Mit 22 Jahren wanderte Margit Cianelli nach Australien aus. Hier kümmert sich die mittlerweile 74-Jährige um verletzte oder verwaiste Vierbeiner und bereitet sie wieder auf die Freiheit vor.
Die Zimmertür ist angelehnt. Vom Flur her nähert sich ein sanftes Klopfgeräusch auf dem Parkett. Wupp, wupp, wupp. Nur kleine Springer mit behaarten Füßen können so etwas. Mein Blick klebt an dem Türspalt, durch welchen nun ein kurzer Schatten huscht. Ein junges bräunlich-graues Tier, nicht größer als ein Eichhörnchen, kommt direkt auf mich zugehopst. Ich sitze reglos auf dem Boden und tue so, als läse ich.

Ohne zu zögern, schlüpft der neugierige Hüpfer zwischen meine Arme und das Buch. Erwartungsvoll schauen mich seine schwarzen Kulleraugen an. Mit Mausohren und Hasenpelz sitzt der possierliche Vertreter aus der Kängurufamilie auf seinen eingeknickten dünnen Hinterbeinen, den langen Schwanz als Stütze nutzend. Von meiner Gastgeberin Margit Cianelli weiß ich: Das ist George, ein Rotbauchfilander – eines von vier jungen Beuteltieren, die aktuell bei ihr zu Hause leben.
Wie die 74-Jährige am nächsten Tag erzählt, verlor das arme Kerlchen seine Mutter durch einen Verkehrsunfall. „Im Beutel des toten Weibchens fand jemand den Säugling und brachte ihn zu mir“, erzählt sie mir. Seit Jahrzehnten nimmt die großherzige Deutsch-Australierin verletzte oder kranke, zumeist aber verwaiste Vierbeiner bei sich auf, pflegt und füttert sie und hilft ihnen danach, sich an das Leben in der freien Wildbahn zu gewöhnen.
Das Schicksal des Filanders teilen alle drei von seinen derzeitigen Mitbewohnern. Zwei trägt sie im Wechsel sogar bei der Hausarbeit an ihrem Körper unter ihrer Bluse: ein junges Possum und die fünf Monate alte Linda. Das zierliche Kängurumädchen mit schmalem, langgestrecktem Kopf und hellen Wangenstreifen schläft und zappelt zwischendurch in einem Wäscheklammerbeutel aus flauschig weichem Stoff in der Küche.
Seiner Artbezeichnung macht das sehr aktive Tierkind alle Ehre: Flinkwallaby. Noch passt es in eine Häkelmütze. Als Erwachsene wird Linda mindestens zwölf Kilo wiegen und von Kopf bis Rumpf wahrscheinlich 70 Zentimeter messen. Vorläufig bekommt sie noch ihr Fläschchen.
„Ein maßgefertigtes Produkt auf Kuhmilchbasis“, kommentiert die Pflegemama. Sie weiß, dass sich die Muttermilch des Kängurus im Laufe einer Stillzeit viermal ändert: „Am Anfang sieht sie aus wie blaues Wasser, am Ende ist sie dick und sehr gehaltvoll. Säugt eine Mama unterschiedlich alte Babys, produziert sie unterschiedlich fette Milch.“
Wie viele Beuteltiere die zweifache Mutter Margit Cianelli in ihrem Leben großzog, kann die gelernte Zootierpflegerin nicht sagen. Fest steht, dass mit jedem einzelnen ihr unglaublicher Schatz an Wissen und Erfahrung wuchs. Den Grundstein dafür legte sie mit ihrer Ausbildung in der Wilhelma, dem Zoologisch-Botanischen Garten Stuttgart. Mit 22 wanderte die Schwäbin nach Australien aus.
Seit 52 Jahren lebt sie hier und ist mit ihren Tieren und mit ihrer Arbeit glücklich. Dazu zählt auch der Betrieb der „Lumholtz Lodge“, eine Bed- & Breakfast-Anlage mit vier Zimmern, mit welcher sie ihr Waisenhaus für Beuteltiere finanziert. Namensgeber für das Gästehaus, in dem die Tierretterin und ihre Zöglinge auch selbst leben, ist das dunkelbraun-fellige Lumholtz-Baumkänguru, dessen einzige Heimat die Regenwälder der Atherton Tablelands sind.
Es gibt auch die freiwilligen Rückkehrer
Ein Vertreter dieser seltenen, vom Aussterben bedrohten Art, die fast ausschließlich auf Bäumen lebt, ist Margits vierter momentaner Zögling, Bentley. Zu seiner eigenen wie auch zur Sicherheit seiner Pflegemutter und allen Lumholtz-Lodge-Bewohnern befindet sich das stark traumatisierte Tier bis auf Weiteres in einer großen Voliere.
Den Grund dafür sieht man an Margits Armen und Beinen, die Spuren unzähliger Kratz- und Bissverletzungen zeigen. „Beim kleinsten Geräusch dreht Bentley durch. Bis heute überwand er nicht den Schock, der ihm beim Unfalltod der Mutter widerfuhr“, erklärt mir Margit, die dem aggressiven Halbwüchsigen die gleiche Zeit und Zuwendung schenkt wie allen ihren Lieblingen.
Lumholtz-Baumkängurus säugen ihre Jungen fast ein Jahr. Noch zwei weitere verbringen sie bei ihrer Mutter. Als Bentley seine verlor, war er neun Monate. „Kinder retteten ihn zwar sofort nach dem Unglück, wussten aber leider nicht, dass man ein Kängurubaby nicht lange mit bloßen Händen halten und unbedeckt lassen soll. Ist kein Stoffbeutel zur Hand, kann man das kleine Tier auch in ein T-Shirt wickeln, damit es sich geborgen fühlt“, sagt die Expertin.

Mit Übungen, homöopathischen Medikamenten und jeder Menge Liebe und Geduld hilft sie ihrem Sorgenkind, seine Ängste zu besiegen. Auch wenn ihr größter Wunsch für jedes Tier ist, dass es möglichst bald in die Natur zurückkehrt, sieht Margit Bentley künftig eher in einem Zoo als in der Freiheit.
Der schönste Dank für ihre Arbeit sind die freiwilligen Rückkehrer. Zum Frühstück kommen jeden Morgen vier Filander. Zum Abendessen sind es deutlich mehr – zusammen mit den Possums etwa 30. Der legendärste „Ehemalige“ war Baumkängurumann Geoffrey, der noch Jahre nach seiner „Entlassung“ fast wöchentlich auf der Veranda stand und an die Glastür klopfte, bis ihm Margit öffnete. Gern erinnert sie sich: „Wie in Kindertagen musste ich ihn dann auf meiner Schulter tragen und sein Lieblingsessen geben: Süßkartoffeln und Spaghetti.“