Die Hallen-Saison ist für Gina Lückenkemper beendet, ehe sie richtig begonnen hat. Doch für den Sommer bleiben die Ziele der Athletin des SCC Berlin hoch.
Ihren Lebensmittelpunkt hat Gina Lückenkemper aktuell in den USA, um genauer zu sein im Bundesstaat Florida. Dort trainiert sie in einer internationalen Trainingsgruppe unter dem Starcoach Lance Baumann, und natürlich verfolgt die deutsche Top-Sprinterin auch die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Amerika seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Für sie selbst habe sich seitdem zunächst „nicht viel verändert“, sagte die 28-Jährige, da Florida schon vor der Wahl sehr „Trump-lastig“ gewesen sei. Doch dass es ähnliche politische Entwicklungen auch in Europa und Deutschland gebe, beunruhigt die Leichtathletin des SCC Berlin zunehmend. Sie blicke „mit Sorge“ auf die aktuelle Situation in ihrer Heimat. Sogar so sehr, dass sie sich vor der Bundestagswahl vergangenen Sonntag zu einem Wahlaufruf entschied. „Ich hoffe wirklich einfach nur inständig darauf, dass so viele Leute wie möglich von ihrem Wahlrecht wirklich Gebrauch machen und wählen gehen“, sagte Lückenkemper. Als politisch interessierte Bürgerin wollte sie die Wahlen abwarten und erst Anfang März wieder über den großen Teich nach Florida fliegen.
Aber nicht nur der Ausgang der Bundestagswahl wird die gebürtige Westfälin beim Rückflug in die aktuelle Wahlheimat beschäftigen. Die Doppel-Europameisterin von München 2022 wird aktuell wieder einmal von einer Verletzung geplagt. Wegen einer Muskelverletzung im rechten Oberschenkel, die sie sich in Düsseldorf zugezogen hat, musste sie die Hallensaison vorzeitig beenden. Das umfasst auch die Hallen-EM im März im niederländischen Apeldoorn. Besonders weh tat ihr aber die Absage für das Istaf Indoor in Berlin.
Lückenkemper läuft immer gern in Berlin, hier war sie erst im vergangenen September im Olympiastadion bei ihrem Sieg über 100 Meter in 10,93 Sekunden zur persönlichen Bestleistung gesprintet. „Es ist der totale Wahnsinn. Ich sage das ganze Jahr schon, da schlummert was Großes, viele Leute wollen es nicht glauben“, hatte sie danach gesagt: „Es ist ein paar Wochen zu spät, Paris wäre mir lieber gewesen.“ Bei den Olympischen Spielen in Frankreichs Metropole hätte sie mit dieser Zeit im 100-Meter-Finale einen hervorragenden vierten Platz belegt und die Bronzemedaille nur um eine Hundertstelsekunde verpasst. So aber war Lückenkemper in Paris im Halbfinale mit einer Zeit von 11,09 als Zehnte ausgeschieden und hatte das Final-Ziel knapp verpasst. Dass sie die Spiele dennoch in bester Erinnerung behalten wird, liegt an der Bronzemedaille mit der deutschen Vier-mal-100-Meter-Staffel. „Wir haben es durchgezogen und unser Herz auf der Bahn gelassen“, sagte Lückenkemper nach dem großen Erfolg vor den Augen von Bundeskanzler Olaf Scholz. Was den Bronze-Coup für sie besonders wertvoll machte, war ihre eigene Leistung an Position drei in der Kurve laufend. Mit 9,89 Sekunden war sie die schnellste Zeit aller Sprinterinnen gelaufen. „Das ist schon etwas Supercooles, das da am Ende stehen zu haben. Solche Zeiten bin ich in der Staffel fliegend bis jetzt nur auf den Geraden gelaufen, nicht in der Kurve“, sagte Lückenkemper. „An der Stelle ist es für mich das i-Tüpfelchen, dass ich zeigen konnte, was mein Körper momentan auf dem Kasten hat.“ Dieses Rennen gab der 28-Jährigen zusätzliche Motivation. Sie will auch wieder im Einzel brillieren, so wie bei ihrem EM-Sieg 2022 in München.
Auch den Kampf mit den Weltstars aus den USA und Jamaika hat sie längst noch nicht aufgegeben. Ihr Ziel, einmal bei Olympia oder Weltmeisterschaften in einem Finale zu laufen, steht weiterhin. Jetzt sogar deutlicher denn je. „Ich habe Lust auf mehr und freue mich auf die nächsten Jahre“, sagte sie. „Wir kommen dem Traum von einem großen Einzelfinale von Jahr zu Jahr immer näher.“ Die Sensations-Zeit beim Istaf in Berlin sei zwar „ein Ausreißer nach oben“ gewesen, wie sie selbst zugab. Aber einer, „der in diesem Jahr die Richtung vorgegeben hat“. Oder anders ausgedrückt: ein Fingerzeig, „welches Potenzial in mir steckt“.
Eine lange und kräftezehrende Saison liegt vor ihr

Und dieses Potenzial will Gina Lückenkemper nun deutlich konstanter zeigen und noch etwas ausbauen. Doch um wirklich mit Topstars wie Julien Alfred, Sha’Carri Richardson oder Melissa Jefferson ansatzweise mithalten zu können, braucht es nicht nur schnelle Beine, sondern auch extreme mentale Stärke. Und auch hier sieht Lückenkemper noch Nachholbedarf. „Es fällt mir immer schon leichter, in der Staffel zu performen, weil es nicht um mich, sondern um das Team geht“, erklärte sie. Dann könne sie auch „Kräfte mobilisieren, von denen ich vorher nicht wusste, dass die da waren“. Doch genau das muss sie auch in Einzelrennen können. Denn bei den Weltmeisterschaften in Tokio Mitte September will der deutsche Sprintstar wieder voll angreifen. „Das ist das nächste übergeordnete Ziel“, sagte sie bei Eurosport.
Doch das Zauberwort in der Vorbereitung heißt „Belastungssteuerung“ – und das nicht nur wegen ihrer aktuellen Verletzung. Die Saison werde „wieder lang und kräftezehrend“, deswegen seien Ruhe- und Regenerationsphasen zwischendurch wichtig. Die Verletzung im Februar ist deshalb zwar ärgerlich, aber kein größeres Problem. Deutlich schwieriger wäre sie zu einem Zeitpunkt im Frühjahr oder Sommer zu handhaben gewesen. Auch mit der Staffel bleiben Lückenkempfers Ansprüche hoch, das DLV-Quartett mit ihr, Alexandra Burghardt, Lisa Mayer und Rebekka Haase hat sich längst in der Weltspitze etabliert. Für den Bronze-Coup wurden die vier von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Silbernen Lorbeerblatt ausgezeichnet und mit warmen Worten geehrt: „Sie haben nicht nur sportlich Außergewöhnliches geleistet, sondern auch ein ganzes Land stolz gemacht.“
Generell sieht Lückenkemper die deutsche Leichtathletik im Aufwind, auch wenn wie nach der medaillenlosen WM 2023 in Budapest öffentlich oft der Teufel an die Wand gemalt wird. „Es sieht in der deutschen Leichtathletik gar nicht so schlecht aus, wie es teilweise dargestellt wurde“, meinte Lückenkemper. „Wir haben aber extrem viel Potenzial in der deutschen Leichtathletik.“ Es gelte nun, „die Potenziale dieser herausragenden Athleten anständig zu fördern, damit sie den Sport überhaupt auf diesem Level treiben können und die Möglichkeit haben, sich mit den Besten der Besten messen zu können“. Noch aber sind es eher Ausnahmen wie sie, Weitsprung-Star Malaika Mihambo oder Kugelstoß-Olympiasiegerin Yemisi Ogunleye, die die Kohlen aus dem Feuer holen.
Daher war es für die Veranstalter des Istaf Indoor auch bitter, dass neben Lückenkemper auch Mihambo krankheitsbedingt ihren Start absagen musste. Beide waren als große Zugpferde der Veranstaltung vorgesehen. Immerhin konnte Ogunleye starten, für die 28-Jährige wurde erstmals das Kugelstoßen ins Wettkampf-Programm aufgenommen. Die Mannheimerin siegte mit einer Weite von 19,42 Meter. Für ein Highlight sorgte auch ein anderer: Armand Duplantis. Der Stabhochspringer aus Schweden stellte mit 6,10 Meter einen Meetingrekord auf. Bei der Weltrekord-Höhe von 6,27 Metern scheiterte Duplantis zwei Mal. Einen dritten Versuch startete er nicht.