Die Familiengeschichte der Berlinerin Mia Gatow ist generationenübergreifend geprägt von Alkoholabhängigkeit. Trotz dieser Vorbelastung schafft sie es, rechtzeitig vor dem Totalabsturz ihre eigene Alkoholsucht zu besiegen. Ihre Erfahrungen hat sie im Buch „Rausch und Klarheit“ gesammelt und kombiniert mit scharfen Beobachtungen einer Gesellschaft, in der Alkohol überall ist.

Frau Gatow, nach zehn Jahren des Alkoholmissbrauchs haben Sie von heute auf morgen damit aufgehört? Wie geht das?
In meinem Fall hat ein AA-Meeting (Anonyme Alkoholiker) gereicht, um den Schalter umzulegen. Das ist aber lange nicht bei allen so. Jeder hat seinen eigenen Weg.
Sie haben deswegen sehr skeptische Reaktionen bekommen. Wie war das?
Da gab es einige, die sagten, wenn ein einziges Meeting gereicht hat, um den Schalter umzulegen, dann sei ich gar keine ‚richtige‘ Alkoholikerin gewesen. Und was ich erlebt habe, zähle nicht, weil ich keinen echten Tiefpunkt erlitten hatte. Ich weiß, wo solche Reaktionen herrühren: Bei Menschen, die so was sagen, waren die eigenen Erfahrungen mit Alkohol sehr schlimm. Die Idee, dass auch sie selbst – so wie ich – es vielleicht hätten früher schaffen können, ist sehr schmerzhaft; du hättest nicht alles verlieren müssen, um aufhören zu können.
Sie halten nichts von der weitverbreiteten Idee auch unter Suchttherapeuten, dass man ganz unten sein muss, bevor man aufhören kann. Warum nicht?
Man muss nicht erst alles verlieren, um mit dem Trinken aufzuhören. Man kann auch vorher aufhören. Man kann aufhören, weil man keinen Bock mehr darauf hat, einmal in der Woche verkatert zu sein. Hätte ich auch geglaubt, dass ich erst an den totalen Tiefpunkt kommen muss, um aufzuhören, dann hätte ich ja noch 20 Jahre weitertrinken können und wir säßen jetzt nicht hier. Ich bin sehr froh, dass ich vor dem Tiefpunkt aufgehört habe.
Sie sagen „Nüchtern werden ist ein rebellischer Akt“ – was meinen Sie damit?
Jeder kennt jemanden, der durch Alkohol krank geworden ist. Die Politik unternimmt sehr wenig gegen die vielen Zehntausend Alkoholtoten jedes Jahr, die 57 Milliarden Euro für alkoholbedingte Folgeschäden zahlen wir als Solidargemeinschaft. Und trotz alldem lassen sich immer noch Politiker:innen willig von der Weinlobby einspannen, zu Bier- und Weinbotschafter:innen küren, lassen die Alkoholindustrie bei Gesetzesentwürfen mitschreiben. Da nicht mitzumachen, ja, das ist ein rebellischer Akt.
In der Therapiesprache waren Sie von Kindesbeinen an eine suchtgefährdete Person. Anders gesagt, Sie kommen aus einer Alkoholikerfamilie. Wie sind Sie damit aufgewachsen?
In meiner Familie haben fast alle getrunken, und fast alle haben dafür einen Preis bezahlt. Meine Oma und mein Vater sind daran gestorben. Meine Oma hat sich buchstäblich zu Tode getrunken.
Wie hat sich das im Familienalltag manifestiert?
Ich habe den Alkohol bei Familienfesten nie direkt wahrgenommen, weil er immer da war. Als Kind und auch als Jugendliche kannte ich keine Erwachsenen, die nicht trinken. Alkohol war so normal wie die Tapete an der Wand. Wenn ich heute alte Partyfotos vom Zuhause meiner Großeltern anschaue – da war super viel Bier und Wein auf dem Tisch. Alkohol war überall. Das ist aus heutiger Sicht schon schlimm.

Sie waren 16, als Ihre Oma gestorben ist und 30, als ihr Vater starb – beide waren Alkoholiker. Hätten diese beiden Trinkerschicksale nicht eine Warnung sein müssen?
Ich wusste auch schon mit 16, dass beide Tode mit dem Trinken zusammenhingen. Auch die Geschwister meines Vaters wussten das. Aber wir redeten uns ein: Unser Trinken ist ein anderes. Wir sagten uns, das ist nicht das gleiche Trinken, das meine Oma umgebracht hat. Ich selbst habe zu keinem Zeitpunkt gedacht, das Trinken könnte mich umbringen. Ich habe ihre Schicksale nicht mit meinem Trinken in Verbindung gebracht. Und dachte, das kann mir nicht passieren, solange ich nur so weiter trinke wie bisher. Und das denken wir ja alle über unser Trinken.
Im Buch beschreiben Sie, wie Sie sich unentwegt Trinkregeln auferlegten: Nur am Wochenende trinken, nie alleine trinken, nicht zwei Tage hintereinander trinken und nicht eine davon lange eingehalten haben. Was steckt dahinter?
Jeder Gefährdete denkt: Solange ich nicht schon morgens trinke, solange ich nicht jeden Tag trinke, solange ich nicht diese oder jene Menge überschreite, habe ich kein „richtiges“ Problem. Genau deswegen habe ich mich selbst auch immer sicher gefühlt. Der Leberschaden war noch weit weg. Im Buch drücke ich das so aus: „Wenn du Trinkregeln brauchst, damit du kein Alkoholproblem entwickelst, dann hast du eins“.
Es geht auch um stundenlanges Internetsurfen und unzählige Selbsttests, um eine endgültige Antwort zu finden, ob Sie tatsächlich Alkoholikerin sind. Wie sehen Sie das im Rückblick?
Generell sind Zahlen die falsche Herangehensweise, darüber nachzudenken. Konstruktiver ist es, sich über die Beziehung, die man mit dem Alkohol hat, Gedanken zu machen. Nicht, wie viel trinke ich, sondern: Wie geht es mir, wenn ich trinke? Warum trinke ich? Warum denke ich, dass ich das brauche? Was fehlt mir, wenn ich nicht trinke? Warum will ich das Trinken so sehr? Wenn jedes Glas schädlich ist – und da ist sich die Medizin einig – warum will ich das Trinken trotzdem nicht loslassen? Das ist doch die relevantere Frage.
Es ist spannend, dass Ihre Geschichte nicht mit einem Nüchernheitsrausch beginnt. Sie schildern das Nüchternsein als eine Art Ekstase. Warum?
Das typische Muster der Alkoholikerbiografie ist, dass man zuerst diesen tiefsten Tiefpunkt beschreibt. Dann folgt die ganze Trinker-Saga, dann ist das Buch zu Ende. Die Geschichte danach aber lohnt sich viel mehr, erzählt zu werden. Denn Nüchternheitsgeschichten sind individuell. Abhängige brauchen eine positive Version ihres Lebens nach der Alkoholsucht. Man muss das sehen, wo man hinwill. Man braucht die Vision einer Zukunft.

Sie waren regelrecht verliebt in Ihre Nüchternheit. Können Sie das rationalisieren?
Ich habe zu Beginn meiner Nüchternheit sehr schnell verstanden, dass die Nüchternheit der in jeder Hinsicht bessere Seinszustand ist. Und ich habe die Nüchternheit romantisiert, wie wir sonst nur das Trinken romantisieren: Das katerfreie Aufwachen in weißen Laken, der klare Blick, der scharfe Verstand, der leichte, fitte Körper, die frische Haut. Nachdem man eine Weile Nüchternheit praktiziert hat, kommen noch mehr Geschenke hinzu: Ich werde souveräner. Selbstbewusster. Sexier. Wacher. Kreativer. Besser im Entscheidungen treffen. Krisenfester. Ich werde jemand, den man im Notfall anruft. Ich habe gemerkt: Nüchternheit ist kein Verzicht, sondern ein Gewinn.
Viele Alkoholiker erkennen für sich im Rückblick so eine Art Einstiegsmoment, der eine emotionale Bindung zum Trinken manifestiert. Was war dieser Moment bei Ihnen?
Bei mir war das die Fernsehserie „Sex and the City“, die junge Frauen als Zielgruppe hat. Das war Ende der 90er, frühe 2000er. Ich war heranwachsend. Meine Jugendprägung war, dass ich mit meiner Mutter „Sex and the City“ geschaut habe und wir haben dazu Amaretto getrunken. Kleine Amaraetti, als Dessert. Das war für uns Weltgewandtheit, hatte Klasse und war Luxus. Alkohol als modisches Accessoire für die moderne, aufgeklärte, stylishe Großstädterin.
Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nimmt der riskante Alkoholkonsum bei Frauen zwischen 18 und 25 Jahren seit 2015 zu. Die junge Frau mit Alkoholproblemen entspricht nicht unbedingt dem Klischee des Alkoholikers. Wie sehen Sie das?
Alle Arten von Menschen werden abhängig. Dass bei jungen Frauen die Zahl steigt, liegt einfach daran, dass die jungen Frauen zu den Männern aufschließen. Die schon genannte TV-Serie symbolisiert sehr gut den Post-Feminismus, mit dem meine Generation aufgewachsen ist. Die Frauen haben vermeintlich alles erreicht, was sie wollten, die Emanzipation ist vollendet, sodass wir jetzt wie Männer leben können. Und das war immer damit verbunden, dass Frauen männliche Statussymbole haben: also Geld, geile Klamotten und geile Drinks.
Als 15-Jährige Schülerin bestärkte Sie die staatliche Suchtaufklärung nur in Ihren „Lifestyle-Entscheidungen“, wie Sie das nennen. Wieso?
Gerade Teenager bemerken, wenn man sie von oben herab behandelt. Sozialarbeiter, die Informationen vorenthalten, handeln kontraproduktiv. Für seriöse Drogenaufklärung ist es essenziell dazuzusagen, dass Drogen nehmen krass Spaß macht. Man muss erklären, was Drogen sind und was sie bewirken, ohne Emotion: So wirken sie, so machen sie dich abhängig. Und das ist der Grund, warum es sich so gut anfühlt. Das gehört zum vollständigen Bild.
Haben Sie für sich einen zentralen Grund erkannt, warum Sie so viel und so oft getrunken haben?
Schon als Teenager wollte ich emotional immer eine hohe Intensität haben. Und ich habe das forciert. Vor allem mit Alkohol.
Aber da verbrennt man doch emotional sehr schnell. Oder?
Ja. Aber ich dachte, ich nicht. Mir passiert das nicht. Ich dachte, das ist das Leben. Ich wollte so viel fühlen wie möglich. Primär war, dass ich glaubte, ohne Alkohol würde ich nicht mehr so intensiv fühlen.
Als junge Frau, auf der Suche nach dem Grund für Ihre Alkoholabhängigkeit, dachten Sie: „Mein eigentliches Problem ist meine Persönlichkeit“ Und heute?
Ich glaubte, wenn meine Persönlichkeit „richtiger“ wäre, dann könnte ich auch „normal“ trinken. Ich muss halt besser – also willensstärker, disziplinierter, aufgeräumter, rationaler – werden und dann kann ich den Alkohol genießen wie alle anderen. Da ist natürlich Bullshit. Die Alkoholindustrie verkauft uns, dass wir alle verantwortungsvoll trinken sollen. Und wenn du das nicht kannst, dann ist offensichtlich dein Charakter das Problem. Das wirkliche Problem aber ist, dass Alkohol abhängig macht.

Sie haben mit Anfang 30 die Reißleine gezogen und dem Alkohol den Rücken gekehrt. Wie war das?
Ich habe aufgehört, weil der Alkohol mir mehr genommen hat, als er mir gab. Ich habe aufgehört, weil er nicht mehr so gewirkt hat, wie ich mir das vorstellte. Ich habe irgendwann geahnt, dass Nüchternheit mir mehr geben wird als Alkohol. Und das war auch so.
Wie geht es ihnen heute? Wie gehen Sie dem Alkohol, der gefühlt überall ist, aus dem Weg?
Ich gehe weiterhin zu AA-Meetings. Ich habe ganz viele nüchterne Leute in meinem Umfeld. Das hilft, dauerhaft stabil und auch glücklich, nüchtern zu sein. Wenn ich auf einer Party Alkohol angeboten bekomme, sage ich „Nein danke, ich bin Alkoholikerin“, wenn ich mich danach fühle. Man kann auch einfach Nein sagen.
Wie würden Sie sich wünschen, dass Ihre Umwelt darauf reagiert?
Es ist halt immer noch so, dass man sich rechtfertigen muss, wenn man nicht trinkt. Das ist einzigartig beim Alkohol. Ich würde mir wünschen, dass Nichttrinken normaler ist als das Trinken.