Gemäß einer Prognose des Zentralen Immobilien-Ausschusses (ZIA) soll bis Jahresende die Neubaulücke in Deutschland auf etwa 720.000 Wohneinheiten ansteigen. Die Metropole Wien ist das Problem der Wohnungsnot schon vor 100 Jahren angegangen – mit großem Erfolg.

Ende des 19. Jahrhunderts ist sie bekannt als „Wiener Krankheit“: Die Tuberkulose rafft im Jahr 1867 rund ein Viertel der Wiener dahin. Eine Ursache dafür ist die katastrophale Wohnsituation: Durch die Zuwanderungswelle aus den Kronländern der Donaumonarchie nach Wien steigt die Bevölkerung im Jahr 1900 auf fast 1,8 Millionen Einwohner an. In den überfüllten, lichtlosen Kleinstwohnungen der Arbeiterviertel verbreitet sich die Krankheit schnell. Dort ist auch die Sterblichkeitsrate um ein Vielfaches höher als in den reichen Bezirken der Stadt. 1910 und 1911 wird die Situation so verheerend, dass Mietwucher und Lebensmittelverteuerung zu Massenprotesten führen, die blutig niedergeschlagen werden.
1918 endet der Erste Weltkrieg, Österreich-Ungarn zerbricht. Nach den Friedensverträgen im September 1919 ist von den Gebieten der Monarchie der kleine Staat Österreich mit 6,5 Millionen Einwohnern übrig geblieben. Fast zwei Millionen davon leben in Wien, und die Wohnungsnot ist dort schlimmer denn je. Fast 75 Prozent aller Wiener Wohnungen sind überbelegte Ein- und Zweizimmer-Wohnungen, die mehr als die Hälfte eines einfachen Arbeitereinkommens kosten. Sie verfügen weder über ein WC noch über einen Wasseranschluss und können oft nur durch sogenannte Bettgeher, die gegen Entgelt stundenweise ein freies Bett in einer fremden Mietwohnung zum Schlafen benutzen, finanziert werden. Am 4. Mai 1919 werden in Wien zum ersten Mal freie Gemeinderatswahlen abgehalten, bei denen die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs, Vorläufer der heutigen Sozialdemokratischen Partei Österreichs, 100 der 165 Mandate erringt. Wien wird damit die erste Millionenstadt der Welt mit einer sozialdemokratisch geführten Verwaltung. Es beginnt die Zeit des „Roten Wiens“, das bis zu seinem Ende 1934 geprägt ist von weitreichenden städtischen Reformen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, der Bildung und Sozialversorgung.
Wohnbausteuer als Grundlage für alle Projekte

Politisch gelenkt ist diese Ära von einem nicht bolschewistischen Austromarxismus, der auf eine sozialistische Transformation abzielt. In einem dichten, in sich geschlossenen Netz von Kultur- und Bildungsorganisationen soll innerhalb der bestehenden Verhältnisse ein „Neuer Mensch“ herausgebildet werden. Die Reformpolitik des „Roten Wien“ darf in vielerlei Hinsicht als die praktische Umsetzung dieses Konzepts betrachtet werden. Doch bis 1920 bleibt Wien ein Teil des Bundeslandes Niederösterreich und somit in den meisten politischen Entscheidungen nicht unabhängig. Erst die im Oktober 1920 beschlossene Bundesverfassung schafft den rechtlichen Rahmen für Wiens Eigenständigkeit als Bundesland. Erst jetzt können die Sozialdemokraten über die Verwendung der Steuereinnahmen in Wien eigenständig entscheiden. Sie wollen Wien zur Musterstadt sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik machen.
Doch bevor die ambitionierten Reformen verwirklicht werden können, braucht die Stadt einen Finanzierungsplan, denn als Folge des Krieges sind die Kassen leer. Finanzstadtrat Hugo Breitner hat eigene Ideen: „Unbeirrt von all dem Geschrei der steuerscheuenden besitzenden Klassen holen wir uns das zur Erfüllung der vielfachen Gemeindeaufgaben notwendige Geld dort, wo es sich wirklich befindet.“ Breitner führt die Wohnbausteuer ein: Diese ist von allen Besitzern vermietbarer Räume zu entrichten. Die stark progressive Steuerabgabe, die alle Mietobjekte erfasst, ist derart gestaffelt, dass kleine Wohnungen nur 2,1 Prozent an Abgaben entrichten müssen, Luxusimmobilien hingegen werden bis zu 36,6 Prozent besteuert. Dies führt dazu, dass die teuersten 0,5 Prozent der Objekte 44,5 Prozent der Steuereinnahmen erbringen.

Diese Reichenbesteuerung macht Breitner zum Hassobjekt der bürgerlichen Opposition, die ihn fortan als „Steuervampir“ brandmarkt. Zu den abfällig als „Breitner-Steuern“ bekannten Abgaben gehören auch Luxussteuern: Beispielsweise müssen exklusive Bars und Nachtlokale Nahrungs- und Genussmittelabgaben entrichten. Wer Butler und Haushälterin anstellt, muss zahlen. Austern, Kaviar, Trüffel, Hummer und ausländische Weine werden mit sieben Prozent besteuert. Der gewiefte Wiener Hugo Breitner erhebt die Luxussteuern auch gerne zweckgebunden und politisch plakativ: So finanzieren die vier größten Wiener Konditoreien etwa die Schulzahnkliniken, und die Bordelle sowie Pferderennbahnen finanzieren die Entbindungsheime.
Rund ein Drittel der Kosten für den sozialen Wohnungsbau kann allein aus den Erträgen der Wohnbausteuer gedeckt werden. Der massive Verfall der Grundstückpreise ermöglicht der Gemeinde Wien zudem, günstiges Bauland zu kaufen. Mit der durch die Breitner-Steuern gesicherte Finanzierung startet am 21. September 1923 das erste Wiener Wohnprogramm: Der Gemeinderat beschließt, in den kommenden fünf Jahren 25.000 menschenwürdige Wohnungen bauen zu lassen. Die Stadt Wien engagiert fast 200 Architekten für die insgesamt 382 Gemeindebauten. 1925 wird der erste Wiener Gemeindebau, der Metzleinstaler Hof, im 5. Wiener Gemeindebezirk, eröffnet. Schon Ende 1926 ist das erste Wohnbauprogramm erfüllt – und das vorzeitig.
Von 1923 bis 1931 wird die Gemeinde Wien zum größten Grundbesitzer der Stadt. Die Wohnprogramme machen die Stadt zum größten Bauherrn der Welt. Weil die neuen Arbeiterwohnungen von bisher ungesehener Qualität sind, wird dem Wiener Modell in Moskau und Manhattan nachgeeifert. Die Apartments sind klein (40 bis 50 Quadratmeter), aber ausgestattet mit Balkons, fließendem Wasser und WC. Alle Zimmer haben direktes Tageslicht. Schon 1927 folgt ein zweites Wohnungsbauprogramm, mit größeren Wohnungen von 57 Quadratmetern. Bezogen auf ein durchschnittliches Arbeitseinkommen müssen fünf bis acht Prozent davon für die Miete aufgewendet werden. Die Mietpreise im privaten Wohnungsbau des Vorkriegs-Wien lagen bei gut 30 Prozent des Einkommens.

Obwohl die einheitlichen Bauvorgaben ein monotones architektonisches Erscheinungsbild befürchten lassen, gelingt es den Architekten, abwechslungsreiche und baukünstlerisch fortschrittliche Lösungen zu entwickeln. Einerseits sind sie gezwungen, Baulücken zu nutzen, andererseits gibt es etliche Möglichkeiten für sogenannte „Superblocks“: eine Stadt in der Stadt; riesige Areale mit „monumentalen Wohnblöcken und freier Gliederung der Baumasse“. Die prunkvolle Fassade ist oft verziert mit dreiecksförmigen Erkern, Loggien und Balkonen, unter Verwendung von farbigem Edelputz, wie Hans W. Bousska in seinem informativen und reich bebilderten Buch „Wiener Gemeindebauten“ recherchiert hat.
Vielfach begrünte Innenhöfe
Typisch für die Wohnanlagen ist die Randbebauung. Eine Bauweise, die sich darauf beschränkt, die von Straßen begrenzten üblichen Gevierte nur längs der Straßen zu bebauen und das Hinterland für Hof- und Gartenflächen freizuhalten. Deshalb haben viele Anlagen begrünte Innenhöfe, aber auch einen Straßenhof, sodass das Grün auch das Stadtbild verschönert und der Allgemeinheit zugutekommt. Meist sind lediglich 20 bis 40 Prozent des gesamten Areals bebaut – der Rest Grünfläche.
Weitere wichtige Errungenschaften der neuen Bauten sind die geringe Bebauungsdichte und die großzügigen gemeinschaftlichen Sozialeinrichtungen. Bäder, Büchereien, Gesundheitseinrichtungen, Theater, Sportanlagen und Waschküchen. Sozialer Wohnungsbau soll mehr sein als ein Dach über dem Kopf. Die Wohnungen werden erstmalig in Wien nach einem transparenten Punktesystem vergeben, das Familien und einkommensschwache Bürger bevorzugt. Ironisch werden die Monumentalbauten als „Volkswohnungspalast“ bezeichnet, ein typisches Beispiel dafür ist der Karl-Marx-Hof – der heute als ein Denkmal der Wiener Arbeiterklasse gilt.
Der Großteil dieser Gemeindebauten findet sich entlang des Wiener Gürtels, weshalb dieser auch den Namen „Ringstraße des Proletariats“ trägt – als politischer Gegenentwurf zur bürgerlichen Ringstraße. Die Ringstraße des Proletariats ist keine eigentliche Straße, sondern die größte Konzentration kommunaler Wohnhausanlagen im Roten Wien. Der wohl bekannteste Abschnitt findet sich entlang des Margaretengürtels, mit dem Reumannhof als Herzstück. Um dieses herum findet man 24 teilweise monumentale Bauten, die seinerzeit als architektonisches Zeichen auch die neuen Machtverhältnisse in Wien widerspiegeln sollen und heute Höhepunkte jeder Architektur-Stadtführung sind.

Die Gemeinde Wien baut im Zuge ihres Wohnbauprogramms bis 1934 etwa 65.000 Wohnungen für 220.000 Menschen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs sind in der Donaumetropole 20 Prozent aller Wohnungen zerstört – rund 87.000. Das macht 35.000 Menschen obdachlos. In der Nachkriegszeit wird das kommunale Wohnprogramm ab 1947 wiederbelebt – die Per-Albin-Hansson-Siedlung ist der erste große Neubau. Aufgrund der großen Wohnungsknappheit in dieser Zeit entstehen bis 1970 weitere 96.000 Wohnungen. In den 1990er-Jahren fokussiert sich die Stadt Wien neben den Sanierungen des Gemeindebau-Bestands hauptsächlich darauf, die Stadt im Nordosten und Süden zu erweitern. Aufgrund der steigenden Bevölkerungszahl wird die Wohnbautätigkeit in Wien in der Mitte der 1990er-Jahre stark erhöht. Zwischen 1994 und 2000 werden jährlich durchschnittlich 10.000 geförderte Wohnungen errichtet.
„Lebenswerteste Stadt der Welt“
Heute besitzt die Stadt Wien rund 220.000 Wohnungen in 1.800 Gemeindebauten mit mehr als 500.000 Bewohnern. Im Sommer 2024 hat das britische Nachrichtenmagazin „Economist“ die Donaumetropole zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt. Bereits zum dritten Mal in Folge belegt die österreichische Hauptstadt den ersten Platz und erhält in den Kategorien Stabilität, Gesundheitsversorgung, Bildung und Infrastruktur jeweils die volle Punktzahl. Auch in einer Studie des US-Beratungsunternehmens Mercer, die in einem Ranking jährlich die Lebensqualität in 241 Städten der Welt analysiert, erreicht Wien 2024 einen Top-Platz. Ein mitentscheidender Grund, warum Österreichs Hauptstadt fast regelmäßig von Experten als enorm lebenswert eingestuft wird, ist das System der Gemeindebauten: Denn diese erfolgreiche Form des kommunalen sozialen Wohnungsbaus macht erschwingliche Wohnungen mit hohem Wohnstandard für ganz viele Wiener erst möglich.