Ein nüchterner Sommelier – das ist der Franzose Benoît d’Onofrio. Er wünscht sich mehr Vielfalt im Glas. Dafür hat er seine Getränkepalette um alkoholfreie Alternativen erweitert. Und das kommt bei den Parisern gut an.
Es ist Montagabend in einem kleinen Pop-up-Store in Paris. Der „Sobrelier” hat zu einer alkoholfreien Verkostung eingeladen. In der Mitte des Raumes steht ein Metalltisch, darauf reihen sich Flaschen mit leuchtend roten, goldgelben und orangefarbenen Getränken aneinander. Daneben: leere Weingläser, Chips und Oliven, serviert in edlen Martinigläsern. Rund 30 Leute sind gekommen, obwohl an diesem Abend kein einziger Tropfen Alkohol ausgeschenkt wird.

„Das hier ist ein fermentierter Drink aus Birnen, Topinambur und Pistazie, mit einer leichten Kohlensäure, erdig im Geschmack, leicht nussig und vollmundig. Daneben haben wir eine Mischung aus Erdnuss, Apfel und Olivenhefe“, erklärt Benoît d’Onofrio. Er hat seinen Beruf neu geschaffen: Sobrelier, eine Mischung aus dem französischen sobre (nüchtern) und dem Beruf des Sommeliers. Seit fast drei Jahren bietet er Restaurantbesuchern eine gehobene, alkoholfreie Getränkeauswahl an. Dabei gehe es ihm aber nicht darum, anderen vorzuschreiben, nie wieder Alkohol zu trinken. „Ein Sobrelier arbeitet inklusiv und ergänzt das bestehende Angebot mit hochwertigen, alkoholfreien Getränken”, sagt er. Im besten Fall mit eigenen Kreationen – so wie die Sobrevages, die auf dem Tisch vor ihm stehen. Auch dieses Wort hat der 43-Jährige erfunden, eine Mischung aus sobre und dem englischen beverages (Getränke). Bei diesen Drinks bleibt man auch nach mehreren Gläsern nüchtern.
Im Herbst 2023 begann d’Onofrio mit dem Prozess der natürlichen Fermentierung, ohne die Zugabe von Zucker oder künstlichen Kulturen. Er arbeitet mit natürlich vorkommenden Bakterien, Zucker und Hefen auf der Haut von Gemüse und Früchten. Die Zutaten sind in der Küche längst vertraut: Teeblätter, Oliven, Kräuter, Nüsse, Reis. Der Zuckergehalt liegt bei null Prozent.
Wie schmeckt das? Zeynep, die zur Verkostung gekommen ist, verzichtet seit einigen Monaten auf Alkohol. Sie nimmt einen Schluck des Pistazien-Topinambur-Drinks und nickt freudig, es schmeckt. „Ich bin froh, mal etwas Neues auszuprobieren“, sagt die junge Frau. Gerade in Paris sei das Leben ohne Alkohol nicht immer einfach, auch wenn es immer mehr alkoholfreie Bars gebe. „Gerade, wenn man sich spontan einfach wo reinsetzen möchte und nicht extra ein spezielles Lokal aufsuchen will”, sagt sie.

Frankreich, eines der Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Alkoholkonsum weltweit, verzeichnet seit Jahren einen Rückgang des Alkoholkonsums. Zwischen 2010 und 2020 ging der Verbrauch in Frankreich um zwei Liter pro Person zurück; in Deutschland war es nur ein Liter. Während die Exportzahlen von französischem Wein steigen, trinkt die eigene Bevölkerung weniger. Die sogenannte Nolow-Bewegung – No (kein) oder low (wenig) Alkohol – gewinnt auch in Frankreich an Bedeutung, insbesondere bei jungen Menschen.
2022 hat die französische Beobachtungsstelle für Drogen und Suchttendenzen (Observatoire français des drogues et des tendances addictives) 23.701 Jugendliche im Durchschnittsalter von 17 Jahren nach ihrem Trinkverhalten befragt. Das Ergebnis: Der Alkoholkonsum geht leicht zurück, und jeder fünfte Jugendliche gab an, noch nie in seinem Leben Alkohol getrunken zu haben.
Ein Grund für diesen Trend sei Social Media, sagt Xavier Ridel vom Pariser Kulturzentrum Point Éphémère: „Jugendliche achten heute viel mehr darauf, welches Bild sie nach außen vermitteln. Die enthemmende Wirkung von Alkohol ist für viele nicht mehr erstrebenswert.” Seit dem Dry January – der Challenge, einen Monat lang komplett auf Alkohol zu verzichten – im vorigen Jahr bietet das Point Éphémère eine große Auswahl an alkoholfreien, „gesünderen” Drinks an, die „weniger künstlich und süß” sein sollen. Darunter alkoholfreie Cocktails und Maté-Drinks. „Uns liegt das Wohlbefinden unserer Kunden am Herzen”, sagt Ridel.
Die Nachfrage nach Alternativen steigt auch, weil viele dem Alkohol aus gesundheitlichen Gründen den Rücken kehren. „Stattdessen stehen eine gesunde Ernährung und Sport im Vordergrund”, betont Ridel. Die Corona-Pandemie und die Zeit der Isolation habe diesen Prozess beschleunigt. „Einige haben dadurch den Reflex verloren, regelmäßig etwas trinken zu gehen“, sagt er.
Clémence Dupau, Mitarbeiterin des belgischen Getränkeherstellers Gimber, bestätigt diesen Wandel: „Der Healthy Lifestyle spielt für die junge Generation heute eine große Rolle“, sagt Dupau am Telefon. Das Unternehmen produziert ein alkoholfreies Ingwer-Zitronen-Konzentrat gemixt mit Kräutern, Gewürzen und Rohrzucker. Das Motto: „No alcohol, all kick“. „Man kann es pur, mit Sprudelwasser oder in einem alkoholfreien Cocktail trinken“, erklärt Dupau. Ein Shot brennt wie Schnaps, soll aber das Immunsystem stärken. „Viele unserer Kunden sind Sportler, die bewusster leben und ihren Alkoholkonsum reduzieren wollen”, sagt sie. Eine 500-Milliliter-Flasche Gimber kostet knapp 26 Euro.
„Alkohlfreier Wein eine Katastrophe“
Benoît D’Onofrio ist kein Fan von Getränken, die Alkohol imitieren wollen. „Das kann für die Alkohol-Firmen ziemlich gefährlich werden“, betont er. Insbesondere alkoholfreien Wein bezeichnet er als „Katastrophe”, und spielt dabei auf die teuren und umweltschädlichen industriellen Techniken der Ent-alkoholisierung an, die viel Wasser und Energie verbrauchen. „In dem Moment, in dem der Wein entalkoholisiert wird, ist er nur noch ein künstliches Produkt”, sagt er Anfang Januar in einer französischen Fernsehshow. Für seine fermentierten Drinks bekäme er sogar von Winzern positives Feedback.

Ein Jahr nach der Verkostung steht d’Onofrio nun in der „Sobrellerie“, seinem eigenen Lokal im 20. Arrondissement von Paris. In einem Viertel voller Kneipen und Bars bietet der Sobrelier zur Hälfte alkoholische und alkoholfreie Drinks an. „Damit sich niemand mehr rechtfertigen oder entscheiden muss”, erklärt er. In einem Gang neben der Küche lagern drei große Gefäße, abgedeckt mit Geschirrtüchern. Darin reifen seine neuesten Sobrevages – eine Cuvée aus Apfel, Mandarinenschalen, Kiefernzweigen und Studentenblume.
Seine Leidenschaft für Getränke entdeckte d’Onofrio bereits als Caviste – also Weinhändler – in der Gastronomie, als er für die Warenannahme und Lagerverwaltung zuständig war. Es war sein Chef, der sein Talent erkannte und ihn ermutigte, eine Sommelier-Ausbildung zu beginnen. Dort lernte er, Aromen zu analysieren, sein Gedächtnis zu schulen und Getränke ansprechend zu präsentieren. Gleichzeitig entwickelte er ein wachsendes Interesse an nicht-alkoholischen Getränken. Seine Ausbilder bestärkten ihn in seiner Neugier.
Privat zwei Jahre kein Alkohol
Nach der Ausbildung ist vor der Ausbildung: Er erweitert seine Fähigkeiten ums Kaffee rösten, Tee aufbrühen und Fermentieren. Das hilft ihm, die Menüs der Restaurants, in denen er arbeitet, um mehr alkoholfreie Varianten zu erweitern. Oft wurde ihm deshalb vorgeworfen, kein richtiger Sommelier zu sein. Doch er hält dagegen: „Das Wort Sommelier hat etymologisch keinen Bezug zu Alkohol. Ursprünglich bezeichnete es jemanden, der die Lasttiere des königlichen Hofs begleitete”, sagt d’Onofrio. Mit der Zeit wurde der Sommelier verantwortlich für die Getränkeauswahl am Hof. Dass er heute vor allem mit Wein in Verbindung gebracht wird, wird ihm aus d’Onofrios Sicht „nicht gerecht.”
Doch Alkohol ist eben auch Teil der Kultur, viele Getränke sind in festen Konsumgewohnheiten verwurzelt: der Kaffee am Morgen, das Glas Wein zum Mittag, ein Apéro nach der Arbeit und der Champagner bei festlichen Anlässen. „Diese Normen möchte ich aufbrechen”, sagt er. Privat verzichtet er seit zwei Jahren auf Alkohol – nur für Verkostungen nimmt er manchmal noch einen Schluck, spuckt ihn aber wieder aus. Viele Jahre lang war er abhängig vom Alkohol. „An manchen Tagen begann ich bereits zum Mittagessen auf der Arbeit zu trinken”, erzählt er. Mit seinen fermentierten Drinks und dem inklusiven Restaurant will er Menschen, die nicht trinken wollen oder können, eine Alternative bieten, die er im Vergleich dazu damals nicht hatte. „Ich möchte, dass jeder eine Wahl hat”, sagt er. Und zwar eine, die gut schmeckt.