Die deutschen Handballer arbeiten nach dem medaillenlosen WM-Turnier ihre nächste Enttäuschung auf. Zwei Jahre vor der ersten von zwei WM-Endrunden im eigenen Land nacheinander wachsen Zweifel an Bundestrainer und Team – und eine Sorge: War Olympia-Silber 2024 womöglich nur ein Ausreißer nach oben?
Das war ein Satz mit X. Schon wieder. Schon wieder sind die deutschen Handballer nach der WM im Januar als selbsternannter Mitfavorit von einem Großereignis ohne Medaille heimgekehrt.
Seit dem WM-Triumph beim Heimspiel 2007 beansprucht der Deutsche Handballbund (DHB) vor Olympischen Spielen, WM- und EM-Turnieren stets einen Podiumsplatz für sein Männer-Team. Doch hat sich dieses offenbar als natürlich empfundenes Selbstverständnis in den mittlerweile vergangenen 18 Jahren zumeist nur als heiße Luft erwiesen. Bei den zusammen 23 Gelegenheiten nach dem sogenannten „Wintermärchen“ zum Gewinn von Medaillen holte das Team aus dem Mutterland des Handballs gerade einmal 2016 einen EM-Titel und Olympia-Bronze sowie vor Jahresfrist olympisches Silber. Dreimal, auf Weltebene sogar nur zweimal bei 23 Spitzenturnieren in den Medaillenrängen – sind Deutschlands immer wieder hochgelobte (oder auch nur hochgejazzte?) Handball-Hünen in Wirklichkeit nur Scheinreisen?
Für Bundestrainer Alfred Gislason stellte sich eine solche Frage nach dem neuerlichen Schlag ins Wasser nicht. Nach dem dramatischen, aber keineswegs nur unglücklichen und noch weniger unerwarteten WM-K.o. – erneut im Viertelfinale durch das 30:31 in Oslo gegen den überraschend starken Newcomer Portugal nach Verlängerung – flüchtete sich der Isländer in die Realitätsverweigerung. „Ich empfinde dieses Turnier nicht als Rückschlag“, gab Gislason vor der Abreise aus Norwegen zu Protokoll.
„Wir müssen einiges aufarbeiten“
Die Diskussionen über die Gründe für die abermalige Enttäuschung und tatsächlich auch über Gislasons Zukunft sind längst in Gang gekommen. Dabei war offener Widerspruch zu Gislason etwa durch die deutsche Handball-Ikone Stefan Kretzschmar oder durch Weltmeister Michael Kraus, die das WM-Ergebnis unisono „natürlich als Rückschlag“ bewerteten, noch beinahe die verträglichste Form der Kritik. „Wir müssen einiges aufarbeiten“, meinte auch Torwart-Ass Andreas Wolff vieldeutig.

Andere Experten und Medien sezierten die ernüchternden WM-Auftritte des deutschen Teams, das sich nach Paris für die WM den nächsten Schritt zurück in die Weltspitze vorgenommen hatte, bis in die Details. Die Analyse ergab eine Summe von fehlerhaften Kleinigkeiten, die das große Gesamtbild erheblich trübten. Kein günstiger Zeitpunkt vor dem Hintergrund, dass Deutschland bei den nächsten zwei WM-Turnieren 2027 und 2029 (mit Frankreich) als Gastgeber durch seine öffentliche Selbstinszenierung als Handball-Macht mindestens auf Edelmetall, wenn nicht sogar Titel verpflichtet sein dürfte.
Übergeordnet warfen in der Bestandsaufnahme die wenig inspiriert scheinenden Auftritte des Teams kritische Fragen auf. Trotz fünf Siegen in sieben Begegnungen – schon vor dem Viertelfinale mussten Gislasons Spieler in der Vorrunde eine 30:40-Demütigung durch den alten und späteren Weltmeister und Olympiasieger Dänemark erdulden – konnte die deutsche Sieben nur selten überzeugen. Außerdem fanden Juri Knorr und Co. gegen die Portugiesen wie schon in mehreren vorangegangenen Partien erst spät ins Spiel. Für Johannes Bitter, wie Kraus einer der Weltmeister von 2007, ein Ding der Unmöglichkeit: „Wir brauchen fast immer die ersten 20 Minuten, um überhaupt zu verstehen und zu lernen, was der Gegner macht. Da frage ich mich ganz ehrlich: Wo war die Vorbereitung?“
Doch auch unabhängig von gegnerischen Taktiken mühte sich die deutsche Mannschaft zumeist planlos, mutlos und ideenlos durch das WM-Turnier. Im Angriff herrschte überwiegend ein eklatanter Mangel an Kreativität, Lösungsansätzen und vor allem ordnender Struktur. Die Abwehr hingegen, in der Vergangenheit überwiegend das Herzstück im Spiel der DHB-Auswahl, agierte in aller Regel viel zu statisch und unerwartet anfällig für unerwartete Spielzüge der Gegner.

Ein Faktor für diese Schwächen war zweifellos die Überfrachtung der Mannschaft mit unangemessen hohen Erwartungen. Durch die Silbermedaille von Paris lag die Messlatte womöglich schon höher als jemals zuvor, und zugleich sind die alljährlichen Großturniere im Januar – abgesehen von Olympia – die einzig realistische Chance für Handballer zum Sprung in das ansonsten von „König Fußball“ beanspruchte Rampenlicht. Der aus dieser Kombination resultierende Druck war schlichtweg zu hoch, zumal Gislasons Team im Olympia-Turnier rückblickend zwar durchaus im optimalen Rahmen seiner Möglichkeiten, aber auch vom nötigen Glück begünstigt eindeutig über seine Verhältnisse gespielt hat. „Ein ganz schön großer Rucksack“, sagte der frühere Saarlouiser Marko Grgic über die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit. Hinzu kommt – trotz immer möglicher Spitzen – weiterhin fehlende Stabilität.
Zwangsläufig ist bei der Aufarbeitung des WM-Fehlschlags auch Gislason selbst auf den Prüfstand geraten. Bei der Gewichtung seines Anteils am Misserfolg sind die auffällige Unruhe auf der Bank, misslungene Wechsel, fragwürdiges Coaching und ineffektive Auszeiten Faktoren, die der 65-Jährige tatsächlich zu verantworten hat. Zwar hat Gislason keinen Einfluss auf die Einsatzzeiten seiner Spieler auf Schlüsselpositionen bei ihren Vereinen, doch im Gegenzug war besonders von seinem vielbeschworenen Vertrauen in die Breite und Tiefe seines Kaders in den WM-Spielen nur sehr wenig zu sehen. Auch muss beleuchtet werden, aus welchen Gründen Gislasons taktische Anweisungen und Tipps zu selten von seinen Spielern auf dem Parkett umgesetzt wurden.
Zu sehr mit Erwartungen aufgeladen
Seitens des DHB jedoch muss der ehemalige Erfolgscoach des SC Magdeburg und des THW Kiel, der noch einen Vertrag bis 2027 besitzt, kaum Konsequenzen fürchten. „Alfred wird sich Gedanken machen müssen, welche Schlüsse wir aus diesem Turnier für die Zukunft ziehen“, lautete die einzige Vorgabe von DHB-Sportvorstand Ingo Meckes für Gislason vor den beiden EM-Qualifikationsspielen im März gegen Österreich.
Tatsächlich hat der Verband die beiden WM-Turniere im eigenen Land für einen Trainer-Wechsel inzwischen auch schon zu sehr mit Erwartungen aufgeladen. Ein neuer Kurs könnte zumindest den Erfolg des ersten WM-Heimspiels unangemessen stark gefährden, da die Nationalmannschaft nach dem bisherigen Umbruch unter Gislason grundsätzlich mit überdurchschnittlich talentierten und auch noch entwicklungsfähigen Spielern gespickt ist.
Diese Gedankenspiele zur wirklich vielversprechenden Basis mit Leistungsträgern wie Kapitän Johannes Golla, Knorr, Renars Uscins oder Julian Köster lässt Meckes auch deutlich erkennen: „Die Achse kann die Mannschaft noch jahrelang tragen. Das ist eine sehr große Chance für die Zukunft.“ Nur allzu gerne möchte der Verband die WM-Pleite als Schönheitsfehler auf dem nachhaltigen Weg der Nationalmannschaft in die internationale Elite wegbuchen können.
An eine freiwillige Demission hatte Gislason offenkundig auch zu keiner Zeit gedacht. „Warum sollte ich nicht mehr genug Kraft bis 2027 haben? Ich mache diesen Job, weil ich Handball liebe, weil ich stolz bin, für Deutschland und mit dieser Mannschaft zu arbeiten. Ich werde endlos weitermachen mit Handball.“
Sein nächstes Ziel ist Deutschlands 24. Turnier nach dem WM-Triumph von 2007: die EM 2026 in Dänemark, Schweden und Norwegen.