Zu Saisonbeginn lief alles perfekt für die deutschen Skispringer. Doch kurz vor Weihnachten setzte eine Krise ein, die noch nicht gestoppt ist. Für die WM in Norwegen gibt es wenig Hoffnung.

Irgendetwas ist passiert bei den deutschen Skispringern kurz vor der Vierschanzentournee. Nach einem grandiosen Saisonstart mit einem dauersiegenden Pius Paschke setzte es bei der Generalprobe in Engelberg den ersten Dämpfer für die DSV-Skiadler. Doch noch schlimmer kam es nach der Weihnachtspause, als Paschke und Co. den großen Erwartungen beim Prestigeevent wieder einmal nicht gerecht wurden. Mit dem Gesamtsieg hatten die deutschen Athleten nichts zu tun, die drei Österreicher Daniel Tschofenig, Jan Hörl und Stefan Kraft waren eine Klasse besser. „Die genießen es im Moment. Sie haben einen extremen Flow – so wie ich vor ein paar Wochen“, hatte der Tournee-Sechste Paschke danach gesagt. „Dadurch wirkt es, als wären sie viel besser. So viel ist es aber nicht.“ Der deutsche Topspringer und seine Teamkollegen richteten sich neu aus und nehmen die Nordische Ski-WM vom 26. Februar bis zum 9. März in Trondheim als Ziel ins Visier. Dort soll es zur großen Revanche mit den Österreichern kommen – doch die scheint in der aktuellen Form der deutschen Skispringer in weite Ferne gerückt.

„Gerade nervt es mich extrem“, sagte der zweimalige Olympiasieger Andreas Wellinger nach dem völlig verpatzten Weltcup in Lake Placid. Wellinger enttäuschte als 16. – dabei war er dort sogar noch der beste Deutsche. So schlecht hatten die DSV-Athleten auf einer Großschanze zuletzt vor 14 Jahren abgeschnitten. Danach wurde es im japanischen Sapporo auch nicht viel besser, von den sonst gewohnten Podesträngen waren die deutschen Athleten wieder weit entfernt. Paschke schied bei seiner Rückkehr nach selbstverordneter Pause gar im ersten Durchgang aus und wurde nur 31. – eine Demütigung für den fünfmaligen Saisonsieger. Danach blieben den DSV-Skispringern nur noch Durchhalteparolen. „Wir werden ein bisschen trainieren gehen, uns auf die WM vorbereiten und da wohl ausgeruht und motiviert an den Start gehen“, kündigte Wellinger an. Bei der Suche nach den Gründen für den brachialen Einbruch, der seit Engelberg anhält und zuletzt besorgniserregende Ausmaße annahm, tat sich auch Wellinger schwer. „Im Skispringen ist vieles nicht greifbar“, sagte der 29-Jährige. „Etwas zu erklären ist das eine. Das dann umzusetzen etwas anderes.“ Und selbst wenn die Sportler und die Trainer konkrete Lösungen für die aktuellen Probleme finden würden, bedeutet das noch längst nicht das Ende aller Sorgen. „Das wird nicht von heute auf morgen besser“, sagt Wellinger. Das komplizierte Skisprung-System besteht aus vielen kleinen Stellschrauben, die perfekt aufeinander eingestellt sein müssen. Schon kleinste Abweichungen führen zu einer Dysbalance. „Es ist eine komplexere Thematik, sonst hätte man wahrscheinlich auch schon einen Zugang gefunden und etwas verändert“, sagte der frühere Skisprung-Star Martin Schmitt.
Aktuelle Situation „ziemlich bitter“
Der Kopf spielt hier eine entscheidende Rolle. Eines konnte Wellinger für sich selbst klar feststellen: „Ich muss mir wieder die Leichtigkeit erarbeiten.“ Das trifft auch auf seine Teamkollegen zu. Während die Österreicher und auch die Norweger um Johann André Forfang scheinbar mühelos in einer anderen Liga springen, sieht bei den deutschen Skispringern aktuell vieles nach ganz harter Arbeit aus. Und selbst das schlägt sich nicht in Top-Weiten und Top-Platzierungen nieder. Wellinger, Philipp Raimund, Karl Geiger und Stephan Leyhe blieben bei den Wettkämpfen in Übersee und auch danach in Japan deutlich hinter den eigenen Erwartungen und denen der Öffentlichkeit zurück. „Ich habe irgendwie das Gefühl verloren. Dann fliegt es nicht, und dann ist es scheiße“, sagte Raimund. Laut Geiger sei die Situation aktuell „ziemlich bitter“ – und auch wenig hoffnungsfroh. „Es ist gerade ein saumühsamer Prozess für das gesamte Team“, beschrieb es der fünfmalige Weltmeister, der von seiner Topform zuletzt meilenweit entfernt war. Der Frust vor den Titelkämpfen in Trondheim drückt mächtig auf die Stimmung. „Es ist schon etwas Unruhe in der Mannschaft, und man spürt die Unzufriedenheit“, sagte Eurosport-Experte Schmitt, der solche Situationen aus seiner eigenen Karriere nur zu gut kennt. „Wenn man im Skispringen hinterherläuft, dann wird es brutal schwer – insbesondere um die Lockerheit zurückzugewinnen.“ Dabei gelte es, den „inneren Konflikt“ aufzulösen: etwas verändern zu wollen, ohne dabei den kompletten Ablauf noch mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Für die WM sieht Schmitt aber gar nicht mal so schwarz. „Auf der technischen Ebene habe ich Dinge gesehen, die mich optimistisch stimmen“, sagte der 47-Jährige. Er wolle zwar „nicht komplett als Schönfärber dastehen“, bekräftigte Schmitt. Aber er glaube schon, „dass es möglich ist, bis zur WM wieder eine Mannschaft zu formen, die im Team sowieso, aber auch im Einzel um Medaillen springen kann“. Klar ist aber auch für Schmitt, dass die deutschen als Außenseiter in die Titelkämpfe im Trondheimer Wintersportzentrum Granåsen gehen. Wünschenswert wäre gewesen, „dass man die WM aus einer Position der Stärke heraus angehen kann“. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall.

Das war nach der ersten Saisonhälfte noch überhaupt nicht absehbar. Allen voran Paschke trumpfte mit fünf Saisonsiegen groß auf, weder die Konkurrenten noch die Wetterbedingungen schienen ihm etwas anhaben zu können. Doch dann kam der Absturz. „Bei ihm ist leider das System zusammengebrochen“, sagte Schmitt. Der sehr riskante und anfällige Sprungstil des 34-Jährigen funktioniert aktuell überhaupt nicht. Auch, weil Paschke aufgrund der Negativerlebnisse vielleicht zu viel will und übersteuert. „Wenn zu viel Aggressivität in seinem Sprung ist, geht direkt gar nichts mehr. Dazu ist er dann technisch zu unsauber in der Absprungbewegung“, erklärte Schmitt: „Am Anfang der Saison hat es noch super funktioniert und er hat diesen Grenzbereich beherrscht. Aber irgendwas ist passiert, dass es unsauber geworden ist. Er hat keinen Zugriff mehr, das merkt man.“
Um wieder das alte Gefühl der Kontrolle und Leichtigkeit zurückzubekommen, hat Paschke eine Wettkampfpause eingelegt und die Reise in die USA gar nicht erst angetreten. Stattdessen arbeitete er daheim im Training an seiner Form. Das sei genau die richtige Entscheidung gewesen nach den Rückschlägen zuvor, meinte Schmitt. So habe sich Paschke in Ruhe und gezielt „wieder auf die Basics“ konzentrieren können, um so „seinen Sprung wieder neu aufzubauen“, sagte der Ex-Weltmeister. Wenn ihm das rechtzeitig zur WM gelingt, könnte er in Trondheim vielleicht für eine Überraschung sorgen. „Körperlich ist er topfit“, sagte Schmitt, der sich aber Sorgen um die mentale Belastung bei Paschke macht: „Irgendwann ist man überladen und nicht mehr so handlungsfähig.“
In Sapporo hatte Paschke nach Platz 27 im ersten Springen noch etwas Hoffnung geschöpft. „Die Trefferquote ist noch nicht so gut“, hatte er gesagt: „Aber ich merke, dass sich die Sprünge wieder ein bisschen mehr anfühlen wie am Winteranfang.“ Doch dann kam im zweiten Springen das peinliche Aus nach dem ersten Durchgang. Schmitt sieht dennoch eine Chance, dass Paschke bei der WM besser auftreten und neu angreifen kann. „Die Trainingsphase ist auf die WM ausgerichtet, das muss das einzige Ziel für ihn sein“, sagte der Ex-Profi. „Ich hoffe und glaube auch, dass wir in Trondheim bei der WM wieder einen ganz anderen Pius Paschke sehen.“
Rückendeckung für Horngacher

Und was, wenn nicht? Was passiert, wenn die deutschen Skiadler auch bei den Weltmeisterschaften versagen? Dann wird die Kritik an Bundestrainer Stefan Horngacher auf jeden Fall zunehmen. „Es liegt jetzt auch an Steff, die richtigen Schlüsse zu ziehen“, forderte DSV-Sportdirektor Horst Hüttel vom Österreicher, der die seit Dezember anhaltende Talfahrt nicht stoppen konnte. Noch aber erhält Horngacher Rückendeckung vom Verband. „Ich merke, dass das Trainerteam noch zu 100 Prozent die Mannschaft erreicht“, erklärte Hüttel: „Solange ich das Gefühl habe, dass er und die Athleten in einem Boot sitzen, ist immer noch die Chance da, dass sich etwas in die richtige Richtung bewegt.“ Horngacher besitzt beim DSV einen unbefristeten Vertrag. Doch nicht nur deshalb sei ein Trainerwechsel „nicht so einfach“, meinte der Sportdirektor, der darin auch sportlich „ein Riesenrisiko“ sieht. „Deswegen ist das jetzt im Moment nicht für uns das Thema.“ Nach der WM wird ihm und den anderen DSV-Bossen aber womöglich keine andere Wahl bleiben.
Schmitt traut Horngacher die Trendwende absolut zu. „Er hat schon oft genug bewiesen, dass er solche Herausforderungen meistern kann und dass er ein Team aus einer kleineren oder größeren Krise wieder herausführen kann“, sagte der Team-Olympiasieger von 2002, für den der Österreicher „nach wie vor der richtige Mann“ auf dem Trainerposten sei. „Es werden wieder bessere Zeiten kommen.“ Doch Schmitt gab auch zu bedenken, dass die Situation im deutschen Skispringen generell „extrem herausfordernd“ sei. Ein Blick ins Nachbarland zeigt, dass Skisprung-Deutschland nicht über die allerbesten Voraussetzungen verfüge. „Es ist nicht wie in Österreich, dass in der zweiten und dritten Reihe ein Mehr an Springern vorhanden ist, und man eine Garantie auf Top-Platzierungen hat“, sagte Schmitt. Im Nachwuchsbereich werde zwar genauso intensiv gearbeitet wie im Leistungssportbereich, doch positive Ergebnisse oder Fortschritte könne man „nicht von heute auf morgen“ erwarten. „Das ist ein Prozess, der im vollen Gange ist.“ Ob er schon bei der WM zu einer Trendwende führt, darf zumindest bezweifelt werden.