Demenzkranke werden oft bevormundet und verwaltet. Wie im Gefängnis, sagen manche. Ein Heim in Marl macht es anders: Demente dürfen alles tun, wozu sie Lust haben.
Schon um vier Uhr morgens hat Friedhelm Lischewski heute in der Küche gefrühstückt. Das zweite Frühstück gibt’s um acht Uhr. Danach legt er sich auf die Couch im Wohnbereich, bettet seinen dunkelgrauen Haarschopf auf das Polster und schließt seine großen blauen Augen. Unter einer dünnen Decke döst er, hält seinen morgendlichen Mittagsschlaf, während die anderen Bewohner an ihm vorbeilaufen in Richtung Küche.

Lischewski, 76 Jahre alt, war einmal Lehrer, promovierte spät im Leben. Seine Heimat, das sind die Bücher und Gedanken großer Philosophen. Seine Heimat, das sind seine eigenen Gedanken. Das Lesen, das Schreiben. Als er vor einigen Monaten in die Gammeloase zog, war er anschließend ständig auf der Suche nach seinem Büro, erzählen die Pfleger. Vor ein paar Monaten dann lief er ins Wartezimmer der hausinternen Arztpraxis und warf alle raus, die dort warteten. Er erklärte den Raum zu seinem Büro, und darin brauche er seine Ruhe. Er müsse den Unterricht vorbereiten. Die Mitarbeiter der Praxis machten mit: Alle Patienten warteten in einem anderen Raum darauf, dass sie aufgerufen werden.
Das Heim bricht mit alten Konventionen
In wohl keinem anderen Pflegeheim in Deutschland könnte ein demenzkranker Patient mit so vielen Freiheiten seinen Tag gestalten. In anderen Pflegeheimen gibt es Aufsteh- und Schlafenszeiten, es gibt Essens- und Waschzeiten, die wie Mauern um die Bewohner stehen. Eine Stütze, sagen die einen. Ein Gefängnis, sagen die anderen. Die Gammeloase, die wirklich so heißt, ist eine Demenzstation in einem Altenpflegeheim in Marl, das gerade viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. In der Fachwelt gilt der Ideengeber des Konzepts, der gelernte Altenpfleger und Sozialwissenschaftler Stephan Kostrzewa, als Punk. Die Station ist seine persönliche Utopie. Ein Ort, an dem demente Bewohner tun und lassen können, was sie wollen. An dem nicht der Dienstplan bestimmt, wann sie aufstehen, wann sie gewaschen werden, essen, womit sie sich beschäftigen. Sondern nur sie selbst. Wenn sie möchten – und das tun sie, erzählt der Wohnbereichsleiter Christian Löbel – trinken sie aus den Milchkännchen auf dem Tisch, essen mit den Händen und stecken sich Besteck in die Unterhose, um es mitgehen zu lassen. Niemand wird sie aufhalten.

Morgens sitzen die Pfleger auf dem Flur und warten, bis die Bewohner aufstehen. Das Motto: Wir passen uns an die Demenzkranken an, nicht umgekehrt. Das bricht mit Konventionen, mit jahrzehntelang erlernten Routinen der Pflege. In der stationären Pflege werden Demenzkranke oft bevormundet wie Kinder. Kostrzewas Konzept hat den entgegengesetzten Grundgedanken: Demente Menschen dürfen ihre Autonomie nicht verlieren. Nur: Wie alltagstauglich ist es, das Wartezimmer einer Arztpraxis leerzuräumen, weil ein Bewohner daraus sein Büro machen will? Oder Frühstück um vier Uhr morgens anzubieten, weil ein Bewohner da eben Hunger hat? Wie viel Selbstbestimmung ist in einem Pflegeheim möglich? Ist die Gammeloase Revolution oder Träumerei? Und was können andere Heime von einem Ort wie diesem lernen?
Nach seinem Schläfchen geht Friedhelm Lischewski in die Küche, ganz langsam, kleine Schritte, das kommt von seiner Parkinson-Erkrankung. Als er den anderen den Rücken zuwendet, liest eine von ihnen am Tisch laut und langsam vor, was auf seiner Strickjacke steht: „Gammeloase, ich muss gar nix.“ Christian Löbel sagt, die Gammeloase habe denselben Personalschlüssel wie andere Stationen. Sie bekämen keine Fördergelder, hätten kein Extrabudget zur Verfügung. Das Essen komme aus der Großküche zwar immer zur selben Zeit, aber sie haben einen Kühlschrank, eine Mikrowelle, eine Spülmaschine. Auch die Räume seien nichts Besonderes. Auf lange Sicht sei nichts an dem Konzept teurer. Es gehe vor allem ums Umdenken. 2021 schätzte man, dass 1,8 Millionen Menschen in Deutschland mit Demenz leben. Die Zahl wird wahrscheinlich bis 2050 auf 2,8 Millionen ansteigen, das bringt eine alternde Gesellschaft mit sich. 18,6 Prozent der Menschen mit Demenz leben in Pflegeheimen, macht 334.800 Menschen. Bei den meisten von ihnen gibt es Angehörige, die ihre liebsten Menschen in die Hände der Pfleger geben und sich fragen: Ist meine Frau, meine Mutter, meine Schwester an einem guten Ort?
Experten kritisieren das übliche System
Viele Pfleger und Experten berichten davon, dass das System Pflege in Altenheimen, damit auch in Demenzheimen, so nicht mehr tragbar ist. Das Personal, von dem es wie überall in der Pflege zu wenig gibt, hat einen strammen Dienstplan: Körperhygiene, Essen, Tabletten reichen, Protokollieren, alles muss zu bestimmten Zeiten erfüllt sein. Kaum Zeit fürs Zuhören, Dasein, Umarmen. Kaum Zeit für das, was Menschen mit Demenz am meisten brauchen: Zuwendung und, wie jeder andere Mensch auch, Selbstbestimmung.
Der Begriff „Therapeutisches Gammeln“ sei ihm unter der Dusche eingefallen, erzählt Stephan Kostrzewa. Er habe Gammeln dann nachrecherchiert: ein germanischer Wortstamm, gaman, der „Lust, Spaß, Freude“ bedeutet. Er fand, dass es doch genau das sei, was Demente von ihrer Umgebung brauchen: den Fokus darauf, ihnen das jetzige Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Kostrzewa, 58, sitzt an einem runden Tisch im Wohnbereich. Seine Bewegungen sind weich (er ist Musiker, spielt Violine und Dudelsack), seine Stimme klingt warm (sein erster Beruf war Altenpfleger). Wenn er spricht, baumelt der Notenschlüssel an seinem rechten Ohr wild. Er sagt Dinge wie: „Demenzkranke werden in Heimen getrimmt, um in den Dienstplan zu passen.“ Oder er zitiert den renommierten Pflegewissenschaftler Erwin Böhm: „Wir produzieren in Heimen jeden Tag gut gepflegte Rehabilitationsleichen.“ Heißt: Körperlich sind die Leute top gepflegt. Aber psychisch und sozial sind sie verwahrlost. „Weil die menschliche Zuwendung fehlt, dafür ist kein Platz im Dienstplan.“

Die Abneigung gegen Systeme, die die Selbstbestimmung einschränken, hat Kostrzewa aus seinem Elternhaus mitgenommen. Sein Vater habe immer zu ihm gesagt: „Mit Sauberkeit und Ordnung steht und fällt jedes System.“ Da habe er sich gedacht: Gut, dann weiß ich ja, wie das System zu stürzen ist. Als er in die 11. Klasse kam, bekam er einen neuen Lehrer in Sozialwissenschaften. Einen, der nicht vorne saß am Pult, sondern sich seinen Stuhl nahm und sich zwischen sie setzte. Er brachte ihnen bei, alles infrage zu stellen. Vor allem das System. Vor allem Autorität. „Er hat mir ein anderes Denken beigebracht“, sagt Kostrzewa heute. Nach dem Abitur Mitte der Achtziger machte Kostrzewa eine Ausbildung zum Altenpfleger. Alte Schule. Ihm wurde beigebracht, Demenzkranken einzuordnen, wenn er ins Zimmer kommt: „Guten Tag, ich bin Pfleger Kostrzewa, wir haben den 19. März, wir sind im Pflegeheim, ich mache jetzt mit Ihnen die Morgenwäsche.“ Rehabilitationstraining nannte man das. So habe man versucht, die Alten immer und immer wieder darauf hinzuweisen, was die Realität sei, die für sie immer mehr zerbröckelte, die sie immer schlechter zu fassen kriegten. Später, im Studium, fragte er sich: Wo steht überhaupt geschrieben, dass man Demenzkranke immer wieder in die Realität zurückholen soll, ihnen strenge Regeln auferlegt? Er fand keine wissenschaftlichen Belege dafür.
Die Gerontologin Stefanie Wiloth hat an der Universität Heidelberg zur Lebensqualität von Menschen mit Demenz geforscht. Sie sagt: „Das System Altenpflege in Deutschland müsste man eigentlich auf null setzen, und es dann langsam ganz anders wieder aufbauen.“ Das Konzept der Gammeloase findet sie spannend. Nur der Name sei unglücklich gewählt – Gammeloase, damit verstärkten sich eher negative Demenzbilder, meint sie. Nach dem Motto: Die langweilen sich, die sind nicht aktiv.
Dabei heißt Autonomie nicht, dass man die Menschen sich selbst überlässt – das betont Christian Löbel. Sie bieten Aktivitäten an. Der Unterschied sei: Der Bewohner entscheidet, ob er oder sie mitmachen möchte.
Die anderen Stationen im Marler Pflegeheim funktionieren anders, wenn auch das ganze Haus offene Türen hat und bunt dekoriert ist. Sie folgen dem Takt des Dienstes und sind aufgeräumt. In der Gammeloase liegen Klamotten herum, alte Zeitschriften und alles, was die Bewohner so herumtragen. Im Wohnbereich steht ein Snack-Tisch, darauf Erdnussflips und Gummitierchen. An den Stangen im Flur, die eigentlich beim Gehen stützen sollen, hängen Dutzende Handtaschen. Auf einem Regal in der Stationsküche stehen neben Deko-Weihnachtsmännern auch Deko-Osterhasen. Löbel sagt, es mache für Demenzkranke keinen Unterschied, ob Weihnachts- oder Osterzeit sei – warum also die schöne Deko wegräumen? Unordnung nähmen die Pfleger an, sagt er, weil das den Alten gerecht werde. Ihre Grenze ist: Dreck. Wenn der überhandnimmt, schreiten sie ein. Und was, wenn jemand Kette raucht, sich morgens das erste Bier aufmacht und den restlichen Tag nicht mehr aufhört zu trinken? Was, wenn Sucht auf Demenz trifft? „Tja“, sagt Gisela Kreutz, „das ist ein sehr komplexes Thema. Wir können dann mit dem Bewohner sprechen, mit Angehörigen, mit Ärzten. Aber am Ende werde ich niemandem die Zigaretten oder den Alkohol wegnehmen.“
„Ein Problem für viele Pflegekräfte“
Fünf Pflegerinnen und Pfleger haben seit Eröffnung der Gammeloase schon gekündigt, weil sie nicht mit der Anarchie klarkamen, sagt Löbel. Ulrike Schramm, eine Pflegerin von einer Nachbarstation, die seit 34 Jahren im Beruf ist, sagt: „Ich finde das Konzept toll, aber meins ist es nicht, ich könnte so nie arbeiten. Ich brauche Struktur.“ Scheitert die Freiheit der Bewohner an den Bedürfnissen des Pflegepersonals nach einem strukturierten Arbeitstag? Beide Seiten haben Rechte. „Ich glaube, so eine radikale Veränderung ist ein Problem für viele Pflegekräfte, die den Job über Jahre gemacht haben und einer festgefahrenen Routine folgen“, sagt Stefanie Wiloth. Da müsse ein großer Lernprozess stattfinden, und der erfordere große Offenheit, Experimentierfreude. Vielleicht habe es auch etwas mit Sicherheit und Kontrolle zu tun, an den alten Strukturen festzuhalten, sagt Wiloth. Vielleicht trauten sich die Pflegekräfte nicht zu, mit Situationen umzugehen, die sie schwer vorhersehen könnten, weil eben jeder mache, was er wolle, wo er wolle, wann er wolle. Was, wenn jemand nachts stürzt? Was, wenn jemand wegläuft? Klar, so etwas kann in jedem Pflegeheim passieren. Aber die Wahrscheinlichkeit dafür steigt, je weniger geordnet es zugeht. Je aktiver die Alten sind.

Heute ist Gabriele Nemes-Rath dem Heim abhandengekommen. Sie trägt Hüte, die sie auf dem Kopf vergisst und bei denen sie sich jedes Mal freut, wenn sie nach oben greift. Sie singt gerne, man braucht nur ein Lied anzustimmen, das sie kennt, schon klingt ihre Stimme durch die Gänge der Station. Sie spaziert auch gerne, und heute haben ihre orthopädisch gebetteten Füße sie in kleinen Schritten aus der Station getragen. Eine Pflegerin hat zuerst das ganze Haus abgesucht, Keller und Wäscherei. Sie sucht weiter, fragt bei nahe gelegenen Supermärkten nach, auch beim Bäcker, eigentlich bei allen Läden, die Nemes-Rath zu Fuß erreicht haben könnte. Nirgends ist sie. Etwa eine Stunde später bringt die Polizei sie zurück. Die Physiotherapeutin hat sie im Vorbeifahren auf der Straße erkannt und Bescheid gegeben.
In Deutschland dürfen Pflegeheime Menschen nicht einsperren, außer es gibt einen richterlichen Beschluss. Auch GPS-Tracker sind nur in seltenen Fällen erlaubt. Wenn demente Bewohnerinnen und Bewohner auf die Straße laufen, wird es schnell gefährlich. Durch den Verkehr oder weil sie sich verirren. Ein Problem, das nicht nur in der Gammeloase existiert. Als Gabriele Nemes-Rath wieder da ist, nimmt eine Pflegerin sie an der Hand. Dann – eine Hand um die Hüfte der einen, eine Hand auf die Schulter der anderen – legen sie ein Tänzchen ein. Solche Szenen gibt es in der Gammeloase den ganzen Tag über.
Mögliche Reduktion von Psychopharmaka
Zufriedenheit und Wohlbefinden von Demenzkranken lassen sich schwer messen, aber einen Parameter gibt es: weniger Psychopharmaka, also Beruhigungsmittel. Bewohnerin Maria Krause zum Beispiel bekomme mittlerweile ein Micro-Dosing an Psychopharmaka, sie sind von zehn Milligramm wöchentlich runter auf zwei, sagt Löbel.
Im Bundesland NRW, wo auch Marl liegt, werden mit am meisten Psychopharmaka in Deutschland verabreicht. Das steht in einem Report des wissenschaftlichen Instituts der AOK aus dem Jahr 2023. Löbel berichtet, er habe schon erlebt, wie Ärzte Demenzkranken ungefragt Psychopharmaka verschrieben.
Heimleiterin Kreutz, Löbel und Kostrzewa sagen, sie hätten die Medikamente zu einem großen Teil reduzieren oder sogar absetzen können. Das liege daran, dass sie die Bewohner nicht ständig frustrierten, indem sie ihr Verhalten korrigierten. Dass sie nicht so gehetzt vom Dienstplan seien und dadurch mehr Raum hätten, auf die Emotionen der Bewohner einzugehen. Ihr Verhalten zu analysieren, Thesen zu entwickeln, was helfen könnte. Braucht er gerade Nähe? Hat der Bewohner Schmerzen?
Schmerzen sind ein wichtiger Faktor, wenn es um Verhaltensauffälligkeiten von Demenzkranken geht. Sie können oft nicht in Worte fassen, dass etwas weh tut. Der Schmerz bleibt und wirkt sich auf die Psyche aus. Verhaltensauffälligkeit ist ein Symptom, der Schmerz die Ursache – doch mit Psychopharmaka wird nur das Symptom behandelt. Das bestätigt auch Stefanie Wiloth: „Es kann sein, dass die Bewohner weniger Psychopharmaka brauchen, wenn sie das Gefühl haben, ihre Bedürfnisse werden wahrgenommen.“ Und dass Schmerzen zu Depression oder Aggression führen können. Das Verhalten als Symptom zu betrachten und nach der eigentlichen Ursache zu suchen – auch das kann zu reduzierten Gaben von Psychopharmaka führen.
Als Stephan Kostrzewa heute Nachmittag in die Gammeloase kommt, sitzen Lischewski und ein paar andere Bewohner um einen Tisch in der Wohnküche. Zur Begrüßung legt Kostrzewa Lischewski eine Hand auf die Schulter, sagt: „Na, Häuptling?“ So nennt er ihn schon immer, sie kennen sich seit 40 Jahren. Wahrscheinlich gäbe es die Gammeloase ohne Lischewski nicht. Denn er ist es, der Kostrzewa als Jugendlichen unterrichtet hat. Der ihm eine andere Art zu denken beigebracht hat. Ihre Freundschaft hielt über die Jahre.
Kostrzewa erzählte Lischewski von seiner Idee, ein Buch über das therapeutische Gammeln zu schreiben. Lischewski war begeistert. Das war genau seine Denkschule – angewendet auf den Bereich der Demenzpflege. Das Buch nennt Kostrzewa einen „Gegenentwurf zur aktuellen Betreuungspraxis von Menschen mit fortgeschrittener Demenz“. In der Einleitung beschreibt er Menschen mit Demenz als „therapeutisches Freiwild“, rügt „zwangstherapeutische Angebote der Demenzindustrie“, schreibt von „therapeutischem Mumpitz“, „schrulligen und perversen Interventionsformen“.
Das Buch kam im Mai 2023 heraus, fünf Monate nach einer erschütternden Diagnose für Friedhelm Lischewski: Parkinson und eine damit verbundene Demenz.