Vor 125 Jahren erfand der Kornettist Buddy Bolden in New Orleans den Jazz. Zur selben Zeit gelang dem Ragtime-Pianisten Scott Joplin mit „Maple Leaf Rag“ der erste Millionenseller in der Geschichte der populären Musik. Im Kolonialismus der 1960er wird Jazz zum politischen Kampfmittel. Anlass genug, einen Blick auf die Anfänge dieses Stils zu werfen.

Charles Joseph „Buddy“ Bolden (1877–1931) gilt nicht nur als der allererste Jazz-Bandleader der Geschichte, sondern gar als der Erfinder des Jazz schlechthin. Um 1900 gründete der afroamerikanische Kornettist in New Orleans eine ziemlich wilde und laute Band mit Instrumenten wie Gitarre, Bass, Posaune und Klarinette. Sie nahm Songs wie „My Bucket’s Got A Hole In It“ und „Careless Love“ auf Wachszylinder auf, von denen jedoch kein einziger erhalten geblieben ist. Laut Zeitzeugen war der Sound einzigartig und berührte die Zuhörer tief im Innersten.
Der Bandleader wurde für seine kraftvolle Musik und seinen rauen Lebensstil von seinen Fans als „King Bolden“ verehrt und entwickelte eine lockerere, auf Improvisationen basierende Version des New Orleans Ragtime, die er mit Blues- und Gospel-Elementen sowie Bläsern anreicherte und „Jass“ nannte. Bolden wird auch die Erfindung der „Big Four“ zugeschrieben, eine wichtige rhythmische Neuerung im Marschkapellen-Takt, die dem frühen Jazz mehr Raum für individuelle Improvisation gab.
Bolden verstarb in Heilanstalt

Einer seiner populärsten Songs hieß „Funky Butt“ und stammte vermutlich aus der Feder von Willie Cornish. Die Bolden Band beschrieb nicht nur als erste einen Musikstil im Jazz, der auf starken repetitiven Rhythmen basiert; ihr „Funky Butt“ war darüber hinaus eine Anspielung auf die schweißgetränkte Atmosphäre und den engen Körperkontakt in den Tanzlokalen, in denen die Band auftrat. Der Song galt bei selbsternannten Moralwächtern als unanständig. Schon das Pfeifen der Melodie auf der Straße wurde als Unverschämtheit empfunden.
Viele frühe Jazzer wie Bunk Johnson und Freddie Keppard waren von dem innovativem Stil der Bolden Band direkt beeinflusst. Buddy Bolden selbst erlitt 1907 eine durch übermäßigen Alkoholgenuss ausgelöste Psychose. Er war 30 Jahre alt, als er die Diagnose „Dementia praecox“ (heute: Schizophrenie) bekam und in die staatliche Nervenheilanstalt von Jackson/Mississippi eingewiesen wurde. Dort verbrachte er 27 Jahre, während der Jazz sich jenseits der Mauern rasant weiterentwickelte. Bolden soll am 4. November 1931 vereinsamt gestorben sein, aber andere erinnern sich, ihn im Jahr 1908 in einer durchreisenden Ministrel-Show in New York spielen gesehen zu haben …

Der musikalischen Kreativität waren dank Boldens Vorarbeit keine Grenzen mehr gesetzt: Stilformen wie Dixieland, Swing, Bebop, Latin Jazz, Cool Jazz, Hardbop, Free Jazz oder Fusion erblickten nach und nach das Licht der Welt. Wollte man bei aller Verschiedenheit unbedingt Gemeinsamkeiten herausarbeiten, so wären zu nennen: hohe Bedeutung der Rhythmik, individuellen Phrasierung und Tonbildung, kollektive und solistische Improvisation und der Blues-Charakter der Melodien, die sogenannten Blue Notes.
Ende des 19. Jahrhunderts begann auch die Karriere des Pianisten und Komponisten Scott Joplin (1867–1917), Sohn eines zur Zeit seiner Geburt befreiten Sklaven. Sein bekanntestes Stück war „Maple Leaf Rag“. Die Komposition wurde im Jahr 1900 zum ersten großen instrumentalen Notenhit in Amerika. Insgesamt verkaufte sie sich mehr als eine Million Mal und machte Joplin zum „King of Ragtime“ und gewissermaßen zu einem Popstar, obwohl er immer als „ernsthafter“ Musiker verstanden werden wollte. Der „Maple Leaf Rag“ mit seiner impulsiven Dynamik gilt als eine der Wurzeln des Jazz, wenngleich eines seiner Hauptkennzeichen hier noch fehlt: die Improvisation.
Siegeszug dank Schallplatte

Endgültig populär wurde der Jazz in den 1910er-Jahren, als er seine Wiege New Orleans verließ, um andere Städte der USA zu erobern. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff „Jazz“, der zum ersten Mal im Zusammenhang mit einem Baseball-Spiel verwendet und dann auf die Musik übertragen wurde. „Jazz“ steht für schwungvoll, enthusiastisch, lebendig, aufbrausend – Eigenschaften, die am 11. Juli 1915 in der „Chicago Daily Tribune“ erstmals einem Rag des Bigband-Leaders Art Hickman (1886–1930) zugeschrieben wurden. Das war der Startschuss für Formationen, die sich ab sofort „Jass-Bands“ (ab 1917: Jazz-Bands) nannten; so Tom Browns Band From Dixieland aus Chicago, das Black and Tan Orchestra aus Kalifornien und die Cuban Jazzband aus Havanna, Kuba.

Unterstützt durch die fast zeitgleiche Erfindung der Schallplatte, die die Musik unabhängig machte von Ort und Zeit ihrer Darbietung, überquerten die Jazzbands den Großen Teich und begeisterten auch in Europa Tausende Fans. Am 26. Februar 1917 nahm der Trompeter Nick LaRocca aus New Orleans (1889–1961) mit seiner Original Dixieland Jazz Band bei Victor Records in New Jersey die erste Jazz-Platte der Welt auf: eine Single mit den Titeln „Livery Stable Blues“ und „Dixieland Jass Band One-Step“. Der später weltberühmte Trompeter Louis Armstrong (1901–1971) ging am 12. November 1925 erstmals mit seiner Formation Hot Five zu Plattenaufnahmen ins Studio und setzte Maßstäbe für die solistische Improvisation.
Bereits in den 1920er-Jahren konnte man den Jazz in Europa lernen: 1928 bietet das Hoch’sche Konservatorium in Frankfurt am Main erstmals eine Jazz-Klasse an – die erste ihrer Art weltweit.
„Ambassador Satch“
Jazz war damals alles andere als politisch, aber er stand für Unkonventionalität und Unangepasstheit. Die antirassistische US-Bürgerrechtsbewegung ließ einige der Legenden des Jazz jäh politisch werden. Im Herbst 1960 wurden die ahnungslosen Louis Armstrong, Nina Simone, Duke Ellington und Dizzy Gillespie von der CIA „als Jazz-Botschafter“ auf Anbiederungstour durch den Kongo geschickt – ein Land, in dem in Teilen immer noch Segregation herrschte. Patrice Lumumba, der erste demokratisch gewählte kongolesische Premierminister, war da gerade auf Drängen der USA abgesetzt und inhaftiert worden. Denn mit seiner Politik gefährdete er die Interessen amerikanischer Unternehmen. Mithilfe von gutgläubigen afroamerikanischen Jazz-Künstlern beabsichtigten die rassistischen USA tatsächlich, ihr ramponiertes Image auf dem afrikanischen Kontinent aufzupolieren und von ihren Gräueltaten abzulenken.
Am 28. Oktober 1960 traf Armstrong schließlich in der umkämpften Hauptstadt Leopoldville ein. Dort sollte er mit seinen All Stars unter dem Motto „Satchmo swings in Congo“ auftreten. Allein seine Anwesenheit brachte beide Kriegsparteien zu einem vorläufigen Waffenstillstand. Das war die Macht von „Ambassador Satch“. Patrice Lumumbas Ermordung am 17. Januar 1961 konnte sie jedoch nicht verhindern. Heute weiß man: Den Mordauftrag gab US-Präsident Eisenhower persönlich. Aus Protest stürmten am 16. Februar 1961 die afroamerikanische Sängerin Abbey Lincoln und der Schlagzeuger Max Roach eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats in New York.