Hollywood-Legende Clint Eastwood hat einen Justizthriller inszeniert, der auf leisen Sohlen daherkommt – und gerade deshalb eine ungeheuere Wirkung entfaltet. „Juror #2“ ist ein intelligentes Psychospiel um einen Mann, der sich in einer moralischen Zwickmühle befindet.

Gerechtigkeit ist Wahrheit in Aktion“, da ist sich die Staatsanwältin Faith Killebrew (Toni Collette) sicher. Und für den vorliegenden Fall liegen die Tatsachen doch auf der Hand: Ein tätowierter Brutalo namens James Sythe (Gabriel Basso) hat – betrunken und aus Rache – seine Freundin Kendall Carter (Francesca Eastwood) mit seinem Wagen über den Haufen gefahren, weil sie ihn verlassen wollte. Der vorangegangene lautstarke Streit der beiden in einer Bar wurde sogar per Handy-Aufnahme von Umstehenden dokumentiert. Die Leiche von Kendall wurde am nächsten Morgen zerschmettert am Fuß einer Brücke gefunden. James Sythe wird in Gewahrsam genommen und des Mordes an seiner Freundin angeklagt. Allerdings beteuert er seine Unschuld.
In den USA werden bei Mordprozessen zwölf Geschworene berufen, die nach der meist öffentlichen Gerichtsverhandlung das Urteil fällen müssen. Und zwar einstimmig. Justin Kemp (Nicholas Hoult) ist so ein Geschworener. Er trägt die Nummer zwei. Sein Versuch, als Geschworener abgelehnt zu werden, weil seine hochschwangere Frau Ally (Zoey Deutch) jeden Tag niederkommen könnte, scheitert. Der wahre Grund, warum sich Justin seiner Verantwortung entziehen will, ist allerdings ein anderer. Wie wir in kurzen Rückblenden erfahren, hat Justin in der besagten Mordnacht bei Regen und schlechter Sicht – wie er glaubt – ein Reh überfahren, das durch den Aufprall von der Brücke in die Schlucht stürzte. Im Laufe des Prozesses bekommt Justin aber immer größere Zweifel. War es tatsächlich ein Reh? Oder etwa Kendall Carter?
Die Gerichtsverhandlung, die sich über Tage erstreckt, inszeniert Clint Eastwood in klassischer Manier, schnörkellos und prononciert. Und verleiht so seinen Hauptakteuren auch durch Szenen, die außerhalb des Gerichtssaals spielen, immer mehr Profil. So erfahren wir, dass Justin – ein trockener Alkoholiker – höllische Angst davor hat, man würde ihm nicht glauben, dass er in der schicksalshaften Nacht nüchtern hinter dem Steuer saß. Und wir bringen auch in Erfahrung, dass Faith Killebrew diesen Prozess auf keinen Fall verlieren darf, da sich sonst ihre Chance, die nächste Bezirksanwältin zu werden, in Luft auflösen würde. Obwohl sie plötzlich selbst große Zweifel an ihrer scheinbar so wasserdichten Mordanklage bekommt, zumal sich Juror Nummer zwei immer merkwürdiger verhält.
Raffinierte Twists überraschen

Nach der Gerichtsverhandlung ziehen sich die zwölf Geschworenen zurück, um zu einem Urteil zu kommen. Und da beweist Clint Eastwood ein weiteres Mal seine Meisterschaft als Regisseur. Mit großem Einfühlungsvermögen und psychologischer Präzision zeigt er, wie Justin versucht, die Geschworenen dazu zu bringen, „im Zweifel für den Angeklagten“ zu votieren. Denn eigentlich waren sich alle sehr schnell einig, dass James Sythe der Mörder seiner Freundin ist. Während dieser entnervenden Für-und-Wider-Diskussionen wird nicht nur das ganze moralische Dilemma, in dem sich Justin befindet, immer klarer, sondern auch die sehr fragwürdige Praxis, zwölf willkürlich zusammengewürfelte Men-schen über Schuld und Unschuld eines Angeklagten entscheiden zu lassen. Justin kann die Wahrheit über den tatsächlichen Verlauf des Unfalls ja nicht preisgeben, ohne sich selbst zu belasten. Und so bewegt er sich beim Versuch, seine Mitgeschworenen so zu manipulieren, dass sie sich auf „Freispruch“ einigen, auf einem immer schmaleren Grat. Es scheint sogar so, als wäre er kurz davor, dem Gericht den wahren Sachverhalt zu schildern. Da bekommt seine Frau endlich das Baby. Nur zu gern flüchtet er sich nun in die Rolle des verantwortungsvollen Familienvaters. Dann wird das Urteil verkündet. Und es ist einstimmig. Doch Clint Eastwood hat noch ein Ass im Ärmel: Eines schönen Tages steht die Staatsanwältin vor Justins Tür …
„Juror #2“ (ab sofort im Kino) ist ein leiser, hochspannender Justizthriller, der immer wieder mit raffinierten Wendungen überrascht. Clint Eastwood nimmt darin ganz bewusst Bezug auf Sidney Lumets Gerichtsdrama „Die Zwölf Geschworenen“ (1957) mit Henry Fonda als Juror #8. Eastwood hinterfragt mit seinem wohl letzten Kinofilm auf eindringliche Weise nicht nur das amerikanische Justizsystem, sondern zeigt auch, wie persönliche Interessen und gruppendynamische Prozesse die Wahrheitsfindung vor Gericht beeinflussen können. Nach der Devise: Vor Gericht bekommt man keine Gerechtigkeit, sondern ein Urteil.