dass sie etwas sagt, das falsch ist. Wirklich schlimm wird es politisch, wenn es gar keine Rolle mehr spielt, ob etwas wahr oder falsch ist, weil sich niemand mehr darum schert. Es geht nur noch um Wirkung und Beeinflussung. Das ist gewissermaßen das politische Erbe der Postmoderne, die ich als Philosoph immer kritisiert habe. Wer sagt, dass es nicht um Wahrheit geht, sondern etwa um Solidarität, der macht das Tor auf zu parteiischen Positionen. Das ist das Ende von Wissenschaft, von Rationalität, das Ende des Bemühens, einen öffentlichen Raum der Gründe, einen Raum des Abwägens von Pro und Contra aufrechtzuerhalten. Ohne diesen öffentlichen Raum wird es schwierig.
Sehen Sie unsere Demokratie in Gefahr?
Bei Demokratie geht es nicht um Mehrheit, sondern um Zustimmungsfähigkeit. Wir stimmen einer politischen Ordnung nur zu, wenn wir wissen: Unsere Rechte werden nicht verletzt. Wenn die Mehrheit entscheidet, was ich studiere, wen ich heirate, wo ich wohne – dann werde ich nicht zustimmen. Minderheitenrechte müssen geschützt sein, sonst können wir auch nicht zustimmen. Demokratie beruht also auf einem Konsens höherer Ordnung. Nicht das Mehrheitsprinzip ist die Basis, sondern die vernünftige Zustimmungsfähigkeit. Und die an-thropologische Grundlage ist: Wir sind frei und gleich und erkennen uns als frei und gleich wechselseitig an. Wenn es eine Herrschaftsordnung von Natur aus gäbe, also etwa Männer über Frauen, Freie über Sklaven, eine Kaste über die andere, dann gäbe es keine Demokratie. Demokratie ist also sehr voraussetzungsreich und beruht auf einer optimistischen Haltung: Menschen trauen sich wechselseitig zu, dass sie hinreichend vernünftig sind, um sich ein politisches Urteil bilden zu können.