Schweine werden wegen ihrer Intelligenz und ihrem besonderen Wesen ab und zu auch in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eingesetzt. So wie Minischwein Schoki. Der Eber hilft Autisten in der Comenius Schule in Berlin.
In den ersten Minuten scheint Schoki kein großes Interesse an mir zu haben. Doch dann kommt der kleine Eber plötzlich zu mir und kneift vorsichtig in meinen Schuh. Ich stutze. „Was bedeutet das denn?“, frage ich Dr. Cornelia Meyer. Sie lacht. „Das heißt: Hallo, ich bin Schoki, wer bist du?“ Dann erfahre ich zu meiner Überraschung, dass Schweine nicht nur über Laute, sondern auch über die Füße kommunizieren. „Die haben dort spezielle Drüsen, an denen sie sich erkennen“, erklärt Cornelia Meyer. Derweil widmet sich Schoki wieder anderen interessanten Dingen, die es draußen zu entdecken gibt.

Schoki ist ein Lausitzer Minischwein und nicht irgendeins. Der viereinhalb Jahre alte dunkle Eber ist ein von der American Mini Pig Association ausgebildetes Therapieschwein und begleitet seine Besitzerin Cornelia Meyer von klein an in die Comenius Schule in Berlin. Dort arbeitet die 48-Jährige mit Autisten, von denen einige auch nicht sprechen.
„Die Kinder müssen auf ihn zugehen“
Während wir uns unterhalten, stößt Schoki plötzlich heftige Grunzlaute aus. Ich möchte gern wissen, was er sagt. „Er will rein“, sagt Cornelia Meyer, und lacht. „Ihm ist zu kalt.“ Und tatsächlich, Schoki zieht an seiner Leine Richtung Haustür. Schweine haben rund 20 Geräusche, mit denen sie sich verständigen, und so wie Hundebesitzer auch die Laute ihrer Hunde verstehen, so weiß auch Cornelia Meyer ganz genau, was Schoki sagt. Dass Schweine viel intelligenter sind als Hunde und sogar als manche Primaten, ist lange erwiesen. Doch ihr Verhalten unterscheidet sich in einigen Dingen von dem der Hunde. Schweine sind zum Beispiel meist zurückhaltender, rennen in der Regel nicht auf Menschen zu, sondern sind eher abwartend, distanziert. Diese Eigenschaft bringt in der Arbeit mit Autisten einen entscheidenden Vorteil, wie Cornelia Meyer berichtet. „Autisten bleiben in der Regel bei sich, sie haben ihren Raum, sie gehen nicht auf jemanden zu, sind da eher verschlossen. Sie können es nicht, die Bedürfnisse von jemand anderem zu erkennen und damit umzugehen. Doch es kommt oft vor, dass viele der Kinder ein großes Interesse an Schoki zeigen.“ Dann fangen die Kinder an, sich mit dem Schwein zu beschäftigen. Und weil Schoki sein Ding macht und von sich aus erst mal keinen Kontakt sucht, müssen die Kinder aktiv werden und auf ihn zugehen, wenn sie seine Aufmerksamkeit erregen möchten. „Sie müssen lernen, ihn zu lesen, um zu wissen, was er will“, erklärt Cornelia Meyer. „Und man muss ihn respektieren und ihm seinen Raum geben. Und sie müssen lernen, präsent zu sein.“

Schoki kann auch das ein oder andere auf Kommando, aber nur, wenn der Mensch klar und selbstbewusst ist. Auch das Spazierengehen mit den Kindern und Schoki ist für die Schüler eine gute Erfahrung. „Wir werden von Passanten relativ oft angesprochen. Dann wollen die Schüler Antwort geben. Für viele unserer Schüler ist das dann der erste Schritt, mit fremden Menschen auf der Straße zu sprechen.“
Ein Fall ist ihr dabei besonders im Gedächtnis. „Wir hatten einen Jugendlichen, der unfassbar große Ängste vor fremden Menschen hatte.“ Von Schoki war der Junge gleich begeistert und fing irgendwann an, in den Pausen mit ihm zu spielen. Zwischen dem Jungen und Schoki entwickelte sich eine besondere Beziehung. „Wenn wir morgens in den Klassenraum rein sind, dann ist Schoki sofort vor den Tisch des Schülers gelaufen und hat dort auf ihn gewartet.“
Das Minischwein half dem Jungen schließlich, nach und nach seine Ängste zu überwinden. Er öffnete sich, fing auch an, mit anderen Menschen außer den Lehrern oder seiner Mama zu sprechen. Und nicht nur das. „Es ging dann so weit, dass der Junge mit Schoki an der Leine zu Besuchen zum Beispiel in Kitas mitgegangen ist, und den Leuten dort Vorträge über das Schwein gehalten hat“, erinnert sich Cornelia Meyer. Ein unfassbar großer Schritt für den Schüler. Doch es passierte noch mehr.
„Schweine spiegeln extrem stark“

„Wir waren spazieren, ein paar andere Schüler waren dabei, und natürlich Schoki. Wir hielten bei einer Eisdiele an, der Junge stand mit Schoki an der Leine etwas abseits, als Schoki dann sein Geschäft auf den Platz machte. Die Tüten dafür hatte aber ich.“ Und dann geschah etwas Erstaunliches. „Der Junge sprach einen völlig fremden Passanten an, und bat ihn, er möge doch zu mir gehen und mir Bescheid zu sagen, dass er die Tüten für Schoki braucht.“ Ein Quantensprung für den jungen Autisten. „Es ging dann immer weiter bergauf und irgendwann ist er sogar alleine U-Bahn gefahren.“
Auf die Idee, ein Schwein als Therapie-tier anzuschaffen, kam Cornelia Meyer, als ihre Kollegin und sie damals überlegten, welches Tier sich für die Schule eignen würde. Zuerst dachte man über einen Hund nach, weil das das Naheliegendste war. „Doch dann bin ich auf Studien aus Amerika gestoßen, die mit Schweinen gearbeitet haben. Insbesondere mit Autisten, und die haben von großen Erfolgen berichtet.“ Also sollte es auch an der Berliner Schule ein Schwein werden. „Das Besondere an Schweinen ist, dass sie extrem stark spiegeln, das Verhalten von ihrem Gegenüber. Stärker als das bei Hunden ist.“
Ähnlich wie ein Hund sind Schweine Familientiere, und auch Schoki lebt ganz in der Familie von Cornelia Meyer. Im Wohnzimmer hat er seine (Hunde-)Box, in der er es sich zum Schlafen gemütlich macht. „Allerdings muss er öfter raus als ein Hund“, sagt Cornelia Meyer. „Er kann nicht so lange anhalten. Deshalb kann ich ihn tagsüber nur eine begrenzte Zeit alleine lassen.“ Nachts gibt es keine Probleme. „Um 18 Uhr bekommt er noch sein Essen, dann geht er schlafen und kommt auch nicht mehr raus“, sagt sie und lacht. Der liebe Eber ist auch verkuschelt und anhänglich, sagt Cornelia Meyer. „Er darf auf die Couch und springt auch mal ins Bett. Und wenn ich Yoga auf dem Boden mache, kommt er sofort an und legt sich daneben.“
Bei weiblichen Schweinen ist die Haltung in der Familie ein bisschen schwieriger, sagt die Lehrerin. „Die kommen einmal im Monat in die Rausche, das ist die Zeit, in der sie trächtig werden können. Dann können sie biestig werden.“ Außerdem muss man sich einer Sau gegenüber auch mehr behaupten. „Die sind in der Natur die Rottenführer, das heißt, einem weiblichen Schwein gegenüber muss man immer seine Rolle verteidigen.“
Leben Schweine eng mit ihren Menschen, genügen ihnen die Zweibeiner tatsächlich auch als Ersatz für Artgenossen. Anders ist es für Schweine, die draußen gehalten werden. „Die dürfen nicht alleine sein“, gibt Cornelia Meyer zu bedenken.
Wir wollen noch Bilder machen und schaffen es, Schoki mit klein geschnittenen Äpfeln zu überreden, trotz der Kälte noch mal mit uns rauszugehen. Grunzend freut er sich über die Leckereien und zeigt auf Befehl auch, dass er „Sitz“ kann. Dauert es zu lange mit dem nächsten Apfelstück, stupst Schoki Cornelia Meyer sanft am Bein an.

Schoki geht gerne lange spazieren
Wenn es nicht gerade so kalt ist, geht Schoki sehr gern lange spazieren. „Er muss auch viel laufen, denn Schweine sind ausgesprochene Bewegungstiere“, sagt Cornelia Meyer. Dabei ist seine Lieblingsbeschäftigung, mit der großen Nase über den Boden zu gehen und nach Essen zu suchen und zu wühlen. Schweine verfügen über einen außerordentlich guten Geruchssinn. „Es ist wichtig, oft mit ihm rauszugehen. Im Sommer sind wir oft zwei bis drei Stunden am Stück unterwegs.“ Wie zur Bestätigung stößt Schoki einen leisen, sehr süßen Grunzlaut aus.
Keine Frage, denkt man an seine vielen bedauernswerten Artgenossen in der quälenden Massentierhaltung, ist Schoki ein echtes Glücksschwein.