Jedes Jahr erleiden hierzulande rund 270.000 Menschen einen Schlaganfall. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Prof. Dr. Darius Günther Nabavi, Chefarzt und Neurologe am Vivantes Klinikum Berlin-Neukölln, spricht über minimalinvasive Verfahren, Nachsorge und die derzeitige Versorgungslage.

Herr Prof. Dr. Nabavi, welche Symptome werden mit einem Apoplex, also einem Schlaganfall, assoziiert?
Das Wichtigste ist zunächst: Ein Schlaganfall tritt immer schlagartig auf. Im Grunde gibt es eine Vielzahl von Symptomen, die einen Schlaganfall ankündigen, aber entscheidend ist, die wichtigsten zu kennen. Jede Gehirnfunktion kann durch einen Schlaganfall plötzlich ausfallen. Das kann zu einer halbseitigen Lähmung, halbseitigen Taubheit, Aphasie und plötzlichen Sehstörungen führen. Immer wenn es zu einem plötzlichen Ausfall kommt, besteht ein hochgradiger Verdacht auf einen Apoplex.
Was ist ursächlich verantwortlich für einen Schlaganfall?
Das Besondere am Schlaganfall ist: Es gibt nicht die eine Ursache. Im Gegensatz zum Herzinfarkt infolge arteriosklerotischem Verschluss eines Herzkranz-Gefäßes, hat der Schlaganfall sehr vielfältige Ursachen. Wir können drei große Gruppen unterscheiden: 1. Arteriosklerose, also die Verkalkung einer großen Schlagader am Hals oder an der Schädelbasis.
2. Mikrogefäßkrankheiten im Gehirn. Gemeint sind damit winzige Haargefäße, die schleichende Verengungen entwickeln, was sich von der klassischen Arteriosklerose unterscheidet. 3. Embolien - also die Verschleppung eines Blutgerinnsels - aus dem Herzen, wobei der wichtigste Vertreter Vorhofflimmern ist. Daneben gibt es zusätzlich eine Vielzahl seltener Ursachen, denen bei Verdacht nachgegangen wird.
Die Neurologie unterscheidet den ischämischen Schlaganfall, auch als Hirninfarkt bezeichnet, und den hämorrhagischer Schlaganfall, die sogenannte Hirnblutung. Warum ist es schwierig, beide Schlaganfälle klinisch zu unterscheiden?
Beide Schlaganfälle haben eines gemeinsam: die akute Schädigung des Gehirns. Ob das Sprachzentrum durch eine verschlossene oder geplatzte Schlagader geschädigt wird, kann man von außen nicht unterscheiden. Es gibt zwar ein paar Kriterien, die für das eine oder das andere sprechen. Aber letztlich benötigt man eine Bildgebung (CT, MRT), um eine spezifische Therapie einzuleiten.
Wie ist die transitorisch ischämische Attacke (TIA) in der Schlaganfall-Symptomatik einzuordnen?

Häufig wird die TIA als kleiner Schlag verharmlost, aber dem würde ich entschieden widersprechen. Die Menschen haben per Definition keine dauerhaften Defizite in der Funktion ihres Gehirns. Aber bei jedem Vierten mit TIA lässt sich um MRT eine irreversible Gehirnschädigung nachweisen. Und bei manchen ist es ein Vorbote eines großen Schlaganfalls. Deswegen ist es wichtig eine TIA ernst zu nehmen.
Mit welchen Verfahren können Schlaganfälle zweifelsfrei diagnostiziert werden?
In aller Regel machen wir ein CT. Entweder sehe ich eine Hirnblutung oder einen beginnenden Hirninfarkt. Der Hirninfarkt zeigt sich häufig erst nach mehreren Stunden. Etwas anderes ist es, wenn ich sofort eine MRT durchführe, was sich allerdings in der nicht bewährt hat. Im MRT kann ich auch schon nach einer halben Stunde den Hirninfarkt sehen. Die CT ist das Verfahren der Wahl, das bei 95 Prozent aller Notfälle vorgenommen wird. Wenn ich noch keine Schädigung sehe, ist das ein gutes Zeichen für das Gehirn, denn dann können wir direkt übergehen zur Therapie.
Was wird in der Diagnostik untersucht?
Dabei stehen vier Segmente im Vordergrund: das Gehirn, die Gefäße, das Herz und das Blut.
Welche Therapiemöglichkeiten stehen den Betroffenen offen?
Eine zentrale Komponente in der Schlaganfalltherapie sind die sogenannten Rekanalisationsverfahren bei Hirninfarkt: Durch die Kombination aus eine medikamentösen Lysetherapie und einer katheterbasierten Thrombektomie. Dabei sollte man wissen: Je früher die Betroffenen kommen, desto häufiger kann ich das Rekanalisationsverfahren anwenden und das Gehirn retten. Allerdings kommt nur ungefähr jeder Zehnte innerhalb der ersten Stunde in die Klinik. Dieser recht geringe Wert stagniert seit mittlerweile 20 Jahren in Deutschland. Eine Hirnblutung lässt sich leider nicht ungeschehen machen. Das ist der große Unterschied zum ischämischen Schlaganfall. Wenn man schnell behandelt, kann eine verschlossene Ader wieder geöffnet werden. Nimmt die Behandlung einen optimalen Verlauf, merkt der Betroffene danach nur eine leichte Beeinträchtigung. Dies gelingt nicht bei einer Hirnblutung. Alle übrigen Behandlungsoptionen jenseits der Rekanalisation, wie etwa die Aufnahme in eine Stroke Unit, eine engmaschige Überwachung und Rehabilitation, zielen darauf ab, die bleibende Schädigungen zu minimieren.

Inwiefern stellt für die Betroffenen die Thrombektomie, also die mechanische Entfernung eines Blutgerinnsels beziehungsweise Thrombus aus einem Blutgefäß mit einem Katheter, eine entscheidende Behandlungsmöglichkeit dar?
Wir wenden seit 25 Jahren die Lyse-Therapie an. Das intravenös verabreichte Medikament verteilt sich im gesamten Körper und ist im Stande selbst kleinste Gerinnsel in den Hirnschlagadern aufzulösen. Die Lyse-Therapie ist sehr wirksam. Aber leider eröffnet die Lysetherapie nur selten große Gerinnsel, die wie ein großer Korken in einem Hirngefäß festsitzen, aufzulösen. Seit mehr als zehn Jahren wenden wir in Deutschland das Verfahren der Thrombektomie an. Dadurch können auch große Gerinnsel rasch entfernt werden. Es ist ein exzellentes minimalinvasives Verfahren. Übrigens kombinieren wir dies meist innerhalb der ersten sechs Stunden mit der Thrombolyse. Wenn mehr als sechs Stunden seit dem Auftreten des Schlaganfalls vergangen sind, kommt die Thrombektomie meist alleinig zur Anwendung.
Müssen ehemalige Schlaganfall-Patienten zur Nachsorge oder ist das individuell verschieden?
Jeder, der einen Schlaganfall erlitten hast, ist natürlich ein Risikopatient. Das heißt jeder ist auf eine Nachsorge angewiesen. Aber die Nachsorge-Intensität ist abhängig von Vorerkrankungen und körperlichen Beeinträchtigungen. Dies muss individuell festgelegt werden. Ich würde sagen, dass jeder nach einem Schlaganfall und nach einer TIA mindestens nach drei und zwölf Monaten einen Nachsorge-Termin beim behandelnden Neurologen vereinbaren sollte. Zusätzlich sollten die Betroffenen regelmäßig beim Hausarzt vorstellig werden. Andererseits brauchen natürlich die, die stärker beeinträchtigt sind, eine engmaschigere Nachsorge. Eine Nachsorge ist extrem wichtig, um das klinische Behandlungsergebnis zu sichern. Denn: Auf einen Schlaganfall kann potenziell ein nächster folgen. Und das wollen wir unbedingt verhindern.
Können Sie uns ein Beispiel geben für die Patientengruppe, die auf eine engmaschigere Nachsorge angewiesen sind?

Zum Beispiel leidet ein Patient nach einem Schlaganfall an einer Spastik, er kann nicht mehr richtig sprechen, er hat Schluckprobleme und hat mehrere neue Medikamente erhalten. Möglicherweise ist er auch depressiv, weil er erst einmal nicht in seinen Beruf zurückkehren kann. Ein solcher Patient muss wesentlich engmaschiger zur Nachsorge, um beispielsweise zu erfassen, ob er Schmerzen im spastischen Arm hat, wie die Ernährung funktioniert und ob er eventuell ein Antidepressivum benötigt. Die Gestaltung der Nachsorge funktioniert nicht mit Schablone. Eine 80-Jährige, die alleine lebt, hat andere Probleme als ein 50-Jähriger, der eine Familie hat und in seinen Beruf zurückkehren will. Der Hausarzt und der Neurologe sind die entscheidenden Player in der Nachsorge. Wünschenswert wäre, einen bundeseinheitlichen Mindeststandard in der Nachsorge zu definieren.
Die Fahrzeiten zu Kliniken hierzulande mit und ohne Stroke Unit schwanken teilweise erheblich, wie neueste Daten des Science Media Centers zeigen. Im Durchschnitt liegen sie zwischen 9,5 Minuten Fahrzeit zur nächsten Klinik, die Schlaganfälle versorgt und 18 Minuten Fahrzeit zu einer Stroke Unit, in der auch Thrombektomien vorgenommen werden. Wie bewerten Sie das?
Diese Entfernungen und Fahrzeiten sind schon seit etlichen Jahren bekannt, aber lange Zeit hat dies kaum jemanden interessiert. Mit der geplanten Krankenhausreform ist das nun anders. Die Fahrzeiten, die das Science Media Center berechnet hat, sind im europäischen Vergleich exzellent. Es gibt aber regionale Unterschiede in der Versorgung. Es gibt immer noch Regionen, in denen die Versorgung lückenhaft ist. Dort muss der neurologische Sachverstand per Tele-Technik sichergestellt werden. Das funktioniert auch schon in der Praxis. Nehmen Sie zum Beispiel eine Klinik in einer dünn besiedelten Region, die nächste Stroke-Unit ist 70 Kilometer entfernt. Das Betreiben einer voll ausgestatteten Klinik ist unrealistisch, denn es gäbe schlicht viel zu wenig Patientinnen und Patienten. Dort greift das folgende Konzept: Schlaganfallpatienten werden in die nächstgelegene Klinik mit einer kleinen Tele-Stroke-Unit gebracht. Diese Klinik kooperiert mit einem großen Schlaganfall-Zentrum, dessen Spezialisten per Kamera zugeschaltet werden und zum Beispiel eine Lyse-Therapie vor Ort steuern. Für schätzungsweise fünf bis sieben Prozent greift dieses Konzept, das sich auch in Europa weiter ausbreitet.

Wo liegen dann die derzeitigen Herausforderungen?
Das Hauptproblem liegt darin, dass die Betroffenen nicht oder viel zu spät die 112 anrufen. Dadurch gehen nicht Minuten, sondern sogar Stunden verloren. Eigentlich müsste jeden Abend vor der Tagesschau ein Warnhinweis gesendet werden, in dem die Bevölkerung darauf hingewiesen wird, dass jeder als Erstes bei Verdacht auf Schlaganfall die 112 anrufen sollte.
Was halten Sie davon, dass die aktuelle Krankenhausreform der Bundesregierung vorsieht, dass akute Schlaganfälle zukünftig idealerweise nur noch in Kliniken mit dem Leistungsbereich „Neurologie“ und der Leistungsgruppe „Stroke Unit“ behandelt werden sollen?
Das finde ich sehr gut. Etwa 90 Prozent aller Betroffenen wir auf diesem hohem Niveau behandelt. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass dies in persönlicher Präsenz nicht flächendeckend zu leisten ist. Dem wurden nun Rechnung getragen: für die Schlaganfall-Versorgung kann auch ein Tele-Konsil und eine Teleradiologie-Befundung eingesetzt werden. Das allerdings darf nicht dazu führen, dass nun jede kleine Klinik eine Tele-Schlaganfallversorgung einrichtet. Wir brauchen Tele-Stroke-Units nur in ausgewählten Regionen, wenn keine neurologische Präsenz-Stroke-Unit in 30 Minuten erreicht werden kann.
Wie häufig treten Schlaganfälle auf und wie viele Betroffene sterben infolge eines Apoplexes?
270.000 Menschen erleiden der Deutschen Schlaganfall-Hilfe zufolge jedes Jahr in Deutschland einen Schlaganfall. Ein tödlicher Verlauf tritt bei etwa zehn bis 15 Prozent auf. Noch gravierender ist allerdings, dass nach dem vollendeten Schlaganfall 30 bis 40 Prozent der Überlebenden unter einer dauerhaften Beeinträchtigung leiden.

Beobachten Sie in Ihrer Klinik, dass zunehmend jüngere Menschen einen Schlaganfall erleiden? Und wenn ja würden Sie sagen, dass dies ein Trend ist?
Grundsätzlich lässt sich feststellen: Einen harten Beleg dafür, dass vermehrt Jüngere einen Schlaganfall erleiden, haben wir nicht. Ich sehe zwei gegenläufige Trends: Es gibt zum einen eine große Anzahl gesundheitsbewusster, jüngerer Menschen, die viel Sport treiben und ein geringes Schlaganfallrisiko haben. Auf der anderen Seite registrieren wir eine wachsende Gruppe jüngerer Risikopersonen mit ungesundem Lebensstil, Bewegungsmangel und Übergewicht, die frühzeitig ein Schlaganfallrisiko aufbauen. Bislang halten sich diese beiden Gruppen die Waage.
Wie kann man Schlaganfällen vorbeugen?
Einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht. Im Grunde sind das all die Dinge, die jede und jeder kennen sollte: ein gesunder Lebensstil, sprich gesunde Ernährung, Verzicht auf Rauchen und Drogen, kein Alkoholmussbrauch, das das eigene Körpergewicht achten, regelmäßiger Sport. Spätestens ab dem mittleren Lebensalter sollte man sich für den eigenen Blutdruck interessieren. Auch den Cholesterinwert sollte jeder messen lassen. Wer so auf seine Gesundheit achtet, der hat eine große Chance, keinen Schlaganfall zu erleiden.